Montag, 1. Mai 2023

In Brandenburg auf der Suche nach einer Ladestation

Seit einigen Jahren lebe ich ohne eigenes Auto. Gut für den CO2 Fußabdruck und sparsamer und meine Nerven ertrugen, das ewige Suchen nach einem Parkplatz immer weniger gut. In der Großstadt ist das als Single, das gut zu Fuß ist, auch nicht wirklich schwer und es gibt ja noch Share Now oder auch mal ein Taxi. Für Ausflüge am Wochenende miete ich dann zwei-, dreimal im Jahr ein Auto. 

Dies war mein Wochende: Samstag 10 vor 10 stehe ich am Sixtschalter im Hilton am Gendarmenmarkt, wo ich, meinem Mietvertrag zufolge, den Autoschlüssel erhalten soll. Niemand erscheint. Telefonische Kontaktversuche enden im erschöpfenden Niemandsland der neutralen Sprachansagen nach Tasten-zwischen-Eins-und-Drei-Drücken. An der Hotelrezeption sagt man mir, da kommt fast nie einer, laufen sie lieber gleich in die Station an der Leipziger. Ok, ich betrete drei Strassen weiter, mit Gepäck, das Sixt-Büro und werde von einem offensichtlich gestressten Mitarbeiter schroff darauf hingewiesen, dass man mir doch mitgeteilt hätte, dass ich gleich in die Leipziger kommen sollte. Hat man nicht und es wird später auch grummelnd zurückgenommen. Ich stelle mich an. Sechs Kunden, pro Kunde circa zehn Minuten, erst ist nur ein Tisch besetzt, dann noch ein zweiter, diese Gelegenheit nutzt Mitarbeiter Nummer eins allerdings für ein längeres privates Telefonat. 

Eine Stunde später ich bin dran. Mist, ich habe übersehen, dass ich ein Elektro-Auto kriege. Natürlich keine Möglichkeit zum Wechsel, Ich will stornieren, das wären 80 Prozent Stornokosten, die anderen Menschen in der Schlange werden verständlicherweise ungeduldig - "Nun nehmen Sie das Auto doch. Ist easy peasy, bezahlt wird an der Ladesäule mit Paypal, nun machen Sie schon." - Ich nehme das Auto. Die App, die ich für die mir überreicht wordene Ladekarte herunterlade, erkennt die Karte nicht, eine zweite, die mir schroff rübergereicht wird, will die App auch nicht. Nach vielen Versuchen finde ich später heraus, dass der Scanner eine Zahl falsch liest. 

Wir fahren. Das Hotel tief im Brandenburgischen ist fabelhaft, das Essen schmackhaft, das Wetter strahlend, die Wiesen und Bäume hellgrün, gelbgrün, mattgrün, knallgrün und alle möglichen Grüns, die so nur der späte Frühling bietet, und die Laune blendend. Es bleibt nur der kleine nagende Gedanke: Wie lädt man so ein Auto auf und wo?

Tja, hier wird es kompliziert. Wie? Keine Informationen im Auto selbst, Google bietet viele, aber nicht, die ich benötige. Im Kofferraum liegt ein fettes Kabel, das ist gut. Aber das Bezahlproblem ist damit noch nicht gelöst. Mittlerweile habe ich drei Apps für E-Auto Ladestationen heruntergeladen.

Wo? Rheinsberg - eine Ladestation, schwer zu finden und an Abenden und am Wochenende geschlossen. Gransee - eine Ladestation, die aber meine Geldkarten nicht annnimmt. Die Hotline kann leider nur Auskunft über den Zustand der Ladesäule selbst geben. Ein Passant schlägt mir freundlich alle Schritte vor, die ich schon ausprobiert habe.

Meine Begleiterin verletzt ihr Knie beim Stolpern über eine Wurzel, kann nur unter heftigen Schmerzen laufen und wir müssen daher eher als erwünscht nach Hause.

In Neuruppin und Oranienburg sollen einige Ladesäulen sein, aber ich gehe auf Risiko und fahre nach Berlin. Naja, vier oder mehr Stunden im Irgendwo aufs Aufladen warten, klingt wenig reizvoll.

Wir haben für eine Strecke von 78 Kilometern noch Strom für 130. Haben wir? Nein, das Ding entlädt sich schneller als versprochen, obwohl ich so ökonomisch fahre, dass ich mich selber dabei langweile.

In Pankow lade ich, ja ich kriege es hin, diesmal geht es, nach einigen Versuchen, wirklich über Paypal, es lädt.

2 KWh, helfen nicht viel, aber bringen uns bis Mitte, die Freundin wird nach Hause gebracht, eine neue Ladesäule gefunden, das Auto angeschlossen. Vier Stunden später ist es genug geladen und ich gebe es ab.

Ich werde nie wieder ein Auto bei Sixt ausleihen.

Ich werde (in den nächsten Jahren) nie wieder ein Elektroauto mieten, wenn ich vorhabe aufs Land zu fahren.

Nuklearphysik in brandenburgischer Idylle

Aber wir hatten zwei herrliche Frühlingstage, sind viel gelaufen und haben den Frühling aufgesaugt.

Donnerstag, 20. April 2023

Nächtliche Gedanken

Neuerdings habe ich merkwürdige Unterhaltungen mit einer lieben Freundin, wird die Klimakatasrophe oder Deepfakes das Ende unserer Welt einläuten? Verkehrte Welt, wir diskutieren die Varianten ihres Untergangs. Wann ist es normal geworden über das Ende der Welt zu reden? Gab es diese Gespräche schon seit je? Apokalypsen wurden zyklisch wohl schon immer vorausgesagt und fast jede Generation meinte, ihre Zeit wäre schlimmer, als alle davor. Aber. Aber jetzt? Klima in katastrophalem Zustand, Krieg allüberall und in unserer Nachbarschaft, KI, Deepfake und der Rechtsrutsch ganzer Demokratien. Schlimmer?

Heute Abend in der Schaubühne The Wooster Group mit einer Hommage an Tadeusz Kantor, den polnischen Theatergott. 

Merkwürdig.

Ein polnischer Jude, dessen Vater in Ausschwitz umkam und der im katholischen Polen der Stalinzeit aufwuchs, erschafft theatralische Ereignisse über sich selbst, sein Leid, seine Hoffnungen, seine Erwartung oder Ersehnung des Todes. Der Abend auf den sich die Rekonstruktion beruft, hieß "Ich werde nicht wiederkehren" und war eine Collage all seiner vorherigen Inszenierungen. Der Titel bezieht sich auf ein Stück von Stanislaw Wyspiański über Odysseus, der nach seinen Irrfahrten in Ithaka ankommt, alle Freier tötet und dann feststellt, das er nicht einfach wieder zurückkommen kann, weil er ein anderer geworden ist. 

Eine New Yorker Institution, eben jene Wooster Group untersucht 2022/23 das Werk dieses Mannes, der 1990 starb.

Theater verschwindet mit seinen Akteuren, keine Kränze usw., hier wird ein Wiederbelebungsversuch unternommen. Und das funktioniert in Momenten. Die Synchronisation von alten Probenmitschnitten und akut erlebter Darstellung ist spannend. Vieles war mir zu selbstreferentiell, Theater, das Theater kommentiert. Aber ein Moment ist stark und erschütternd. Ein junger Mann aus New York singt ein Lied, das ein Jude, Azriel David Fastag, auf dem Transport nach Treblinka geschrieben hat und dessen Melodie auf abenteuerliche Weise überlebt hat. Juden haben es gesungen, während sie in die Gaskammer gingen.

Ani Ma'amin - I believe - Ich glaube

I believe / with complete faith / in the coming of the Messiah / in the coming of the Messiah I believe / though he may delay / every day / I believe.

Ich glaube / mit tiefem Glauben / an die Ankunft des Messias / an das Kommen des Messias glaube ich / auch wenn er etwas zu spät kommt / ich glaube. 

Trauriger geht nicht.


with a complete faith10
in the coming of the Messiah
in the coming of the Messiah I believe
though he may delay
still every day
I believe
https://lyricstranslate.com/de/ani-maamin-i-believe.html
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in the coming of the Messiah I believe
though he may delay
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I believe
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in the coming of the Messiah I believe
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still every day
I believe
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Was ich habe, will ich nicht verlieren

Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin

Thomas Brasch 1977

Was die Dramaturgie der Schaubühne darüber schreibt:

»A PINK CHAIR (In Place of a Fake Antique)« unternimmt eine szenische Rekonstruktion des vorletzten Stücks von Tadeusz Kantor, »I Shall Never Return«. Der polnische Theatermacher und Künstler, der in seinen wegweisenden Arbeiten immer wieder die Grenzen zwischen bildender Kunst und Theater überschritt, inszenierte das Stück 1988 kurz vor seinem Tod und wirkte selbst darin mit. Zusammen mit Kantors Tochter Dorota Krakowska als Leiterin sowie Probenaufzeichnungen der Inszenierung begibt sich The Wooster Group auf eine Expedition in die Vergangenheit der europäischen Theateravantgarde und auf die Suche nach einer verlorenen Zeit – und wiederholt damit ein Wagnis, das auch Kantors Schauspieler_innen virtuos in »I Shall Never Return« unternahmen. Diese Inszenierung, die irgendwo zwischen Ithaka und einem polnischen Gasthaus angesiedelt ist, erscheint wie ein Vermächtnis Kantors, in dem er frühere Stücke, u. a. seine erste Arbeit »Die Rückkehr des Odysseus«, auf die Bühne zurückholt und in der sich alles um das zentrale Motiv des Abschieds dreht. In bildstarken surrealistischen Szenen tauchen Wiedergänger_innen alter Figuren auf. Über die Geschichte dieser wie aus einem Stummfilm gefallenen Charaktere wird immer wieder auch bruchstückhaft Kantors eigene Biografie zusammengesetzt, die von Verlust, Krieg und dem ständigen Bewusstsein um Vergänglichkeit und Tod geprägt ist. Es ist ein visionäres Spektakel, halb Alptraum, halb Groteske, und eindrückliches Beispiel für das, was Kantor selbst sein »Theater des Todes« nannte. Ein Theater des Todes, das The Wooster Group mit ihren Spieler_innen nun wieder zum Leben erweckt, indem sie die Rekonstruktion der Rekonstruktion versucht.

Mittwoch, 19. April 2023

Ein Maler schreibt ein Gedicht

Gefunden in

Paris Magnétique

einer Ausstellung über jüdische Künstler in Paris 1905 bis 1940

im Jüdischen Museum Berlin

 

Den ermordeten Künstlern


Ob ich sie alle gekannt habe? Ob ich in ihrem Atelier gewesen bin?

Ob ich ihre Kunst von nah und fern gesehen habe?

Und jetzt trete ich aus mir heraus, aus meinen Jahren,

und gehe an ihr unbekanntes Grab.

Sie rufen mich, sie ziehen mich in ihre Grube – mich

Den Unschuldigen, den Schuldigen.

Sie fragen mich: Wo bist Du gewesen?

- Ich bin entflohen ...

Sie hat man zu den Todes-Duschen geführt,

wo sie ihren Schweiß schmeckten.

Da sahen sie das Licht

Ihrer ungemalten Bilder.

Sie haben die ungelebten Jahre nicht gezählt,

welche sie gespart und aufbewahrt hatten,

für die Erfüllung ihrer Träume

schlaflose, verschlafene.

Sie haben in ihrem Kopf jenen Kindheitswinkel –

gesucht, in dem der sternumkränzte Mond

ihnen eine helle Zukunft versprach.

Die junge Liebe im finsteren Zimmer, im Gras

Auf Bergen und Tälern, die aufgeschnittene Frucht,

mit Milch begossen, mit Blumen bedeckt,

verkündete ihnen ein Paradies.

Die Hände ihrer Mutter, ihre Augen,

begleiteten sie zur Bahn,

zu fernem Ruhm.

Ich sehe: Da schleppen sie sich nun – in Lumpen

barfuß, auf stummen Wegen.

Die Brüder von Israëls, Pissaro und Modigliano, unsere Brüder.

Es führen sie in Stricken, die Brüder von Dürer, Cranach und

Holbein – zum Tode in die Krematorien.

Wie kann ich, wie soll ich Tränen vergießen.

...

Marc Chagall


 

Sonntag, 9. April 2023

Sonne und Beton - Ein Film

Walter Adolf Georg Gropius (* 18. Mai 1883 in Berlin; † 5. Juli 1969 in Boston, Massachusetts) war ein deutscher (seit 1944 US-amerikanischer) Architekt und Gründer des Bauhauses. Beginnend 1960 entwickelte er das Wohnbau-Projekt Gropiusstadt in Berlin-Neukölln. Die rund 18.500 Wohnungen der von Walter Gropius geplanten Trabantenstadt wurden zu 90 Prozent als Sozialbauwohnungen errichtet. Seit den 1980er Jahren gilt die Gropiusstadt als sozialer Brennpunkt. 

Levy Rico Arcos, der Hauptdarsteller.

Der Film: Vier Jungen, 15, 16 Jahre alt, leben in eben dieser Gropiusstadt, jetzt, 2023, nicht mehr als 15 Kilometer von mir in Berlin-Mitte, dem wahrscheinlich gentrifiziertesten Teil meiner Stadt, entfernt. Mit ihnen erlebe ich eine fremde Welt, die meiner bekannten benachbart ist und doch nur in Momentaufnahmen von ihr aus sichtbar.

Ein Film über eine mir nahezu gänzlich unbekannte Kultur. Na klar, ich schnappe täglich Gesprächsfetzen in der U- oder S-Bahn auf oder wenn ich gelegentlich in Neu-Kölln bin und meine älteste Freundin ist Lehrerin an einer Brennpunktschule in dem Bezirk und sie erzählt viel. Ich habe auch erlebt, wie sich ihr Wortschatz verändert hat in der täglichen Konfrontation mit ihren Schülern. Verrückterweise hatte ich die ersten 15 Minuten sogar Schwierigkeiten dem Dialog zu folgen, bis ich mich in dieses fremde Deutsch eingehört hatte, alle, biodeutsch oder ganz oder teilweise anderen Regionen entstammend sprachen ein anderes, exotisches Deutsch, gespickt mit "ficken", "Hurensohn", "schwul" und erstaunlich und erschreckend phantasievollen Zusammenstellungen von Verbalinjurien aller Art. Gewalttätige Sprache ist offensichtlich oder oder besser offenhörlich überlebenswichtig in solchen Zusammenhängen. 

Diese Kinder sind in Not, Gewalt in unterschiedlichsten Formen gehört zu ihrem Alltag. Sie erleben sie. Sie üben sie nach streng hierarchischen Regeln aus. Sie klammern sich an sie, wie an eine Boje im Sturm. Sie werden von ihr überwältigt und gebrauchen sie ohne sichtbare Skrupel. Kein Geld in einer Welt voller Verlockungen, keine Macht über den Gang des eigenen Lebens, keine nachlebbaren, glaubwürdigen Regeln nach denen sie sich richten könnten.

Die Spieler sind gecastete Laien, aber wahrlich bedacht und genau gecastet. Levy Rico Arcos spielt Lukas, Vincent Wiemer Julius, Rafael Luis Klein-Hessling Gino, Aaron Maldonado Morales Sanchez und alle drumherum. 

Ich habe große Teile des Films durch meine angstvoll gespreizten Finger gesehen, obwohl die eigentliche Brutalität nicht gezeigt wurde, nur Intention von Gewalt, nicht die Treffer. Die Geräuschemacher und Schnittmeister haben tolle Arbeit geleistet.

Hingehen, angucken, erschrecken, nachdenken.

Dienstag, 28. März 2023

Pinocchio

Ein gewöhnliches Stück Holz. Eine Marionette ohne Führungskreuz und -fäden. Frei sich zu bewegen. Ein Junge aus Holz. 

Eine Geschichte über Kindererziehung, die Bürger des 19. Jahrhunderts mussten sicherstellen, dass ihre Kinder gute Erben werden würden und Collodi, der Autor unserer Geschichte, stimmt ihnen zu und doch läßt seine überbordende Phantasie, es nicht zu, dass sein Text nur eine Moralpredigt wird.

Vier Schauspieler und eine Musikerin, eine Bühnen- und Kostümbildnerin, eine Maskenbauerin, zwei Schneiderinnen, drei technische Fachkräfte. Sieben Wochen Proben durchmischt mit reichlich zu spielenden anderen Vorstellungen. Sieben Wochen, um eine Geschichte für Kinder in eine Geschichte über unsere Kindheit zu verwandeln. 

Es war einmal … ein König! Nein, falsch! Es war einmal ein gewöhnliches Stück Holz.

Photo Marianne Menke 

Eigentlich soll das gewöhnliche Stück Holz ein Tischbein werden. Aber es kommt anders, der alte Geppetto schnitzt sich daraus eine Marionette, die ihn immer lieben soll und mit der er sich ein Zubrot verdienen will.

Aber es kommt anders, Pinocchio, die Holzpuppe, hat eine laute Stimme, schräge Ideen, übermütigen Eigensinn, großzügiges Mitgefühl, reichlich Neugier und ungebremsten Mut und rennt von einem Abenteuer ins nächste. In brenzligen Situationen lügt er auch gelegentlich und dann wird seine Nase länger. 

Blaue Fee: Das Lügen lange Nasen macht, habe ich mir ausgedacht, weil lange Nasen viel lustiger sind als kurze Beine!

Und jedes Mal wenn Pinocchio haarscharf einer Katastrophe entkommt, denkt er bei sich: Ich möchte so sehr ein braver Junge werden, um jeden Preis!“ Wie hoch ist der Preis? Was muss er aufgeben, um ein „braver“ Junge zu werden? Nicht mehr wild, zutraulich und warmherzig, sondern angepasst, artig, arbeitsam. Menschwerdung kostet.

Am Schluss schaut ein Junge namens Pinocchio auf seinen nun leblosen Holzkörper und denkt: „Wie lustig war ich, als ich eine Marionette war und wie glücklich bin ich jetzt, wo ich ein braver kleiner Junge bin!

Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, um brave Jungen zu werden? Wie lang sind unsere Nasen?

 
Photo Marianne Menke

So viele Wörter in einem Wort, pino und io und ochio und pinco, Pinie und ich und Auge und Dummkopf, Holzköpfchen. So viele sich scheinbar widersprechende Züge in der einen Figur, in Pinocchio. Die Marionette, die keine Fäden braucht, die eigenständig laufen, rennen, lachen, sprechen und lügen kann. Pinocchio kann lügen, kann etwas erfinden, auch wenn er es meist nur tut, um einer Strafe zu entgehen. Aber er kann es. Und er kann träumen. Auf diesem Planeten können nur wir Menschen Geschichten erfinden, alle anderen Lebewesen sind an die Wahrheit gefesselt. Wir können uns Dinge ausmalen, die es nicht gibt oder noch nicht gibt. Wir können unsere Geschichte immer wieder anders erzählen, neu erfinden, verbessern. Was für ein Geschenk. Geschichten, halten die Welt am Leben, die Welt würde ohne sie, aufhören zu existieren, heißt es im Imaginarium des Doktor Parnassus. Und unser kleiner Holzkopf hat dieses Geschenk auch erhalten und dann kommen die Menschen und wollen ihm dieses Geschenk entreißen, sie tun es auf vielerlei Art, mit Gewalt, Drohung, Erpressung, Manipulation. Manche berufen sich dabei darauf, ihn zu lieben, andere geben zu, dass es ihnen nur um ihren Vorteil geht. Aber alle wollen ihn anders als er ist. Entweder wollen sie ihn töten oder ihn zu einem braven Jungen machen. Kommt fast auf dasselbe hinaus, oder? Pinocchio will ein richtiger Junge werden, wie alle anderen, und als er es geschafft hat, liegt der alte Pinocchio, die Holzpuppe, das wilde Kind mit verrenkten Gliedern in der Ecke.

Eine Geschichte, die wir alle gelebt haben. Wir kommen in die Welt, schreiend und voll Energie und ohne Wissen über Grenzen und wir werden eines Besseren belehrt. Regeln. Regeln. "Regeln sind alles was wir haben."




Photos Marianne Menke

Wie wird eine Nase länger auf der Bühne? Wie sieht ein Kater aus, ein Fuchs, ein Gorilla, eine blaue Fee, eine Grille? Kein Video, keine Bühnenzüge, nur Schauspieler, Masken, Licht, Kostüme und Theatertricks, leicht zu durchschauen, doch magisch. Vier Schauspieler und eine Musikerin füllen die Bühne, erschaffen eine Welt, die dicht bevölkert ist. 

Ein Schauspieler mitte Fünfzig rennt wochenlang mit einer vorläufigen Maske im blauen Babystrampler herum, eine Schauspielerin spricht so hoch, dass einem fast die Trommelfelle einreißen, eine andere verkrampft ihren schönen Mund, um ihn der Harlekinmaske anzupassen, die Musikerin, als Schnecke besetzt, wird immer langsamer, außer wenn ihre Finger über die Tasten flitzen. Sie bedient auch eine Kreissäge, allerlei Holz, eine Mühle, eine Glocke und unzählige andere geräuscherzeugende Gegenstände und sie isst, langsam, Salat. Sie singen, sie tanzen, sie spielen Tiere, ohne zoologische Imitationen, sie ziehen sich geschätzte 100 Mal in höchster Eile um und können dann, den Eindruck erwecken, alle Zeit der Welt zu haben. Sie sind Zauberer. 

Ich liebe Theater. Und glücklicherweise lieben es einige andere auch.

Sonntag, 26. März 2023

Probieren ist wunderbar. Die Hexenjagd.

Ich bekomme ein Angebot von einem Theater und lese daraufhin ein Stück. 

Dann ist mir schon alles passiert, entnervtes in die Ecke werfen, Liebe auf den ersten Blick, völlige Verwirrung, Erweckung meines Forscherdrangs, extreme Abneigung und faszinierte Fremdheit. 

Wo ist der Punkt, an dem ich einsteigen kann? Was irritiert mich? Wo knarrt es in der scheinbar kohärenten Erzählung? Bei Shakespeare heißt es: "There's the rub." "Da liegt der Hund begraben." "Das ist des Pudels Kern." Da passt was nicht, da lauert ein Widerspruch, da kann ich ansetzen zu meiner persönlichen Entdeckungsfahrt.

Wie Alice brauche ich einen Brunnen, in den ich fallen kann.

Wir haben "Hexenjagd" von Arthur Miller probiert. "The crucible" im Original, der Schmelztiegel oder die Feuerprobe und, damit deutsche Zuschauer besser vorbereitet sind, Hexenjagd. Was für ein gut konstruiertes, gedachtes und gekonntes Stück von geradezu widerlicher Aktualität. A well made play nennen es die Briten.

Worum geht es? Der gesellschaftliche Konsens ist im Wanken, deshalb wird noch genauer auf die Einhaltung der Regeln geachtet, Ausbrüche werden hart geahndet, harte moralische Urteile werden gefällt und Widerspruch nicht geduldet, das ist die Ausgangssituation. Das ist unsere Ausgangssituation, damals bei den Puritanern im 17. Jahrhundert, 1953 in den USA, hier im Heute und auch im Theater.

Was passiert? Junge Frauen tanzen nachts im Wald, Lust, Befreiung, Entäußerung. Da ist Liebe und Trauer um Verlust, Sehnsucht nach Freiheit, die ausgelebt werden. Sie werden erwischt. Aus Angst vor Bestrafung lügen sie und ihre Lügen passen anderen Leuten aus verschiedensten Gründen gut in den Kram, daraus entsteht: Verleumdung. Die Lügen werden größer, kaum weiß noch jemand wo die Wahrheit aufhört und die Lüge anfängt. Ein Wahrheitsgemetzel beginnt. Menschen werden beschuldigt ohne den Hauch einer Unschuldsvermutung. 

Euer Ehren, wir sind hier, um herauszufinden, was niemals niemand jemals gesehen hat.

Was ist wahr? Wer lügt? Aus welchen Gründen lügt man? Wovor hat man Angst? Wann glaubt man die eigene Lüge?

Die Verführung und Zerstörungskraft der Lüge sind gigantisch. Die Lüge ist allgegenwärtig, oft gut verkleidet, bietet Bestätigung, Wohlbefinden, Sicherheit. Die Wahrheit liegt, wie Ionesco sagt, zwischendrin, ist anstrengend, ambivalent, unbequem, im schlimmsten und besten Fall von explosiver Veränderungskraft. Aber erkennt man die Wahrheit noch, wenn man die Lüge gewohnt ist? Fake news sind Fake Wahrheiten. Und mittlerweile scheint es mir, als seien gefühlte Wahrheiten für viele wahrer, als wissenschaftliche Fakten. Wahr, wahrer, am wahrsten. Die Erde ist flach, Trump ist cool, Putin verteidigt Russlands Rechte, Chemtrails überall.

Das Stück spielt in einem kleinen Ort in Massachuchetts, Salem. Jeder kennt jeden, jeder "weiß" alles über jeden. Also sind alle Spieler immer auf der Bühne, jeder hat seinen Stuhl, sie lauschen aus dem Hintergrund, reagieren. Jeder Szene ist nur ein Möbel zugeordnet, Bett, Tisch, Mülltonne, Kaffeeautomat. Die Kostüme sind an Uniformen erinnernde Einteiler mit sehr individuellen Details in Blautönen. Wenig Maske.

Die Schauspieler, was kann ich sagen, eine Freude, ein Erlebnis, ein Abenteuer. Hin- und herhgehetzt zwischen Weihnachtsmärchen, regulären Vorstellungen, Lesungen etc. kommen sie, um etwas Neues zu probieren. Erstmal habe ich die Samstag-Proben gecancelt, irgendwann müssen sie doch mal ausschlafen, ihre Kinder bespielen, Text lernen oder Schlittschuh fahren, oder? Und ihre Laune ist besser am Montagmorgen. Und sie haben geschuftet, so viel Klappsätze und merkwürdige Formulierungen, so emotional und genau gedacht. Gelacht haben wir auch viel, unbedingt notwendig bei solch teuflischem Text. Und immer wenn vom Teufel die Rede ist, schnipsen alle über die linke Schulter. 

Währenddessen ist das Theater in Greifswald wegen anstehender Sanierung schon seit Juni geschlossen und die zugesagte Ausweichspielstätte wurde, trotz Zusage, nicht zur Verfügung gestellt. Drei Jahre soll es dauern, also wahrscheinlich fünf? Harte Zeiten. Ich wünsche diesem Ensemble in diesen harten Zeiten nur Gutes, das Beste. 

https://www.vanheesen.de/


Bühne: Nicolaus Heyse / Kostüme: Jenny Schall / Musik: Ludger Novak

Spieler: Markus Voigt, Nora Hickler, Philipp Seidler, Anjo Czernich, Katharina Rehn, Amelie Kriss-Heinrich, Gabriele Völsch, Lutz Jesse, Susanne Kreckel, Philipp Staschull, Jan Bernhardt, Hannes Rittig

Mädchen aus Salem: Pauline Altendorf, Marlene HeßeHenriette Held, Adele Mesing, Charlotte Brunk, Timea Daedelow, Freya Kairies, Frida Krüger, Jördis Werner

Al Pacino als Teufel in dem Film "im Auftrag des Teufels" 

Für wen schuftet ihr? Für Gott? Das ist es? Für Gott? Naja, ich sag euch, lasst mich euch ein bisschen Insider-Information über Gott geben. Gott schaut gern zu. Er ist ein Witzbold. Denkt mal drüber nach. Er gibt dem Menschen Instinkte. Er gibt euch dieses außergewöhnliche Geschenk und was tut Er dann? Ich schwöre, für Sein Amusement, für Sein privates Vergnügen, setzt Er die Regeln in Opposition. Das ist der größte Gag aller Zeiten. Gucke, aber fass nicht an. Fass an, aber schmecke nicht. Schmecke, aber schlucke nicht. Ihr erinnert euch an Clinton und Monica Lewinsky? Und während ihr von einem Fuß auf den anderen hüpft, was tut Er? Er lacht sich seinen kranken, verfluchten Arsch ab. Er ist ein Geizhals. Er ist ein Sadist. Er ist ein nie erreichbarer Vermieter. Den Anbeten. Niemals! ... Warum nicht? Ich bin hier unten mittendrin seit die ganze Sache begann. Ich habe jedes Begehren das im Menschen geweckt wurde genährt! Ich habe mich um seine Wünsche gekümmert und ihn nie verurteilt. Warum? Weil ich ihn nie zurückgewiesen habe trotz seiner Unvollkommenheit. Ich bin ein Fan des Menschen. I’m a fan of man! Ich bin ein Humanist. Vielleicht der letzte Humanist. Wer, der bei klarem Verstand ist, kann leugnen, dass dieses Jahrhundert ganz und gar meines ist? Jetzt ist meine Zeit. Es ist unsere Zeit.

O – raison d'esclave

"Krücken, Krücken! gebt uns Krücken!

Ach, wie geht die Menschheit lahm,

seit man, neu sie zu beglücken,

ihr die alten Stützen nahm.

 

Brillen, Brillen! gebt uns Brillen!  

grün und blau und gelb und rot!

Volles Licht ist für Pupillen

unsrer Art der sichre Tod.

 

Lügen, Lügen! gebt uns Lügen!

Ach, die Wahrheit ist so roh!

Wahrheit macht uns kein Vergnügen,

Lügen machen fett und froh!

 

Gängelbänder, Schaukelpferde,

Himmel, Hölle und Moral –

und dich selbst gib deiner Herde

neu zurück, o großer Baal!

 

Christian Morgenstern



Sonntag, 15. Januar 2023

Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,

Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, so beginnt die Illias des Homer. Zorn kann vieles, Kreativität frei setzen, verkrampfen, eherne Mauern einstürzen lassen, Unschuldige töten.

Ich habe neulich einen Theaterabend gesehen, der durch Zorn zusammengehalten wurde, und was es vollends verrückt werden ließ, der Zorn richtete sich gegen die, die das Stück geschrieben und irgendwie auch inszeniert haben. 

Es war ein gewaltiger Zorn, der, freigelassen auf der Bühne, eine halbgare Sammlung von Traktaten (Wiki: Flug-, Streit-, Schmähschriften) , zu einem faszinierenden, aber mich auch bedrückenden theatralen Ereignis verschweißte. Der Abend hätte jede Minute in die Luft gehen können und nur diese Gefährdung machte ihn spannend.

Gute Schauspieler sind Wunderwesen, hochsensibel, liebessüchtig, und, wenn ihnen Raum gelassen wird, legen sie unbeirrbar den Finger auf die jeweilige schwärende Wunde. 

Es war ein seltenes und gänzlich neues Erlebniss, dass eine Inszenierung durch den zornigen Protest gegen sie, eigentlich erst entsteht. Ich verweigere mich, also spiele ich gegen diese Vereinnahmung bis zur völligen Erschöpfung. 

Der Hass-Clown, ein neues Fach, zeitgemäß und höchstdramatisch.

Das Ensemble-Netzwerk und die neue Kraft der Gewerkschaften verändert unser altes, feudales, deutsches Stadttheatersystem, die Verwerfungen werden gerade erst sichtbar, Schauspieler klagen erfolgreich, Intendanten kommen nicht ungeschoren durch, wenn sie Entscheidungen nicht glaubhaft begründen können. Gut so. Wenn es schief geht, explodiert das ganze System, aber wenn es klappt, welche Kräfte werden freigesetzt?

Freitag, 13. Januar 2023

Manu

Der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist. Heiner Müller

Ach.

Wir sind zusammen erwachsen geworden, haben schauspielen erlernt, gespielt, er am BE, ich am DT, haben angefangen Regie zu führen. Er war mir immer einen Schritt voraus. Als er Oberspielleiter am Schauspiel Chemnitz war, sein Intendant Rolf Stiska, habe ich dort inszeniert. Dann wurde er Intendant in Esslingen, ich arbeitete dort. Ich wurde Schauspieldirekorin in Rostock, er inszenierte bei uns Die Räuber. Dann ging er nach Senftenberg und wieder holte er mich zum arbeiten. 

Er hatte eine bunte, unübliche Kindheit, ich auch. Er hatte begabte, anstrengende, liebevolle Eltern, ich auch.

Ich denke, dass eine Jahr im Westen als Baby wird nur wenig Folgen gehabt haben. Dann, Berlin-Ost, Kindergarten, Schule, Oberschule. Nach dem Abitur mit Berusausbildung zum Zootechniker / Mechanisator überbrückt er als Bühnenarbeiter an der Volksbühne, dem Theatertempel meiner Jugend, ich gehe als pflegerische Hilfskraft ins Krankenhaus Friedrichshain, in dem ich auch geboren wurde.

Schauspielschule. Ernst Busch. Er als Student, ich als Elevin.

Er ging ans Berliner Ensemble, seine Mutter arbeitete an der Volksbühne, ich ans Deutsche Theater, meine Eltern arbeiteten am Berliner Ensemble. 

Die Eltern lieben und doch Abstand halten.

Er begann zu inszenieren. Die Perser waren, glaube ich, seine erste Arbeit.

Er liebte Heiner Müller, seine Frau, seine Kinder, seinen Stiefvater Wolf Biermann. Er liebte das Theater. 

Das klingt so bombastisch. vermutlich liebte er Proben, genau wie ich, die Zeit, in der alles und jedes möglich ist, Überraschungen an der Tagesordnung sind, nichts festgelegt ist, nichts ausgeschlossen. Da ist ein Konzept und es muss vergessen werden, damit es wieder verletzliche Offenheit geben kann.

Es kam sein Krebs, ein Merkelzellkarzinom, sehr selten und deshalb nicht sehr gut erforscht. Behandlungen aller Art und "nebenbei" die Intendanz, eine wahrlich harte Zeit für alle Seiten. Und nachdem er von Senftenberg Abschied genommen und einen neuen Arbeitsort gefunden hatte, griff sich Covid seinen geschwächten Körper. Sinnsuche ist gefährlich. weil der Tod keine logischen, moralischen oder anderweitig einordbare Motive hat. Er tut. Man lebt, man stirbt. 

Er war schüchtern und erstaunlich offen und ganz verschlossen, wenn es schlimm wurde.

https://taz.de/Die-Toten-brauchen-keine-Jeans-keine-Kiwis-sagt-Heiner-Mueller/!809431/

Man muss sich um die antikapitalistischen Alternativen keine Sorgen machen, weil der Kapitalismus keine Alternativen mehr hat, keine Feinde außer sich selbst. Das verspricht eine interessante Entwicklung. Im Zusammenhang mit Armut und Elend in vielen Teilen der Welt, mit der Bevölkerungsexplosion, mit den ökologischen Katastrophen. Da braucht man sich um Utopien keine Sorgen zu machen, höchstens um Apokalypsen. Heiner Müller 1991

Sonntag, 8. Januar 2023

The Banshees of Inisherin

In meinen Höfen gibt es zwei großartige Programmkinos, das Central und das hackesche höfe kino, ich habe also die Möglichkeit, täglich zwischen vielen Filmen zu wählen und sie dann praktisch im Pyjama anzugucken. Heute abend war es The banshees of Inisherin.

Der Autor und Regisseur ist Martin McDonagh, Ire, aber in England aufgewachesen. Er hat mit dem Schreiben für das Theater begonnen und verfilmt jetzt seit einigen Jahren seine Drehbücher. Die Filme kenne ich alle nicht, nichtmal Three billboards outside Ebbing, aber 1996 habe ich The Beauty Queen of Leenane - Die Schönheitskönigin von Leenane im Royal Court Theater in London gesehen, einen sehr poetischen, melancholischen Abend mit Inseln greller Komik, von dem ich sicher war, dass er auf Deutsch nie wirklich funktionieren würde. 

Banshees sind übrigens weibliche Geister der irischen Mythologie, die Todesfälle durch ihr lautes Weinen vorankündigen; Inisherin ist eine fiktive Insel vor der Küste Irlands. 

Der Film spielt 1923 zu Zeiten des irischen Bürgerkrieges, der durch hör- und sichtbare Explosionen auf dem gegenüberliegenden Ufer immer mal in die Welt des Films hineinschwappt. Diese Welt ist irischer als irisch, sozusagen ein irisches Konzentrat. Auch wenn man kein Englisch spricht, sollte man hier die Originalversion mit Untertiteln wählen, weil Melodie, Klang und Rhythmik der gesprochenen Sprache sehr schön sind und auch wichtig als Kontrapunkt zur Wortkargheit der Figuren und der strengen Bildsprache. Der Mann, McDonagh, kann wahrhaftig Dialoge schreiben! Knapp, täuschend einfach, oft mit Wiederholungen arbeitend, mal sehr böse witzig, mal albern, mal fulminant. In einer Kritik habe ich gelesen, dass Brendan Gleeson und Colin Farrell, sich zu Stan und Laurel des 21. Jahrhunderts entwickeln. Da ist was dran.

Über dem Film schwebt eine gewisse Sentimntalität, die umso merkwürdiger wird, je brutaler sich die menschlichen Beziehungen zuspitzen. Wäsche weht, Volkslieder werden gegeigt und gesungen, Brahms erklingt, eine Frau trägt Rot, dann Gelb, (überhaupt sind die Kostüme wunderbar genau und eigenartig,) ein Miniatur-Esel tippelt herum, die Landschaft erstreckt sich rau und grau und grün. Und in dieser malerischen Umgebung wird ein Junge mißbraucht und verprügelt, eine Freundschaft wird aufgekündigt und dieser Bruch bricht das Herz eines guten Mannes und macht es hart und kalt und der andere, ein Geigenspieler schneidet sich alle Finger seiner linken Hand mit einer Schere ab und wird nie mehr fiedeln können. 

Die zwei Gegenspieler, der eine, jede Erklärung verweigernd, oder sie wortkarg gänzlich nur sich meinend, also egoistisch,  verknappend. Der andere immmer im Kampf mit der Sprache, die ihm gerade dann entgleitet, wenn er existentiell werden will, werden muß.

Colin Farrell ist ein Schauspielwunder. Manchesmal zuvor geradezu zu gutaussehend, um ernst genommen zu werden, ist er fähig, sogar seine Physiognomie zu verwandeln, sie der Lebenswirklichkeit der darzustellenden Person anzupassen. Es ist eine Lust ihm zuzusehen.Brendan Gleeson, der Weißclown, groß, schwer, brodelnd. 

Worum geht es? Ich rätsele. Um die Absolutheit der Liebe? Kann Mensch gut sein, wenn er keine Liebe mehr erfährt? Ist Kunst und die von ihr erhoffte Unsterblichkeit des Künstlers, kostbarer als "niceness", sprich Gutsein? Was bleibt? Ein Lied das überdauert? Die Erinnerung an Güte? 

 Bild: keystone

COLM: But will I tell ya something that does last.

 

PADRAIC: What? And don’t say somethin’ stupid like music.

 

COLM: Music lasts.

 

PADRAIC: Knew it!

 

COLM: And paintings last. And poetry lasts.

 

PADRAIC: So does niceness.

 

COLM: Do you know who we remember for how nice they was in the 17th century? Who? Absolutely no one. Yet we all remember the music of the time. Everyone, to a man, knows Mozart’s name.

 

PADRAIC: Well, I don’t, so there goes that theory. And anyway, we’re talkin’ about niceness. Not whatsisname. My mammy, she was nice. I remember her. And my daddy, he was nice. I remember him. And my sister, she’s nice. I’ll remember her. Forever I’ll remember her.

 

COLM: And who else will?

 

PADRAIC: “Who else will” what?

GREIFSWALD - HEXENJAGD - ENERGIEKOSTEN

Greifswald. Wenn wir die Studenten mitzählen, hat die Stadt circa 62 000 Einwohner. Eine alte Hansestadt mit nur drei lokalen Buslinien, die in mitunter recht großen Abständen fahren. Da ist noch einiger Spielraum für Verbesserung, wollen wir dem Klimawandel trotzen.

Die Stadt hat ein seit Juni geschlossenes Theater, das in den nächsten drei Jahren saniert werden wird, obwohl bis jetzt diesbezüglich noch nicht allzuviel passiert ist. Es könnten also auch vier Jahre werden. Den bereits zugesagten Ersatz-Spielort, ein Theaterzelt, wird es, in Folge von Coronanöten und ins geradezu Unermessliche steigenden Energiekosten, nicht geben. 

Eine mögliche, die einzig mögliche, Ausweichspielstätte benötigt, um regelmäßige Vorstellungen  zu erlauben, die für den laufenden Spielbetrieb nötige Infrastruktur, wie Garderoben und Aufenthaltsräume. Die soll nun das Theater finanzieren.

Das Theater, das Theater Vorpommern, ein Verbund der Städte Stralsund, Greifswald & Putbus, muss derzeit Vieles zusätzlich finanzieren, die endlich durchgesetzten Erhöhungen der Anfängergagen auf ein akzeptables Niveau und die erhöhten Kosten von Strom und Heizung, Theater kann nun einmal nicht im Dunklen stattfinden und das im Parkett mehr oder weniger still sitzende Publikum benötigt einen halbwegs warmen Raum.

Eine befreundete Regisseurin vermutete schon vor Jahren, das die benötigten Kilowattstunden bald in den Regieverträgen vermerkt werden könnten.

Wir arbeiten jetzt an der HEXENJAGD von Arthur Miller, einem "well made play", einem "gut gebauten Stück. Ich habe das Glück mit einem erstklassigen Ensemble arbeiten zu können, fleissig, interessiert, witzig und aufmerksam füreinander. Sie hören sich zu, sie gehen offen in Wettbewerb miteinander, sie lassen nicht nach.

Zusatzinformation: im Monat Dezember, dem besten und härtesten Monat für Stadttheater, haben meine Spieler "nebenbei" viele, viele Vorstellungen des Weihnachtsmärchens gespielt, plus einer abgespeckten Weihnachtsaufführung für das momentan theaterlose Greifswald und die üblichen Vorstellungen sowieso. Ach, und sie hatten so oft Grippe und Covid, wie der Rest der Bevölkerung, vielleicht weniger, weil viele Schauspieler auch noch komatös zur Probe kriechen.

Heute war der erste Durchlauf auf der Bühne und mein schönstes Kompliment folgte, ich wurde als "fette Regisseurin" bezeichnet.


Ich tue, was ich liebe , darf tun, was ich liebe, und liebe, was ich tue.