Sonntag, 8. September 2013

Wandrers Nachtlied - Der Hauch


Wandrers Nachtlied

So:

Der du von dem Himmel bist,
Alle Freud und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest;
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all die Qual und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!


Am Hang des Ettersberg am 12. Februar 1776

Wahnsinn, wenn ich mir vorstelle, wie viele Menschen etwas mehr 
als 150 Jahre später eine solch inbrünstige Bitte an eben diesem Ort in den Himmel voller Rauch geschickt haben.

oder so:

Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest;
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!


Für den Druck 1789

Ein Gleiches

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.


Am Abend des 6. Septembers 1780 mit Bleistift 
an die Holzwand der Jagdaufseherhütte auf dem 
Kickelhahn bei Ilmenau.

Johann Wolfgang von Goethe

Und die Parodie:

Liturgie vom Hauch

Einst kam ein altes Weib einher
Die hatte kein Brot zum Essen mehr
Das Brot, das fraß das Militär
Da fiel sie in die Goss', die war kalte
Da hatte sie keinen Hunger mehr.
Darauf schwiegen die Vöglein im Walde
über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.

 
Da kam einmal ein Totenarzt einher
Der sagte: Die Alte besteht auf ihrem Schein
Da grub man die hungrige Alte ein
So sagte das alte Weib nichts mehr
Nur der Arzt lachte noch über die Alte.
Auch die Vöglein schwiegen im Walde
über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.

 
Da kam einmal ein einziger Mann einher
Der hatte für die Ordnung keinen Sinn
Der fand in der Sache einen Haken drin
Der war eine Art Freund für die Alte
Der sagte, ein Mensch müsse essen können, bitte sehr
Darauf schwiegen die Vöglein im Walde
über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.

 
Da kam mit einemmal ein Kommissar einher
Der hatte einen Gummiknüpel dabei
Und zerklopfte dem Mann seinen Hinterkopf zu Brei
Und da sagte auch dieser Mann nichts mehr
Doch der Kommissar sagte, daß es schallte:
Und jetzt schweigen die Vöglein im Walde
über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.

 
Da kamen einmal drei bärtige Männer einher
Die sagten, das sei nicht eines einzigen Mannes Sache allein.
Und sie sagten es so lang, bis es knallte
Aber dann krochen Maden durch ihr Fleisch in ihr Bein
Da sagten die bärtigen Männer nichts mehr.
Darauf schwiegen die Vöglein im Walde
über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.

 
Da kamen mit einemmal viele Männer einher
Die wollten einmal reden mit dem Militär
Doch das Militär redete mit dem Maschinengewehr
Und da sagten alle die Männer nichts mehr.
Doch sie hatten auf der Stirn noch eine Falte.
Darauf schwiegen die Vöglein im Walde
über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.

 
Da kam einmal ein großer roter Bär einher
Der wußte nichts von den Bräuchen hier,
das brauchte er nicht als Bär.
Doch er war nicht von gestern und ging nicht
auf jeden Teer
Und der fraß die Vöglein im Walde.
Da schwiegen die Vöglein nicht mehr
über allen Wipfeln ist Unruh
In allen Gipfeln spürest du
Jetzt einen Hauch.

 

Bertolt Brecht, 1926

Und noch eins:

Small Bang

Das Gedicht hörte, wie es geschrieben wurde,
es sah die riesige Hand,
aus der es anscheinend entstand, Wort für Wort,
es hielt mit sich selbst kaum Schritt.


Schritt, sah es stehen, und sagte
sich echoend Schritt, Schritt, aber schon
war die Hand wieder weiter, gejagt
von der Peitsche des Schreibens,
dem Heimweh nach Form.


Es schmerzt, nicht fertig zu sein,
wenn man nirgendwoher kommt.
Atemlos liegen die Wörter auf dem Tisch,
die Hand verschwindet, kommt wieder,
verschwindet,
das Gedicht erinnert sich an nichts,


und der Kopf, so weit oben,
als nichts anderes erkennbar
als die Maske von Chaos und Ursprung,
wendet sich ab von den Zeilen,


und sagt in seinem Atem
die Kadenz des Denkens.
Und schließt das Gedicht,
ein Hauch.


von Cees Nooteboom
 

3 Kommentare:

  1. In Robert Wolfgang Schnells Erzählung VOLKSKUNST (im Band MUZES FLÖTE), trägt einer WANDERERS NACHTLIED vor und er sagt, es wäre von ihm. Auf Gelächter und Entrüstung erwidert er:
    "Gestern (...) stand ich an meinem Fenster in der Nacht. Die Stadr lag unter mir und ich erblickte vollkommene Ruhe. Es war windstill, und die Kinder atmeten in ihren Betten. Da wuchs mir dieses Gedicht entgegen, an welches ich jahrelang nicht gedacht hatte. Jetzt ist es von mir, obwohl es früher einmal Goethe geschrieben hat."

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  2. Das ist mir auch schon passiert mit Gedichten, als ob sie aus dem Körper kommen.

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  3. Es ist verwunderlich, wenn der Sänger Thomas Quasthoff bei der Schubertvertonung des ersten Liedes anstatt "Süßer Friede,
    Komm, ach komm in meine Brust!" singt "Süßer Friede,
    Komm, ach komm an meine Brust!" und somit den 'süßen Frieden' an seiner Brust zerquetscht.

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