Rostock, den 25.02.2015
Aber dieses ganze Mahagonny
war, weil alles so schlecht ist,
weil keine Ruhe herrscht und keine Eintracht
und weil es nichts gibt,
woran man sich halten kann.
"Mahagonny" hatte heute seine Zweite Hauptprobe.
Zeitgleich wurde in der Rostocker Bürgerschaft über rabiate, ja tödliche Eingriffe in die Struktur des Rostocker Theaters abgestimmt.
Der erste Durchlauf mit Orchester, Bühne, Kostüm, Licht & Stimme, nachdem ich, als immer wieder verblüffter Schauspielregisseur, gestern in der Ersten Komplettprobe mit Klavier meinen Darstellern beim "stummen" Singen zuschauen durfte. Ein auch beim x-ten Mal höchst eigenartiges Erlebnis.
Wiki beschreibt die kostbaren und also zu schützenden Körperteile folgendermaßen: Die Stimmlippen (auch: Stimmfalten, lat. plica vocalis) sind paarige schwingungsfähige Strukturen im Kehlkopf. Sie sind ein wesentlicher Teil des stimmbildenden Apparates (Glottis) des Kehlkopfes, bestehend aus der von Epithel überzogenen Stimmfalte, dem eigentlichen Stimmband (Ligamentum vocale), dem Musculus vocalis und den Aryknorpeln jeweils beider Seiten. Die Stimmlippen werden beidseits bei der Phonation (Stimmgebung) durch Anblasen aus dem Brustkorb in Schwingungen versetzt (Bernoulli-Effekt) und bilden so den Primärschall der Stimme... Wenn eine Opernsängerin einen besonders hohen Ton anstimmt, öffnen und schließen sich die Stimmlippen öfter als 1000 Mal in der Sekunde.
Heute mit Kraft und Klang und Lust beginnt das schrille Ding, die Spiel-Oper ohne gemütliches, gewohntes Sentiment, doch mit politischem Zorn und bösem Witz und hoher Geschwindigkeit, zu leuchten, zu fiebern, zu vibrieren.
Die Solisten fangen an in ihren überdimensionierten Kostümen zu leben, der Chor wächst zum ebenbürtigen Gegenpart und die Tänzer, oh, die Tänzer, Mitspieler und Störenfriede, sind das Salz in der Suppe, der Haken an der Sache, die gute Irritation.
Hier eine ernsthafte Liebeserklärung an eine der besten Tanzcompagnies, denen ich je begegnet bin. Ihr seid besonders und großartig!
Wir kommen durchs Stück - eine kurze Pause - dann Korrekturen.
10 Minuten, oder zwei Zigaretten auf der zugigen Kantinenterasse.
10 Minuten, und - ich treffe auf ein Ensemble in Tränen.
Die Entscheidung der Bürgerschaft ist gefallen, 26 zu 21, und wenn auch die Formulierungen verschwiemelt verheimlichen wollen, wissen nun alle, zwei Sparten werden vernichtet, das Musiktheater und der Tanz.
Bürgerschaft beschließt strukturelle Änderungen / Musik- und Tanztheater verlieren Eigenständigkeit / Neubau beschlossen
neues deutschland
Die Rostocker Bürgerschaft hat am Mittwoch einem Kooperationsmodell für das Rostocker Theater zugestimmt. 26 Abgeordnete von CDU, SPD, Grünen, FDP und "Für Rostock" votierten für das sogenannte "Funktionelle Vier-Sparten-Theater", 21 Abgeordnete dagegen, zwei enthielten sich. Der 2+2-Vorschlag sieht vor, Schauspiel und Konzertwesen als eigenständig zu erhalten. Musik- und Tanztheater sollen allerdings mit anderen Bühnen kooperieren.
ndr.de
... Schauspiel und Konzertwesen arbeiten darin eigenständig, Musik- und Tanztheater sollen allerdings mit anderen Bühnen kooperieren. Betriebsbedingte Kündigungen werden zunächst ausgeschlossen. Sie seien aber möglich, wenn betroffene Mitarbeiter alternative Angebote ablehnen.
svz.de
Die Tränen sind getrocknet worden, wir haben weiterprobiert, die Premiere ist ausverkauft.
Die Oper "Mahagonny" endet in einer anarchischen Demonstration, irgendwo/nirgendwo zwischen Pegida, Occupy - wir werden unsere eigenen Schlachtrufe erfinden müssen.
Vor vielen Jahren habe ich für eine Rostocker Zeitung folgenden Text geschrieben, er trifft, leider - heute - hier - jetzt.
„Jetzt kommt und seht, wie es ihm
dreckig geht
Jetzt ist er wirklich, was man pleite
nennt.
Die ihr als oberste Autorität
Nur eure schmierigen Gelder anerkennt
Seht, daß er euch nicht in die Grube
fährt!"
b.b.
In den letzten Wochen mußte ich nahezu
täglich die widersprüchlichsten Meldungen über den Ort an dem ich arbeite
lesen. „ Besucherzahlen- und Einnahmesteigerungen“; „Theaterneubau“;
„Theaterneubau, aber kein Theaterensemble“; „Theaterensemble schon, aber nur
für musikalische Produktionen“; „Kein Ensemble, nur die Philharmonie“.
Da ich nun mal einer derjenigen bin,
die da unentwegt und in beschwingtem Tone zum Tode verurteilt werden sollen,
hier mein wütender Protest:
Im Juli habe ich mit vielleicht 2000
anderen eine wunderbare Sommernachtstraumaufführung des Volkstheater - Schauspielensembles auf
der Freilichtbühne der IGA gesehen. Ist es euch egal, wenn ihr Shakespeare
künftig nur noch in Hollywoodfilmform oder als tourneekompatible
Billigproduktion sehen werdet?
Im letzten Winter haben hunderte Kinder
den „Gestiefelten Kater“ bejubelt. Ist es euch egal, wenn sie dann wieder doch
nur Fernsehen gucken können?
Im „Raub der Sabinerinnen“ habe ich
Besucher so lachen gesehen, daß ihnen die Tränen über das Gesicht liefen und
sie hatten nach einem Abend, prallgefüllt mit Schauspiellust und Schauspielkunst
beim Verlassen des Theaters, die beseelten und heiteren Gesichter von
beglückten Menschen. Ja, ja, ich weiß,
daß ist nur Komödie, aber ist es euch egal, ob es diesen Ort gibt, an dem ihr
gemeinsam mit anderen und nicht nur über andere lachen könnt?
200 sechzehnjährige Schüler im
„Urfaust“: „ Man, das Ist aber eine blöde Sprache“, Gekicher, Geraune,
Geflüster und dann: „Der Mephisto ist aber cool!“„ Das Unglück vom Gretchen
über die verlorene Liebe und das tote Kind kann ich verstehen.“ Da sind sie ganz
aufmerksam und begreifen ganz viel und gelegentlich fließt auch eine Träne. Ist
es euch egal, ob eure Kinder schöne Sprache klug gesprochen nirgendwo mehr
hören können?
Ihr alle habt euch als Kinder mühelos
in Prinzessinnen, Piraten und Indianer verwandeln können. Später ist dafür
keine Zeit und es kommt einem wie so manches andere Kostbare abhanden und
leider werden oft auch die Träume vernünftiger und kleiner, „man muß ja
realistisch bleiben“. Wir Spieler sind berufsmäßige Träumer und Albträumer,
allerdings hart arbeitende und nicht gerade überbezahlt. Ich habe es satt, daß
über uns gesprochen und geschrieben und leider auch entschieden wird von
Leuten, die keinen Traum haben (, als den, kein Risiko einzugehen). Wir sind
nötige und nützliche Mitglieder dieser Stadtgemeinschaft, darauf bestehe ich,
was nicht heißt, daß wir nicht noch besser werden sollten und können. Und wer
da aus Kurzsichtigkeit, oder Pragmatismus, oder blanker Dummheit über uns die
Todesstrafe verhängt, der muß auch wissen, daß er etwas Wunderbares tötet. Ist
es euch egal?
Man könnte auch hintenran ein weiteres
Zitat des obengenannten Dichters setzten.
„Man schlage ihnen ihre Fressen
Mit schweren Eisenhämmern ein.
Im übrigen will ich vergessen
Und bitte sie mir zu verzeihn."
Francisco Goya
Saturn frißt seine Kinder
zwischen 1819 und 1823
zwischen 1819 und 1823
Mit enthusiastischem und wütendem Gruß, Johanna Schall!