Sonntag, 23. Oktober 2022

TRIANGLE OF SADNESS

Was habe ich da gerade gesehen? Einen gut gemachten Film, den ich letztendlich nicht wirklich mochte. Warum?

Der Titel zuerst: The triangle of sadness, das Dreieck der Traurigkeit, befindet sich in unserem Gesicht waagerecht zwischen den Brauen und dann beidseitig runter zum Beginn des Nasenrückens, ich kannte das bisher als Zornesfalten. Jedenfalls ist diese kleine dreieckige Fläche, die Einbruchstelle des drohenden Alters, das Kainszeichen der gemachten Erfahrungen, der Anfang vom Ende einer Modellkarriere, die der "Held" des Films zu Beginn als gefährdet erlebt.

"The Square" war ein anderer Film dieses Regisseurs, Ruben Östlund, den ich gesehen habe. Eine Satire über den Kunstbetrieb. Soso dachte ich, nicht sehr lustig, aber sehr absichtsvoll.

Nun zum heutigen Abend. Ich habe ein paar Mal sehr gelacht. Sunnyi Melles kotzend und das über lange Zeit und mit sich steigernder Absurdität, ist ein Spaß. Die ideologische Saufszene zwischen Woody Harrelson und Zlatko Buric, der eine als marxistischer Kapitän einer Luxusyacht und der andere als russischer Oligarch mit den Erfahrungen der sozialistischen UdSSR, der mitlerweile erfolgreich mit Düngemitteln handelt, "I deal with shit", ist überaus witzig.

Ich wurde wirklich unterhalten.

Aber. Aber. Ich merkte die Absichten und war dann irgendwie verstimmt. Nahezu jedes zeitgeistige Thema wurde angesprochen und verhandelt und die Pointen, auch die, die funktionierten, jonglierten gekonnt mit meinen, mir nicht angenehmen, aber vorhandenen, zynischen oder fatalistischen Gewissheiten. 

Aber. Aber. Wieder einmal darauf gestossen zu werden, dass in unserer gemeinsamen Welt alles, aber auch wirklich alles, unter dem Aspekt seiner Verkäuflichkeit, seines Warenwertes betrachtet und gewertet wird, ist nicht schlecht.

Rutger Bregman, ein holländischer Historiker wurde zum Wirtschaftsgipfel nach Davos eingeladen. Viele sehr reiche Menschen saßen um ihn herum und fragten, wie sie ihre Spenden, Stiftungen nützlicher machen könnten. Er antwortete ihen: „Ich höre Menschen über Teilhabe und Gerechtigkeit und Gleichheit und Transparenz reden, aber dann spricht kaum jemand über Steuerflucht – und über die Reichen, die einfach nicht ihren gerechten Teil beitragen. Es fühlt sich an, als ob ich auf einer Feuerwehrkonferenz wäre und niemand ist berechtigt, über Wasser reden.“ 

Östlund spielt mit meiner hilflosen Verzweiflung, er teilt sie und darum bin ich erst einmal angetan, aber er meint auch schlauer, wissender, drüberstehender zu sein als ich, und er kann das nicht gut genug verbergen. Er ist "to proud for his pants". Was ich als zu selbstgewiss übersetzen würde. 

Klimakatastrophe, Ukrainekrieg, Coronaepidemie, Rechtspopulismus, das Leid der sogenannten "Dritten Welt" -  keiner von uns hat irgendeine praktische Idee, wie wir alle diese, oder auch nur eines dieser Probleme lösen können, jeder von uns ist erschöpft und unglücklich, aber irgendwie hätte ich in einem Film, der sich all dies als Thema auflädt, mehr Empathie und weniger Selbstgerechtigkeit erhofft.


Mittwoch, 12. Oktober 2022

Warum ich nicht mehr TATORT gucken kann, obwohl ich es gern möchte.

Vorspann und Titelmelodie sind in unser gemeinsames Unterbewusstsein eigelagert, fast jeder große Darsteller, jede große Darstellerin hat in einem mitgespielt, Komissar*in werden ist Ehrenschlag. 

Tatort ist eine Kriminalfilm-Reihe, deren Ausstrahlung 1970 im westdeutschen Fernsehen begann. Ursprünglich als Produktion des Deutschen Fernsehens gestartet, ist sie heute eine Gemeinschaftsproduktion von ARD, ORF und SRF. Bislang erschienen über 1200 Tatort-Filme. Jeder Film erzählt in der Regel eine in sich abgeschlossene Geschichte, in der wechselnd und wiederkehrend ein Ermittler oder ein Team aus Ermittlern in einem Kriminalfall an deutschen, schweizerischen oder österreichischen, meist großstädtischen Schauplätzen ermittelt.

Ich hab es in den letzten Wochen wieder mehr als einmal probiert und bin kläglich gescheitert. Formale Spielereien, aufgebauschte Privatgeschichten, Gesellschaftskritik auf leicht verständlichem Niveau und zu früh durchschaubare Fälle. Warum nur? Whodunnit heißt es im Englischen. Wer hat's getan.

1. Die Geschichte eines guten Kriminalfilms besteht aus einem oder mehreren Verbrechen und der darauffolgenden Suche nach dem Verbrecher, den Verbrechern bzw. den Verbrecherinnen durch Polizist*innen, Detektiv*innen oder anderweitig an der Lösung interessierten Personen.

2. Verbrecher*innen, Verbrechen, Untersuchende. Auflösung. Wer war das Opfer? Wie wurde die Tat getan? Warum wurde die Tat getan? Wer hat sie getan?  Und wie wird er bzw. sie erwischt?

3. Je verzwickter und überzeugender die Motive sind, je überraschender und komplizierter der Prozess der Wahrheitsfindung ist, umso besser.

4. Wobei der Verbrecher, diee Verbrecherin erstmal nur die Person ist, die ein Verbrechen begangen hat, was noch kein Urteil über ihre Beweggründe beinhaltet. 

5. Wobei auch der oder die Untersuchende möglicherweise Täter sein kann.

SUSPENSE - SPANNUNG

Wiki sagt: Suspense (engl. für „Gespanntheit“) leitet sich von lat. suspendere („aufhängen“) ab und bedeutet so viel wie „in Unsicherheit schweben“ hinsichtlich eines befürchteten oder erhofften Ereignisses. Neben anderen Typen der dramatischen Spannung ist dem Suspense die meiste Aufmerksamkeit zuteil geworden, weil er die Spannungserzeugung „mit den geringsten“ Mitteln ist und weil Suspense als intensivstes Mittel der Spannungserzeugung gilt. 

6. Entweder will ich unbedingt wissen wer es war, oder wie es gemacht wurde oder warum es gemacht wurde, oder der Weg oder die Umwege der Aufklärung erzeugen die Spannung.

7. Der/Die nach der Lösung Suchenden, können persönliche Probleme haben, die, sollten aber von Interesse in Bezug auf den Kriminalfall sein, Fehler in der Untersuchung auslösen, Vorurteile oder Voreiligkeit bestärken und ähnliches, zum Beispiel, die Depressionen eines Ermittlers, einer Ermittlerin sollten die Ermittlung verändern oder sind letztendlich überflüssig.

8. Verbrecher*innen und Verbrechensjäger*innen sollten interessante Charaktere sein, aber nicht interessanter als ihre Taten, bzw. die Ermittlungen. 

9. Miss Marple, Hercule Poirot, Inspektor Maigret, Adam Dalgliesh, Sherlock Holmes, Philipp Marlowe, Lord Peter Wimsey, Columbo, Dr. Temperance “Bones” Brennan, Inspektor Jury, Perry Mason, Dave Robicheaux, Harry Bosch, Bobby Goren, Inspector Alan Grant, Lennie Briscoe und und und. Warum sind sie anders als Tatortkomissare? 

10. Eine soziale, bzw. politische Komponente kann anfallen, muß aber Teil des Kriminalfalls sein und ihn nicht ersticken oder gar ersetzen.

Die meisten TATORTE sind langweilig, finde ich, weil sie sich nicht für ihr eigenes Genre interessieren.


Dienstag, 11. Oktober 2022

Patientenimpressionen 5

Die Operation ist jetzt 14 Wochen her und ich laufe seit vier Wochen ohne Krücken, steige Treppen, manchmal flotter, manchmal nicht so sehr, gehe zur Heilgymnastik und treibe dort Sport, bin ein braver Patient, freue mich meiner nicht-mehr-schmerzenden Hüfte. Dafür piekst oder zieht es jeden Tag woanders. Verschiedenste Muskelkater, Hilferufe lang unbenutzter Sehnen, was auch immer, eine nicht vorhersehbare Wundertüte, ist interessant wieviele Körpereinzelteile es mir ermöglichen, mich überhaupt zu bewegen.

Mein linkes Bein verhält sich mehr als vorbildlich, meckert nicht und kommentiert viele Jahre der Überbelastung nur mit gelegentlichem Knieknacken. Mein rechtes Bein, das operierte, ist wie ein Kind, das plötzlich, auf die Schnelle, zu viele neue, bzw. vergessene Dinge lernen soll, aber es gibt sich wirklich Mühe. Hey, zehn Jahre Schonhaltung hinterlassen natürlich eine tiefe Spur.

Kürzlich habe ich den Trainingsraum mit einer gleichaltrigen, viel dünneren und ebenso durchtrainierteren Dame geteilt, kein schöner Anblick. So viel Ernst, Mangel an Vergnügen und Körperfeindlichkeit kann nicht wirklich zur Gesundung beitragen.

Es war ein Abenteuer, sie haben mir einen Knochen abgesägt, steckten ein künstliches Ding in mich und machten mich wieder ganz. Der Vorgang ist absurd und wunderbar und ganz und gar ein Ding der modernen Wissenschaft, die ich liebe, den sonst würde meine Hüfte immer noch schmerzen. Ja, vielleicht kein Spagat mehr, aber ich habe mir heute selber, ohne Hilfe, die Zehennägel geschnitten!

Jetzt gehe ich zur IRENA. Intensiver Rehabilitationsnachbehandlung. 

Drei Jahre bis ich wieder im Normalzustand bin. Ein halbes bis es mir nicht mehr wirklich auffällt.

Ich werde 67 Jahre alt sein, wenn nichts dazwischen kommt, wenn ich wieder auf dem alten Stand bin. 

Aber bis dahin bin ich schmerzfrei.

 


Dienstag, 30. August 2022

Winnetou, Shakespeare und die Autobiographie der Mary Prince

Nicht alles ist geich. Und es ginge uns vielleicht besser, wenn wir das nicht so leicht vergäßen.

Nein, nicht alle Karl May Bücher werden nicht mehr verkauft, sondern nur die, die zu den jüngst erschienen Filmen geschrieben wurden. Karl May - ich habe nur Winnetou 1 bis 3 gelesen und habe "Blauvogel" von Anna Müller-Tannewitz immer mehr gemocht. Der eine träumte eurozentriert den Traum vom guten "Wilden", die andere überschrieb indigene Geschichte mit naiven urkommunistischen Wunschträumen. Goiko Mitič und Pierre Brice, meine kleine Schwester hat mich gezwungen, Osceola u.a. mehrmals im Kino Camera anzuschauen, der andere, westliche ist an mir vorbeigegangen. Aber Rolf Hoppe habe ich noch im Gedächtnis, der seinen in wilder Wut zerstampften Hut, sorgsam wieder in Form bringt. Und das Renate Blume mit Goiko und Dean Reed zusammen war, den zwei Exoten in der, bis auf vietnamesische Gastarbeiter und Studenten aus afrikanischen "Brüderstaaten", mit nicht ddrischen Mitbürgern nicht gerade gesegneten deutschen Republik. Den ersten indigenen Mitbürger, einen Kanadier, habe ich vor zwei Jahren kennengelernt und von ihm, ganz real, viel gelernt. Das eine mit dem anderen habe ich auch vorher nicht verwechselt. Der Antagonismus zwischen der Träumerei und der Realität des Kolonialismus. Die Körper tausender toter indigener Kinder in Kanada, die sich unter der "Aufsicht" religiöser Schulen befanden, sind ein grauenhaftes Testament der Verachtung und Vernichtung des angeblich "Fremden".

Shakespeare ist voller Gewalt und unangenehmer Überraschungen, genauso wie das Leben. Und keine Triggerwarnung schützt uns vor dieser Welt und dem Leben. Aber nun wünschen sich junge Menschen, dass sie vor dem Gefühl des Unwohlseins beim Lesen seiner Werke geschützt werden. "Der Sommernachtstraum" zeigt Szenen von Klassismus, Titus Andronicus" ist zu brutal, Vergewaltigung, Verstümmelung und dann ist der Bösewicht ist auch noch schwarz. Liebe Mitbürger, wie meine Mutter sagen würde, tough shit, große Literatur erzählt nur, was das Leben zu bieten hat, und das ist nicht immer schön. Früher oder schlimmsten Falls später werdet ihr merken, dass das das Leben keine Triggerwarnungen ausgibt. Euer Herz wird gebrochen werden, ihr werdet verraten werden, euch wird Leid angetan. Da müßt ihr durch.

ABER, ABER.

Die Autobiographie der Mary Prince ist an einigen Universitäten der USA nicht mehr Pflichtlektüre, weil sie die Sklaverei "zu brutal" schildert. Sie bescheibt ihr Leben. Das was ihr angetan wurde. Und hier hört mein Sinn für Humor auf. Sklaverei ist menschenverachtend und gewinngierig, kein Argument kann sie verteidigen. Unvorstellbar, dass ein Mensch einem anderen "gehören" soll, dass er ihn verkaufen, gar töten kann, und es ist sein Recht. Und darüber wollt ihr nichts  hören, weil es zu hart, zu unangenehm ist? Weil ihr euch dabei unwohl fühlt? Wie wollt ihr eine Welt erschaffen, die besser ist als die jetzige, wenn ihr die Schrecklichkeiten dieser Welt nicht kennen wollt?




Samstag, 27. August 2022

Patientenimpressionen 4

Es sind jetzt sieben Wochen seitdem mir eine Konstruktion aus Titan und Kunststoff in den Körper implantiert wurden - auf dem Röntgenbild sieht es toll aus, elegant, wie ein leicht gebogenes Attentätermesser, dass in meinem Oberschenkelknochen steckt. Ich spüre es nicht. Es piekt hier und es piekt da, aber nicht dort. Und ich muß Sport machen, etwas, dass ich seit Ewigkeiten nicht mehr konnte und, ehrlicherweise, auch nicht richtig wollte. Sport ist langweilig. Aer jetzt muss er sein. Täglich. Das atrophierte Bein, wegen der Schmerzen geschont seit Jahren, muss wieder fit werden. What the fuck. Also habe ich jetzt ein Theraband und einen Gymnastikball und mein 40 Jahre altes Ketteler Standfahrrad wird endlich entsprechend genutzt. 

Trotzdem merkwürdig, wie ich in meinen Körper hineinhorche. Ein Schmerz da, was bedeutet der? ein Schmerz dort, ist der schlimm? Ich bin ängstlich, eine Gefühlslage, die ich nicht mag. Mißtrauen dem eigenen Körper gegenüber ist nicht förderlich.

GEDULD, nicht eine meiner größten Qualitäten, ist notwendig. Ein Jahr dauert es, bis man nix mehr merkt. Ein Jahr sind circa 52 Wochen. Sieben sind es jetzt. 



Patientenimpressionen 3

Meine erste Operation am 4. Juli, drei Wochen zu Hause, die Reha drei Wochen später - eine Reise. Meine erste Op, drei Wochen allein zu Haus mit Krücken, dann meine erste Reha. Ein Abenteuer.

"Gutmütigst", ein Wort, habe ich gerade zum ersten Mal gehört ( Das Wort wurde der Deutlichkeit wegen wiederholt! ) und ich hoffe, es nie wieder hören zu müssen. 

Die gemeinte "Gutmütigste" ist die Rentenkasse oder die Rehabilitationsklinik, die mir aus "Gutmütigskeit" mehr Behandlungsminuten zugesteht, als mir den bürokratischen Regeln nach zustehen würden.

Die Rehabilitationsklinik - Medical Park Humboldtmühle - ist eigentlich toll. Die Zimmer geräumig und genau richtig karg möbliert, immerhin müssen hier auch Rollstuhlfahrer zurechtkommen, das Bad perfekt, die Physiotherapeut*innen, Masseur*innen, Trainer*innen, Kellner*innen und Rezeptionist*innen zu 99 Prozent freundlich und kompetent, das Essen durchaus akzeptabel. Ich kann meine Fortschritte täglich spüren und bin heiterster Stimmung. 

Aber als ich, zum vierten Mal, nun mehr nachdrücklich, wegen zu viel ungenützter Zeit, um mehr Trainingseinheiten bitte, geschieht mir eine Begegnung der dritten Art: Ein Arzt mittleren Alters um die Lippen ein allwissendes Lächeln, das überdeutlich impliziert, ich kann die Kompliziertheit der Situation unmöglich vollumfänglich begreifen, steht vor mir und er "mansplained" auf mich herab. (Mansplaining: jemandem etwas auf eine als herablassend oder bevormundend empfundene Weise erklären, typischerweise ein Mann gegenüber einer Frau, so nennt es Wiki.) Hey, er ist 50, ich über 60, wir sind beide berufstätig, nur bin ich momentan in seinem Machtbereich. Zitat: "Manchen Patienten kann man es einfach nicht Recht machen." ARSCHLOCH. Seit ich raus aus der Schule bin, habe ich, erst im Osten, dann im Westen ganz brav Rentenbeiträge eingezahlt und der Kerl offeriert mir meine Therapie als "Geschenk", das mir die Rentenversicherung in ihrer unendlichen Güte zukommen läßt. Ein unangenehmes Zusammentreffen. Ich habe übrigens erstaunlicherweise nicht die Beherrschung verloren, sondern bin einfach gegangen und habe dann mehr Trainingseinheiten bekommen. Wäre ich um einiges älter oder weniger aufmüpfig, wie wäre das gelaufen?

Demut ist ein Wort, das mir jetzt öfters durchs Hirn schießt. Demut, sagt Wiki, ist die in die Einsicht in die Notwendigkeit und den Willen zum Hinnehmen der Gegebenheiten begründete Ergebenheit. Klingt edel, aber meint, glaube ich, auch die Einsicht, dass es mir im Vergleich zu vielen anderen Menschen verflixt gut geht. Drei Wochen in einem Haus mit Menschen, deren Leiden und Krankheiten, meine Hüfte zu einer Harmlosigkeit machen. Mir wird es wahrscheinlich in einigen Wochen richtig gut gehen, ihnen nicht. Also rege ich mich ab und versuche, demütig zu sein.


Freitag, 22. Juli 2022

Patientenimpressionen 2

Drei Wochen zuhause bis zur Reha meine zwei roten Krücken und ich. Neue Bewegungsabläufe, neue Langsamkeit, neue Bedachtsamkeit, immer eins nach dem anderen, alles durchgeplant und in realisierbare Einzelaktionen aufgeteilt. Dazu die ständige Innenbeobachtung, wo tut was weh und warum, ist es die Hüfte, bitte nur die nicht, nein, es ist nur die Narbe oder einer der vielen Muskeln, die Neues lernen müssen. 

Bisher hatte ich keine Ahnung was meine Lymphen überhaupt so machen, jetzt lerne ich sie kennen, Knie dick, Wade dick, Fuß dick und alle 15 Minuten pullern, Brennnesseltee (Drei "n"!), Lymphdrainage, Kneippgüsse - ich werde zu einer Ansammlung von Heilbehandlungen. 

Da laufe ich 63 Jahre durch die Gegend und mein freundlicher Körper macht was ich will, macht mit, was ich ihm auferlege, antue und plötzlich sagt eben dieser Körper, jetzt bin ich dran, kümmere dich um mich. Er hat jedes Recht dazu, trotzdem hat er mich mit seinen Forderungen überrascht. 

Die Regeln, nicht die Beine übereinanderschlagen, nicht das operierte Bein nach außen drehen, zwischen Oberkörper und Bein muß stets ein Winkel von mindestens 90 Grad bleiben, das ist wie Tanzen mit strengen Vorgaben. Ich stelle fest, dass ich versuche innerhalb dieser Einschränkungen eine gewisse Eleganz zu erreichen, die sich sofort in Luft auflöst, wenn mir was runterfällt. Dann hilft nur noch meine schicke Greifzange oder, wenn die es nicht schafft, warte ich auf den nächsten Besuch, der aufhebt, was ich fallen gelassen habe. Was habe ich für liebenswürdige Freunde! 

Oder, der Weg von mir zur Physio ist kurz, vielleicht normalerweise 1500 Schritte, in etwa 10 Minuten, bestückt mit Krücken zu Beginn 30, jetzt 20 Minuten und ich bin stolz wie ein Marathonläufer, wenn ich wieder daheim bin -und - ich schaue viel mehr als sonst auf den Boden, damit die Krücken nicht in Löcher stockern. 

Soviel Selbstbetrachtung, -beschäftigung, obwohl unbedingt nötig, wirkt trotzdem irgendwie egozentrisch auf mich, arbeiten geht nicht, Intelligentes lesen auch nicht, nur gesund werden ist die Aufgabe.

Dienstag, 19. Juli 2022

Patientenimpressionen 1

Ich humple schon seit langem und als jetzt das andere, das gesunde linke Bein, angefangen hat, sich wegen Überlastung zu beschweren, mußte ich, wohl oder übel, ins Krankenhaus. Meine erste Operation!

"Ein Streifen verrutscht. Halb so schlimm", sagt Dr. Walterfrosch. "kleine Operation, Tiger geheilt." Eine Operation ist, wenn der kleine Tiger eine wohltuende Spritze bekommt, dann schläft und einen schönen blauen Traum hat. Wacht auf, Operation vorbei, Tiger geheilt. Wohltuende kleine Spritze, blauer Traum, Operation vorbei, nix gemerkt, total komplett gesund geheilt. (Janosch)

Die Präparation: Verrückt, Menschen schneiden in Dein Fleisch, sägen ein Stück Knochen ab, stecken eine Konstruktion aus Titan und Kunststoff in dich und nähen dann das Ganze wieder zu. Vorher wurdest du geröntgt, kernspintomographiert, elektrokardiogrammt und sonst noch so Einiges. Du humpelst von Labor zu Labor, sitzt, wartest, siehst andere Kranke und viel Kränkere (Den Anblick von sehr alten Menschen, die in Krankenhausgängen auf Tragen liegen, finde ich entsetzlich traurig.) und du phantasierst dir mögliche imaginäre Schrecklichkeiten zusammen. Natürlich hast du dich vorher informiert, gegoogelt, (Sollte man nur in Maßen tun!) Freunde und Bekannte befragt, aber ... mein Hirn hat einen perversen Spaß daran, sich auszumalen, was alles schief gehen könnte.

Damit sie nicht das falsche Bein aufschneiden!  
 

Die Operation: Nüchtern bleiben (in neuer Bedeutung), "rückenfreies" Nachthemd anziehen, auf einer Trage herumgeschoben werden durch lange, leicht abgeschrammte Gänge vollgestellt mit hochmoderner Technik, der Anästhesist sagt Hallo, der Lagerungsassistent wechselt Nettigkeiten, der Operateur wischt vorbei, Spritze, schlafen, kein Traum.

Die Nachsorge: Wach werden, Aua, Schmerzmittel, schlafen, dämmern, pullern auf einem Schieber (unbequemer, demütigender Horror), Pappstulle mit Pappkäse und Pappbierschinken. Schlafen. Tag 2 aufstehen, selbstständig pinkeln, die Hüfte hält, das Pappessen wiederholt sich. Tag 3 den Flur runter und rauf an Krücken (Meine sind rot, habe ich mir zur Stimmungsaufhellung gekauft.)  schreiten, die Hüfte hält und die Schwestern sind zum überwiegenden Teil sehr lieb, auch unter Stress, die Pappe bleibt Pappe, sogar Schafskäse kann wie Pappe schmecken. Am Tag 4 ich darf runter in den Hof rauchen. Vor einem übergroßen Rauchverbotsschild versammeln sich Kranke und Pfleger und paffen um die Wette. Einer hat zwei gebrochene Arme, ein anderer trägt drei Fläschchen mit verschieden farbigen Flüssigkeiten, die aus ihm herauslaufen, mit sich herum, Rollstühle, Gehhilfen, Krücken, alles vertreten. Wie vorm Späti, nur ohne Bier. Man kommt schnell ins Gespräch, ich sehe ein Video, auf dem Leute mit Baseballschlägern auf einen Mann einprügeln, es ist der mit den eingegipsten Armen. Keiner hat ihm geholfen, als er blutend auf dem Bürgersteig lag, bis auf eine ältere türkische Frau, die ihr Kopftuch abnahm und damit seine Vene abgebunden hat. Er nennt sie jetzt "Mama". Was mag die Vorgeschichte sein.

Wie unterstützend, schützend und tröstend Freundschaften sind, wird einem wohl nie deutlicher, als zu solcher Zeit, wenn man eingeschränkt und rekonvaleszent auf Zuspruch und Hilfe angewiesen ist, ein Kokon von Wärme, Snacks, Aufmunterung und blöden Witzen.

Bis heute tut immer mal was anderes mehr oder weniger weh, aber nicht die neue Hüfte. Wünscht mir Glück!

 


 

Mittwoch, 15. Juni 2022

Beerdigungen

Mit zunehmendem Alter nehme ich häufiger an Beerdigungen teil, immer klarer wissend, dass die letzte dieser Zeremonien, meine eigene sein wird

Als mein allerliebste Großmutter starb war ich 12 und ihr Begräbnis war hauptsächlich ein dienstliches Zusammentreffen von egozentrischen Selbstdarstellern. Es wurde viel gelacht. Der Mann, der ihre Totenrede hielt, verwendete das Pronomen "ich" 57 Mal. Ich habe mitgezählt. Die Stasi machte derweil sinnlose Photos der vor dem Friedhof geparkten Autos. Ich habe sie, mein wunderbare olle Großmutter sehr, sehr geliebt.

Als ich 17 Jahre alt war, hat sich ein guter Freund umgebracht. Für uns Teenager damals völlig unbegreiflich und unfassbar. Wir hatten nichts vorausgesehen. fühlten uns vage schuldig.

Mit Mitte 20 starb ein mir lieber Mensch an Aids, ein wunderschöner, begabter, liebenswürdiger. Sein Lebenspartner besuchte mich und zündete mir aus alter Gewohnheit eine Zigarette an, dass ich sie nahm und rauchte berührte ihn. Wie sehr traurig.

50 Jahre alt war ich, als meine beste Freundin starb. Sie war 6 Jahre jünger als ich, lebenslustig, eine wild begabte, schlaue, lustige, gefühlvolle Frau, ein sexy Mädchen und ein herrlicher Mensch. Der letzte Satz, den sie zu mir gesagt hat, schon schwach und zerbrechlich, doch mich fest beim Kragen packend, waren: "Wag es nicht, nicht gern zu leben."

Mittlerweile sind es so viele mehr geworden. Immer die Kapelle, die Blumen, die Musikauswahl meist den Wünschen des Verstorbenen folgend, der Gang zum Grab, die Blumenblätter und der Sand, ein Ritual, eine Abwesenheit. Der Dorotheenstädtische Friedhof ist so etwas wie mein persönlicher Treffpunkt für Abschiede.

Mein Opa Walter, seine Frau, eine weitere Großmutter, mein Vater, meine Mutter, geliebte Kollegen, entfernte Verwandte - keiner lebt mehr, der mich als Kind kannte, ich bin eine der Alten. Seltsam.

Als mein Vater begraben wurde habe ich es geschafft die vier Zeilen seines Gedichtes aufzusagen.

Meinetwegen auch mit Schmerzen
meinetwegen auch mit Wut
sterben nicht nur mit dem Herzen
sterben so, als sei es gut.

Beim Begräbnis von Klaus Piontek, dem feinen, gebildeten, herzensguten, habe ich bei Strophe zwei von Mathias Claudius Gedicht "Der Mond ist aufgegangen" heulend aufgegeben.

Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar;
der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.

Bei der Totenfeier für Dieter Mann, meines guten Intendanten, habe ich alle vier Strophen geschafft.

So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder!
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon' uns Gott mit Strafen,
Und laß uns ruhig schlafen,
Und unsern kranken Nachbar auch!

Katharina Thalbach hat liebenswürdigerweise, für mich beim Totengang meiner Mutter ihr Lieblingsgedicht gesprochen, ich konnte es nicht.

Der letzte Wellenreiter
Einer schöneren Zeit
Mir ward warm wo es schneit
Die mich lieben
Sind mir lang geblieben
Und auch so kleine Sorgen
Sind immer wieder – morgen
Die Kriege die die Welt zerfraßen
Haben mich und Meine in Ruh gelassen
Das Essen schön
Die Betten warm
Die Kinder kamen nicht zu Harm
Die Kindheit von Vater und Mutter umgeben
Mein Mann der liebt mich sein ganzes Leben
Und eigentlich froh und heiter
Ich bin der Wellenreiter
Zwischen Himmel und Hai
Kam ich halb sorglos
Am Schlimmsten vorbei.


Lasst uns, die, die wir lieben, gut behandeln, bevor wir begraben werden.









Sonntag, 5. Juni 2022

Freundlichkeit im Angesicht des Krieges

Wir alle, und ich weiß, dass ich zu diesem "wir" gehöre, kritisieren, schimpfen, meckern gern und ausgiebig. Wir brüllen unentwegt empört unsere Wahrheit in die mediale Welt. 

Warum begreift keiner, was wir so klar sehen?

Früher war es besser. Oder wenn es schlimm war, dann war es nur der damaligen Zeit und Situation geschuldet. So schlimm wie jetzt war es noch nie. 

Und (fast) keiner begreift das außer uns. Warum nur?

Bald wird die Welt untergehen. Die Menschen werden immer dümmer und böser. Die da oben, die Politiker, die Medien, die Trill-, Bill-, Millionäre machen alles kaputt, weil sie gierig, zynisch, korrupt sind. Die da unten sind blind, korrumpiert, verblendet oder von Qanon oder ähnlichem  gehirngewaschen. 

Warum begreift (fast) keiner, was "wir" klar sehen?

Klimakatastrophenleugnung, Coronaepidemie und Ukrainekrieg - Inflation, Hungersnöte, Trumpismus, Fundamentalismus, Populismus, Antisemitismus, Rassismus, Incels, Wokeness, Frauenfeindlichkeit. 

"Wir" sind frei davon, warum all die anderen nicht?

Seit drei Wochen laufe ich mit einer Krücke und erlebe eine andere Realität, eine, wo mir Menschen Hilfe anbieten, ungefragt, höflich und durchaus ernsthaft. Ich bin eine ältere Frau mit Gehhilfe, nix weltbewegendes, nur ein Detail, eine Kleinigkeit, eine mich beglückende Erfahrung.

Ich befürchte, hoffe, meine, unsere selbstgewisse Weltuntergangsgewissheit ist möglicherweise nur unserer, meiner Empathiefaulheit geschuldet. Denn wenn wir, ich, die Anderen so ernst nehmen würden, wie wir uns, ich mich selbst, dann müssten wir, müsste ich, Zweifel einräumen, Grautöne akzeptieren, unangenehme Fragen zulassen.

Es ist ungemein schön, sich, mich im Recht zu fühlen. Ich bin schlau, habe den Durchblick, weiß was läuft. Im Recht zu sein kostet mich allerdings auch nichts.  

Dieser bequeme Salonkommunismus, dieser Pazifismus ohne Achtung der Opfer, dieses Ich-bin-auf jeden Fall-besser-als-ihr-Denken, es kotzt mich an.

Momentan versucht keiner mich zu töten. Keiner bedroht mein Haus, mein Heim, meine Liebsten, meine Existenz.

Den Mund halten. Einatmen. Ausatmen. Einfühlen. Nachfühlen. Nachdenken. Nochmal nachdenken.