Freitag, 8. November 2013

Der 24. Jahrestag des 9. November 1989


EINE NACHT WIE KEINE NACHT

Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. […] Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen... Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich.

Günter Schabowsky in einer Pressekonferenz übertragen von der der Aktuellen Kamera, der Nachrichtensendung des Fernsehens der DDR


Merkwürdig, ich kann die Aktuelle Kamera vom 9. November nicht finden, nur Ausschnitte in der Tagesschau des "Westfernsehens".

Ein, in der Rückschau ungelenker, ja geradezu peinlicher Fernsehauftritt, öffentlicher Höhepunkt von Geschehnissen, deren vollen Umfang und Vorgeschichte wahrscheinlich selbst jetzt niemand von uns wirklich überblickt.

Meine Erinnerung an die Stunden bevor die glücklichen Tänze auf der Mauer stattfanden:

Weil ich weder Vorstellung noch Abendprobe habe, bin ich zu Hause, der Fernseher läuft, wie eigentlich immer in dieser Zeit, in der jeder Tag, jede Stunde Neues, Unglaubliches bereithält. Die erste wirkliche Demonstration meines Lebens liegt fünf Tage zurück, Unsicherheit, Hoffnung, Ungewissheit sind geistiger Dauerzustand. Die Aktuelle Kamera beginnt, früher habe ich die nie geschaut, Schabowski, der Günter, allgemein als besonders scharfes Dreckschwein und Alkoholiker bekannt, stammelt die oben zitierten Sätze in die Kamera. Inszenierung oder Unfall?
Noch am 8.November hatte er in einer Rede im ZK geäußert:
Eine einwandfreie Berichterstattung über jegliches Auftreten von Mitgliedern der Führung, also von Mitgliedern des Zentralkomitees wie von Mitgliedern des Politbüros … Das sind die wichtigsten Dinge. Die Methoden dazu können nur wieder Methoden der Administration und Gängelei sein, wenn man das mal in Anführungszeichen sagen will, anders ist es nicht möglich.Und die Berichterstattung der jüngsten Zeit sei
im Grunde nichts weiter […] als die übelsten Methoden, also des Bodensatzes, der westlichen Presse […] den Mist müssen wir nicht mitmachen. Und wenn man so mit ihnen spricht, dann haben sie es auch schnell verstanden, daß das eine Masche ist, die man nicht akzeptieren kann und die sich nicht mit dem Kurs der Erneuerung vereinbart.Und jetzt das!
Ich rufe einen Freund an, ob ich richtig gehört habe, und wir verabreden uns in der Kantine des Deutschen Theaters. Dort bekommen wir den Anruf eines anderen Bekannten, der nur: "Ich bin drüben, ich bin drüben!" ins Telephon stammelt. 
Es sei angemerkt, dass alle diese Anrufe über das Festnetz liefen. Man stelle sich vor - keine Handys!
Verwirrung, Freude, Panik, Unglauben.
Stunden später. Ich fahre mit Jörg-Michael Körbl in einem Lada durch Ost-Berlin. Im Haus des Reisens am Alexanderplatz stempelt eine überforderte Frau irgendwelche obskuren Genehmigungen in DDR-Ausweise, ein überwältigter junger Mann jubelt mitten auf der Straße: " Ich bin zwanzig Mal hin und her, hin und her!". Die Stadt ist still, nur an den Grenzübergängen sammeln sich immer mehr Menschen. 
Wir, Jörg und ich, beenden die Nacht in der Volksbühne und verbrennen in einem surrealen Autodafe unsere DDR-Ausweise auf einem Kantinentisch.
In Jörg-Michael Koerbls Stück "Neues Deutschland" von 1999 lautet der erste Satz: "Die Menschen rennen durch die Stadt wie vor dem Weltuntergang."
Eigentlich gab es von diesem Tag an die DDR nicht mehr.
Gut das sie weg ist!

 
Chronik des 9.Novembers mit genauen Zeitangaben:
http://www.chronik-der-mauer.de/index.php/de/Chronical/Detail/day/9/month/November/year/1989 

5 Kommentare:

  1. Ibon Regen schrieb:
    ritscheratscherick. honni

    Burkhard Ritter
    Ich habe das Ereignis verpennt. Erst am nächsten Morgen durch die Kollegen erfahren was passiert ist. Wir waren in unserer Stammkneipe und sprachen, wie immer über Gott und die Welt. Ein Freund verkündete jetzt ein Dauervisum erhalten zu haben. Dass wir plötzlich alle ein Dauervisum hatten amüsierte uns einen Tag später.

    Pierre C. Deason-Tomory
    endlich mal ein text.

    Johanna Schall
    Das ist wirklich ein Kompliment!

    Ibon Regen
    ich hatte im frühjahr auch ein dauervisum beantragt, nachdem ich mit dem staatsschauspiel dresden erstmalig im westen war. wollte immer mal lichtstrahl im grau. visum wurde im sommer genehmigt. ab 11. november. hab mich total geärgert, in meiner stammkneipe im prenzlberg doch nicht auf dicke hose machen zu können. "komm grad aus der schaubühne. war nich so toll. ein bier bitte!"... am 9. november sass ich in "coming out", hab dann mit der okras und der harbort gesoffen, als die mauer aufte. sind aber nicht rüber, weil wir der zweiten welle ("coming out" wurde wegen grossen andrang zweimal gezeigt) incl hauptdarstellern nicht zumuten wollten, zu einer leeren prem.feier zu kommen. hab dann bis 6 uhr gesoffen, musste um 7.10 uhr nach dresden zur probe fahren und bin dort bei meinen sätzen "tür und tore find ich offen..." vor engel zusammengebrochen und in den frauenruheraum gebracht worden... warn geile 24 std.

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  2. Ein Bekannter schrieb:

    Liebes Volk,
    Mensch wäre hätte das gedacht?
    Liebes Volk,

    Selbst ich nicht, der die Ereignisse des 9. November, ohne Quatsch jetzt, bereits 1986 geträumt hatte. Nun nicht gleich mit Günter Schabowski und so aber doch in seiner Grundstruktur bemerkenswert identisch.
    In meinem Traum 1986 kamen irgendein paar Freunde und berichteten, dass die Mauer auf wäre, und man lediglich mit seinem Personalausweis reisen dürfe. Also fuhren wir nach Westberlin und begaben uns zu einem Checkpoint, der im Traum dem Übergang Bahnhof Friedrichstraße sehr ähnlich war. Meine Freunde zeigten alle ihre Ausweise und konnten den gekachelten Gang Richtung Westberlin passieren. Als ich an der Reihe war, bemerkte ich... Scheiße wo ist mein Ausweis! Nervös und vorahnend durchforstete ich sämtliche mir bekannten Stellen meiner Klamottage. Meine Freunde traten schon nervös auf der Stelle, los jetzt mach mal hin, sagten sie immer wieder. Als sich abzeichnete, dass ich mein Personaldokument wahrscheinlich nicht finden werde, begannen meine Kumpels sich rückwärts bewegend langsam Richtung Westen mit den halb entschuldigenden Worten, „...äähh, ..wir machen dann schon mal los...“ zu verdünnisieren. Tja und fast genau das passierte mir drei Jahre später am 9. November. Es war abends, ich wollte gerade in die Kiste gehen, da ich Frühdienst hatte, als plötzlich mein Freund Dr.H.G. reinstürmte und rief „..die Grenze ist offen und man braucht lediglich seinen Personalausweis“. Da ich meinen Ausweis selbstverständlich nicht finden konnte, vermutete ich diesen auf Arbeit im Großen Haus des Staatsschauspiel Dresdens. Da wir natürlich alle gemeinsam nach Westberlin einreiten wollten, verabredeten wir uns für 3:00 Uhr Nachts am Hauptbahnhof. Also lief ich erstmal ins Große Haus um meinen Ausweis zu holen. Dort angekommen durchwühlte ich meinen Schrank und konnte, na logisch, diesen nicht finden. Bedröpelt und angefressen verließ ich das Gebäude. Ca. 100 Meter weiter fiel mir plötzlich mein Traum aus den Jahre 86 wieder ein und ließ mich erschaudern. Da dies ja nun alles nicht war sein konnte, fing ich an meine Wohnung auf den Kopf zu stellen, allein es half nichts und es war, als hätte ich nie einen Persi besessen. Bedient und mich geschlagen gebend, legte ich mich schlafen.
    Ende Teil 1

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  3. Teil 2
    Gegen 3:30 Uhr kam mein Freund Dr. H.G. in mein Zimmer gepoltert, um mich äußerst gereizt zu fragen, wo ich den um Gottes Willen bleiben würde. Ich erzählte ihm mein Missgeschick, welches er aber nur für eine Ausrede hielt und glaubte ich hätte keine Lust und wolle nur pennen. Dann verließ er die Wohnung, mit den sich nicht entschuldigenden Worten, dass er jetzt los mache. Am nächsten Morgen ging ich niedergeschlagen ins Große Haus, wo eh kaum irgendjemand da war. Also legte ich mich in meinen Aufenthaltsraum aufs Sofa, 1989 ging das noch, und malträtierte mein Hirn, wie ich es zuvor noch nie getan hatte. Eine Stunde später wusste ich, wo mein Ausweis war. In der Nacht des 11. November, vorher gab es keinen Zug, fuhr ich mit meinem Kollegen Udo Nitzsche Richtung Berlin, Bahnhof Friedrichstraße. Dort angekommen, musste man sich die Treppen hinab begeben, um in die gekachelten Gänge des Grenzüberganges zu gelangen. Da Udo Nitzsche und ich die ersten auf der Treppe abwärts waren, bemerkten wir, dass unten um die Ecke, was von oben nicht einsehbar war, bereits Hunderte an der Passstelle anstanden. Kurzfristig entschieden wir uns um, uns der Menschenmassen, dem Volk zu entziehen und dass es doch cooler wäre über den Checkpoint Charlie zu gehen. Also machten wir kehrt auf der Treppe und gingen wieder hoch. Als mich die verunsicherten Augen, der aus dem Dresdner Zug strömenden Menschen erfassten, die die wartende Schlange um die Ecke noch nicht erblickt hatten und die richtig bemerkten, dass wir „falsch“ herum gingen, brüllte ich laut und vernehmlich in die Halle des Bahnhofes Friedrichstadt: „Hier geht’s nur zu den Toiletten!!!!“, was den Effekt hatte, als hätte man in einen Ameisenhaufen gepinkelt. Das Chaos hinter uns lassend, liefen Udo Nitzsche und ich gemütlich die Friedrichstraße, Richtung Check Point Charlie entlang und uns vorstellend, wie wir nun unsere 25 bzw. 26 Jährige Gefangenschaft hinter uns lassen werden. Nun werden sich einige fragen, was dies hier alles mit Kino zu tun hat. Das werde ich Ihnen sagen, liebes Volk: Die schönsten Drehbücher schreibt das Leben selbst! ...habe ich das nicht schön formuliert?
    ...na ich denke doch!

    Schöne Feiertage und beste Grüße an Udo Nitzsche.

    Euer freiheitlicher Dr. Kurt Hanuschke

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  4. "Gut, dass sie weg ist !" - ja, dieser Staat ist Geschichte.
    Aber weg? Wie schwer wir die DDR in uns mitschleppen, so oder so.

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  5. Diese Nacht aber, ja, war wirklich ein unbegreifbarer Glückswirbel.
    Grenzüberschreitung.Ein Gefühl von totaler Grenzüberschreitung: Wenn dieses Unvorstellbare möglich ist, ist alles möglich. Total.

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