Samstag, 2. Januar 2021

DRUK - DER RAUSCH - ANOTHER ROUND

Ehrlich gesagt würde ich Mads Mikkelsen mit Freuden dabei zusehen, wie er Gebrauchsanweisungen einliest, aber das war hier nicht nötig.

Thomas Vinterberg hat mit Mads Mikkelsen einen Film erträumt. Über Jahre, über Schicksalsschläge, Vinterbergs Tochter starb in der Drehzeit.

Vier Männer mittleren Alters, Lehrer, erschöpft, stumpf, unfroh - es geht ihnen so halbwegs und über verpasste Sehnsüchte zu reden, ist nicht ihre Art. 

Anläßlich eines Geburtstages wirft einer der Freunde die obskure Idee eines dänischen Philosophen in die Runde: dem Menschen fehlt ein alkoholischer Grundanteil im Blut, 0,5 Prozent sind nötig, damit er glücklich, wirklich lebendig sein könnte. 

Ein Experiment wird beschlossen. 

Wenn M. M. den ersten Alkohol trinkt, werden seine Augen feucht. Die Stärke des Alkohols? Das Erwachen der Angst?

Zuerst das Glück, zwei Shots Wodka und der Unterricht vor gelangweilten Studenten verlebendigt sich.

Der Alkoholpegel wird nicht eingehalten, kann nicht eingehalten werden, die Auswüchse sind unvermeidlich und übel.

Einer versackt im Alkoholismus und tötet sich. Die andren beenden das Experiment auf unterschiedliche Art.

SPOILER ALERT! 

Aber dann das eigentliche Wunder, es gibt ein, nur in einem dänischen Film mögliches Happy End. Die letzte Szene, Mads Mikkelsen, dessen Filmfigur seinen besten Freund verloren hat und der, möglicherweise, seine Frau zurückgewinnt, tanzt, er tanzt inmitten einer Menge von jungen Leuten, die gerade ihren Schulabschluss feiern, er tanzt, In der Anerkennung des Moments, in Akzeptanz des Alterns, im Moment. Er lebt.

Bereue nicht, was nicht zu ändern ist, erwarte nicht, was Du nicht lenken kannst, lebe. Lebe jetzt. Genau in diesem einem, nicht wiederholbarem Moment.

https://www.youtube.com/watch?v=-ZAomL6VhR4 



Freitag, 25. Dezember 2020

DAS C-WORT VIIDCLIII - DAS KIND

Ich, die ich an keinen Gott glaube, finde es seltsam anrührend, dass wir jedes Jahr die Geburt eines Kindes feiern. Es gibt keinen besseren Anlass, oder?

Es wurden Menschen verbrannt, weil dieses Kind vereinahmt wurde. Es wurden Kriege geführt, Völker unterdrückt, Frauen- und LGBTQrechte verweigert, Juden gehasst und getötet, Kinder mißbraucht im Namen dieses Kindes. 

Ein Kind, a priori unschuldig, hat das Pech in das Zentrum einer gigantische Propagandamaschine zu geraten. Paulus und Augustinus, die frühen und späteren Päpste, Inquisitoren, Hexenjäger, Evangelikale und Trump mit der ungelesenen Bibel beim Phototermin, alle grabschen sie brutal an dem zarten Baby herum. Jahrhundertelanger Kindesmißbrauch der übelsten Art.

Nehmen wir an, dass die Geburt wie beschrieben stattgefunden hat: Ein zutiefst verunsicherter Mann, eine erschöpfte schwangere Frau, ein Transport-Esel, kein Platz in der Herberge, anstattdessen ein Stall, der Ochse, verwirrte Hirten und drei fremdländische Astrologen mit absurden Geschenken, nicht zu vergessen ein ungeheuerlicher Kindermord kurz zuvor und dann als Höhepunkt ein einzelner Stern. Engel sind dekorierendes Zierrat.

Im Jemen, in Syrien, in Kurdistan, in Nigeria, in Ländern aller Kontinente werden Kinder geboren, unter Umständen, die ich niemals nachvollziehen können werde. 

"... Ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen ein Wohlgefallen." 

Ein Kind wird geboren, in Windeln gewickelt, wehrloser geht nicht. Es kann nicht weglaufen, lächelt um versorgt zu werden und wir machen daraus eine mörderisch moralische Totschlag-Keule. 

Eine gänzlich irre Frau betet für Trump, als er sei der Erlöser, das Kind weint

Das Kind bleibt ein Kind. Aber wer erinnert sich noch daran? War das Kind weiß? War es braun? Uta Ranke-Heinemann hat behauptet, dass unser Verhältnis zur jüdischen Religion ein anderes wäre, wenn Jesus keinen Lendenschurz tragen würde, und wir alle sähen, dass er, als Jude, beschnitten sei.

Laßt uns Kinder lieben. Farbenblind, unterschiedslos, ohne Eigeninteresse, einfach weil sie unschuldig sind.

                                                    Guido Reni Die Beschneidung Jesus


Samstag, 5. Dezember 2020

DAS C-WORT XXXI - DIES & DAS

Vorgestern, am frühen Abend, stockduster zu dieser Jahreszeit, laufe ich an der Berliner Staatsoper vorbei, viele Räume sind beleuchtet., einzelne Musiker üben, in einem Zimmer sogar zwei in weitem Abstand voneinander. Ein trauriger Anblick.

Ich laufe die Auguststrasse entlang und sehe eine Menschentraube, dort werden Schnelltests angeboten. In Besitz der Corona-App, weiche ich instinktiv weit aus,

Ich wünschte Restaurants dürften draussen Stühle aufstellen und auch die klimaschädlichen Heizpilze. Jetzt sehe ich Leute Glühwein trinken an Müllcontainern, Mittagspausen-Pizza essen auf dem Bordstein sitzend, jede verfügbare Bank ist besetzt mit kauenden Bürgern. Lebensqualität ist ein nicht zu unterschätzender Wert. Frische Luft plus Abstand sollen doch halbwegs sicher sein?

Mein bester Einkauf der letzten Zeit? Mein Corona-Mantel, ein Schlafsack in Mantelform, in ihm kann ich auf kaltem Stein sitzen und heißen Kaffee trinken, rauchen und quatschen.

Wer hätte gedacht, dass ich Frischluft einmal so schätzen würde.

Rechnen wir kurz durch: die Impfung kommt, vielleicht, im Januar die erste Impfung, dann zwei Wochen Wartezeit und es folgt die zweite. Das gilt für einen Großteil der 89 Millionen Bewohner dieses Landes.

Zuerst die sehr alten Menschen, das medizinisches Personal und die Lehrer und die BVB-Mitarbeiter und die Paketboten und die Verkäufer und die Apotheker und alle Risikobelasteten, etc. und erst dann, wir vielen anderen. Und noch ist nicht erwiesen, ob wir trotzdem andere anstecken können und wie lang die Impfung wirkt.

Lets wait for september? https://www.youtube.com/watch?v=wte1uk4A5eU

Ich werde mich impfen lassen und auch brav Danke sagen. Aber wäre ich im gebärfähigen Alter, wäre ich mir vielleicht unsicherer. 

Wir haben einen harten Winter vor uns. Einen knallharten.

Theoretisch bin ich im Februar in Kanada. Aber werde ich wirklich in Kanada sein? 

Wenn wir/ich den April erreichen, ohne Covid Erkrankung und ohne Depression, dann waren wir /ich stark. Und mein Jammern ist eines auf abgesichertem Niveau.

In den Berliner Einkaufsstrassen herrscht derweil dichtes Gedrängel, shopping to survive, manche mit Maske und Abstand, aber, weiß Gott, nicht alle. 

Die Sehnsucht nach körperlicher Nähe wächst. Ich habe einen Freund spontan umarmt und wir beide erschraken. Eine Freundin trifft einen Mann, der um seine Frau trauert, umarmt ihn, um ihn zu trösten und erschrickt ebenfalls.

Maskenlose körperliche Nähe als sicheres Zeichen für Freundschaft, so einfach ist das jetzt.




Sonntag, 29. November 2020

DAS C-WORT XXX - Patience is the art of finding something else to do. - Geduld ist die Kunst etwas anderes zu finden, das man tun kann.

Der heutige Titel habe ich von Groucho Marx gestohlen, einem meiner Helden, dem Großmeister der One-liner - die Wahrheit im bunten Kostüm des Absurden. 

Heute sind wir einmal um den Schlachtensee gelaufen. Acht Kilometer, sagt die Health-App auf meinem iPhone.

Wieder ein neues Stück Berlin für mich gefunden. Man, war ich Mitte zentriert. Wenn ich in einem Stadtteil keinen kannte, da kein Theater war oder ein besonderes Kino, dann bin ich da eben nicht hin. Berlin-Mitte ist ein eitles Dorf, wir reisen in alle Welt, aber nach Zehlendorf oder Schöneberg fahren wir nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Was ist unvermeidbar? Kostbare Termine in Bürgerämtern, die freie Termine haben, für mich bisher in der Heerstrasse und irgendwo an der Außenkante von Spandau und gerade jetzt, Spaziergänge um Seen, durch Parks und Wohnviertel.

Corona macht's möglich, Britz, Marzahn, Neu-Kölln, und, und jetzt Schlachtensee, die blinden Flecken meines Berlinerseins, bekommen reale Gestalt. 

Diese harschen brandenburgischen Seen, drumherum am Rand Mischwald und dann als Mittelpracht die preussische Kiefer, Enten aller Art, Haubentaucher, Reiher und Schwäne. Kleine Konditoreien und große Ausflugslokale, die mit Glühwein ums Überleben kämpfen.

Piperkarcka: Nu ja. Ick will nu also Schlachtenseeoder Halensee. Muss jehn un muss nachsehn, ob ick ihm treffe! Denn soll meine Wirtin heute soll warten umsonst verjeblich auf mir. Ick spring im Land-wehrkanal und versaufe.

Gerhard Hauptmann Die Ratten

Heute waren alle da, ganz Berlin und der Onkel war auch da. Kinder, Hunde und Großeltern. Essen gehen geht nicht, Sport auch nicht, ebenso Museen, Kinos, Theater. Also gehen alle, weil nix geht, spazieren. Das Gedränge fühlte sich an wie der Ku-Damm zur Vorweihnachtszeit. Gesprächsfetzen vorn und hinten sind unüberhörbar und nerven. Warum läuft der vor Dir immer ein bisschen zu langsam?

Und da, wo es Kaffee und Würstchen gab, standen alle demaskiert nah beieinander und schwatzten. Das war mir unheimlich. Ich, der begeisterte Großstädter, der ich Lärm, Dreck und Menschenmassen liebe, bin nunmehr verwandelt, verunstaltet, Distanz und Maskenschutz, nicht zu viele Leute auf einem Haufen, alles, was ich liebe, ist momentan gefährlich.

Walter Leistikow - Abendstimmung am Schlachtensee (1895)

Samstag, 28. November 2020

DAS C-WORT XXIX - Die Abende

Ich bin alleinlebend und keine große Ausgeherin, meist ist eh Abendprobe und wenn mal nicht, finde ich es herrlich entspannend, auf dem Sofa zu sitzen und zu verblöden.

2020. 

Am 1. September diesen Jahres hatte ich meine letzte Premiere, am Abend davor die letzte Abendprobe, seitdem sind meine Abende unverplant und seit dem neuen Lockdown light, sind mir auch die außerhäusigen Unterhaltungsmöglichkeiten verloren gegangen.

Ich bin auf mich selbst (zurück)geworfen. 

Tagsüber, ist das kein Problem, ich habe ein spannendes Projekt in der Recherche, gehe mit Freundinnen spazieren, verbessere meine Kochfertigkeiten, lese, telefoniere, dekoriere, flaniere, natürlich mit Maske, und weiß, dass es mir vergleichsweise ungewöhnlich gut geht.

Am Abend wird es verzwickter. Mein augenblicklich durch die Weltereignisse überfordertes Hirn, weigert sich beharrlich nach 20.00 Uhr, geistig herausfordernde Lektüre aufzunehmen, geschweige denn sie zu verarbeiten. Mein Fernseher und ich sind so notgedrungen Freunde geworden. Ja, es gibt 100 Sender und Netflix, Amazon Prime und Sky, aber auch ebenso viel üblen Schrott.

Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt jhre fahn/
Vnd führt die Sternen auff. Der Menschen müde scharen
Verlassen feld vnd werck / Wo Thier vnd Vögel waren
Trawrt jtzt die Einsamkeit. Wie ist die zeit verthan!
 

Andreas Gryphius

Wenn diese Scheißzeit vorüber ist, werde ich unentwegt Leute innig umarmen, ins Theater/Museum/Schwimmbad gehen, Partys veranstalten, in Restaurants schlemmen, in Bars hocken und Jazz live erleben. 

Oder? Corona erwischt mich. Oder? Ich werde depressiv. Oder? Keine Ahnung.
"Life is what happens to you while you're busy making other plans”. John Lennon

"Leben ist, was Dir passiert, während Du damit beschäftigt bist, andere Pläne zu machen."












Sonntag, 22. November 2020

DAs C-WORT XXVIII - Dummbatzen, Egoisten und welche, die nicht zu Ende denken, auch wenn sie es gut meinen.

Anne Frank & Sophie Scholl - kein Vergleich scheint nunmehr zu hanebüchen, keiner zu schamlos. 

In Halle setzt ein Nazi den Lockdown mit dem, was Anne Frank durchleben und letztendlich durchsterben mußte, gleich. Auf einer anderen Demo vergleicht ein von den Eltern geschultes Kind, seine durch Corona eingeschränkte Geburtstagsfeier mit Anne Franks Schicksal. Auf noch einer anderen Demo erklärt sich eine junge Frau zur Leidensgenossin von Sophie Scholl, da auch sie unter großer Gefahr für die Freiheit kämpfe. Ein entnervter Ordner benennt die Unverschämtheit ihres Vergleiches und sie verläßt, vermutlich gekränkt weinend, die Rednertribüne. 

"Wir sind das Volk", das stimmt und stimmt keineswegs. Da reissen sich, tief in ihrer kleinbürgerlichen Ehre gekränkt, verängstigte, feige Mitbürger die aufregenden, ambivalenten Ereignisse von 1989 unter den Nagel und machen sie zu Dreck.

Seit der Noch-Präsident der USA den bisher für uns, die gesegnete "Erste" Welt, geltenden demokratischen Gesellschaftsvertrag aufgekündigt hat, breitet sich eine Infektion, die nicht von biologischen Viren verbreitet wird, pandemisch aus.  

Mein Lieblings-Rabbiner, Jeschajahu Leibowitz, hat einmal gesagt, dass das einzig Gute an der Demokratie sei, dass man nach Ablauf der Wahlperiode jemand anderen wählen kann. 

"I won the vote." Und wenn er es nur oft genug wiederholt, wird es zur Wahrheit, zu dem was 70 000 000 - in Worten 70 Millionen - amerikanische Bürger als wahr ansehen könnten. Ubu Roi wird übertroffen.

"Wir sind das Volk." Sind sie es? Wer bin ich? 

Anti-Rassisten verweigern die Solidarität mit Bekämpfern des Antisemitismus, Juden lieben Trump, weil er Friedensverträge mit arabischen Staaten ermöglicht hat (Hat er?), LGBTQ gegen Cis-Weisse, Genderbewegte gegen Sprach-Traditionalisten, jeder gegen jeden, zu einem Zeitpunkt wo nichts wichtiger wäre als Solidarität.

Ich bin ratlos und trage meine Maske und halte Abstand und kotze in meine Ellenbogenbeuge.

Freitag, 30. Oktober 2020

Volker Pfüller - Ein guter Mann

 

IM NEUEN JAHR MUSST DU MIT ALLEM RECHNEN!

Ich war also gewarnt, aber lag trotzdem falsch. 

1978, Alexander Lang inszeniert "Miss Sara Sampson" von Gotthold Ephraim Lessing, das zentrale Trio: Gudrun Ritter, Katja Paryla und Christian Grashoff. Ich, zwanzigjährig, spiele meine erste wirkliche Rolle, die Tochter der Marwood, Arabella, sitze in Volkers Bühne, in dem von ihm entworfenen Kostüm und bin gänzlich ahnungslos, überwältigt in Liebe - zum Theater. 

1981, wieder Alex, wieder Volker, diesmal Büchners "Dantons Tod", im schönsten Kostüm meines Lebens, in einem roten Raum schwebe ich im weißen Empirekleid, ein totgeweihter Engel, weiß geschminkt umschattet von Rot, Ahnung der drohenden, kommenden Brände. Volker hat es mir so sehr leichter gemacht.

Volker, ein gutaussehender Riese von einem Kerl, stabil und warm, idealer Kontrapunkt zu Alexanders schlacksiger Intensität. Immer unangestrengt elegant gekleidet, was schon an sich eine Sensation war in unserer höchst unkleidsamen DDR. 

Er war unser Ruhepunkt.

"Ich habe Theater eigentlich gemacht, weil ich gerne Theater gemacht habe." V.P.

1986, Stella, immer weint eine von uns Frauen, Volker beruhigt, Alex verrät uns nicht, dass wir das Satyrspiel zu Medea sind, das Lachen des Premierenpublikums ist ein Schock. Aber unsere Kostüme, Kleider überlegt mit Gaze, den Schatten der Vergänglichkeit, unsere Gesichter ins Extrem geschminkt, tragen uns durch die Verwirrung.

1995, die Dreigroschenoper, Volker muß betonieren, Alex, irritiert von der Unterhaltsamkeit des Materials, kämpft dagegen an. 120 Vorstellungen machten Mühe.

Ich beginne, mich als Regisseur auszuprobieren. In den Kammerspielen des DT, mein erster Shakespeare, die Zähmung der Widerspenstigen: Volker entwirft die Kostüme. Was waren die bunt und wild und eigenartig. Inge Keller, als Matrone trug einen Hut mit Ente, den habe ich besonders geliebt. Die klassische Gassenbühne, ihre Zentralperspektive ins Extrem getrieben,  erdachte Phillip Stölzl, einer seiner Studenten.

Er hat Türen geöffnet für Begabungen, ihnen Möglichkeiten eröffnet, uneigensüchtig.

Zu Premieren verschenkte er seine Kostümentwürfe, zauberhafte Vorahnungen unserer Rollen.

Für ein Lina Werthmüller Musical in Bremen baute er mir einen italienischen Eissalon in hellblau, rosa und creme, die Schwangerschaft der zentralen Figur verbildlicht durch ihren wachsenden Bauch mittels einer im Sofa versteckten Gasflasche.

Mein Vater in seiner letzten Rolle am Theater 89, Ein Kind unserer Zeit von Horvath, Volkers Plakat trifft es auf den Punkt, ein Mann verstirbt ohne Widerwehr auf eine Bank im Schnee.

Die Kinder-Tier-Gedichte meines Vater illustriert von Volker - er wußte wie Kinder schauen, ohne sie zu verharmlosen.

Dann haben wir uns eine Weile nicht gesehen, wie das so passiert am Theater.

Jahre später in einer kleinen Galerie in der Chausseestrasse, ich tippe ihm auf die Schulter, er dreht sich zu mir um, sieht mich an und sagt: Ich freue mich, dich zu sehen. Ein Glücksmoment. Ich erwerbe einen wunderbaren Holzschnitt von Beckett, so filigran, dynamisch. Er begleitet mich, neben meinem Schreibtisch, täglich.

So tut es auch sein Mann in Rot und eben seine Neujahrskarten.

Wenn die die sterben, die nicht sterben sollten, ist es besonders schlimm. Und viele Arschlöcher leben so sehr lang. 

Ein Künstler und ein Gentleman, wie oft gibt es das? Zu selten.


IM NEUEN JAHR MUSST DU MIT ALLEM RECHNEN! 

Corona 2020 und dann ist auch noch Volker ist gestorben, kurz nach einer letzten Premiere mit Sascha Stillmark in Rudolstadt - er hatte ein gutes Leben, glaube ich.

Donnerstag, 8. Oktober 2020

DAS C-WORT XXVII - Ich bin überfordert, wer nicht.

Ganz Berlin ist ein Corona-Hotspot, die BVG streikt, die Liebigstrasse soll geräumt werden (Link zum Manifest der Besetzer weiter unten.), der infizierte panische Noch-Präsident inszeniert sich als wiederauferstandener Messias, in Peru liegen Kranke in Turnhallen, Brasilien brennt, Berg Karabach auch, Belarus und Syrien und Moira und und und...

Ich war im Theater.

Im Deutschen, bei Polleschs "Melissa kriegt alles". Es beginnt mit der Videoeinspielung eines sich füllenden Zuschauerraums und den Reaktionen des Publikums auf das Bühnengeschehen aus dem ursprünglichen "The Producers"-Film von Mel Brooks. 

Wenn ihr diesen Film irgendwo sehen könnt, tut es, Gene Wilder und Zero Mostel, besser geht es nicht. Zero Mostel ist ein jüdischer Komiker alter Schule und Gene Wilder hieß eigentlich Joel Silberman, zusammen schenken sie uns die ganz große Kunst des aus Verzweiflung geborenem absurden Theaters. Die Neuverfilmung ist leider flach. (Mehr Informationen zu Zero Mostel weiter unten.)

"Melissa kriegt alles". Die obligate, regelmäßig dazugehörende, übliche, unvermeidliche Brechtgardine, Kathrin Angerer spricht den ersten Satz: Ein Brief! Melissa kriegt alles? Damit ist Melissa abgearbeitet. 

Worum geht es? Um den Draufblick, den Fremdblick auf sich selbst, auf die Bühne und uns selbst, um episches Theater und die Dialektik, um Brechts "Die Mutter" und die zum modischen Zitat verkommene russische Revolution, um Mütter als Kämpfer und Mütter als männliches Wärmebild, um die Intendantin Helene Weigel, wie immer unterschätzt, um einen Bankraub ohne Bank, eine Pizzeria ohne Pizza, um die tödlichen Kämpfe des Circus Maximus und unser ungefährlicheres Guckkastentheater, dass uns aber auch vom endlosen Zwang des im Kreisen stattfindenden sich ewig wiederholenden Tötens befreit hat, um Trance als Reaktion auf unvereinbare Wahrheiten, Fake News, um die Macht des Autoren über die Spielweise, den "Ton" des Spielers, wobei ich vermute, dass sich Pollesch hier der implizierten Ironie bewusst ist. Wie immer bei Pollesch renne ich seinen Gedankensprüngen hinterher, obwohl ich diesesmal einige Wiederholungen gut hätte missen können. 

Aber dann für Momente ein wunderschöner Gedanke beim Sinnieren über neues und altes Theater: der Faustkeil, uralt und uns doch noch immer von nöten. Nicht immer "ist alles Neue, besser als alles Alte", das Neue bedarf des Alten.

Ich wünschte Frau Angerers Stimme würde mit ihr altern, denn dem letzten Text über die Verzweiflung darüber, das man seinen Kuchen nicht haben und essen kann, dass immer ein Entweder / Oder gefordert wird, wo man doch beides ersehnt, hätte einer erwachsenen Stimme bedurft. 

Komisch, dass selbst Pollesch manchmal bei Frauenfiguren ins Klischee verffällt. Allerdings fehlte heute die zweite weibliche Darstellerin, Katrin Wichmann, vielleicht wäre sie ein der Kontrapunkt gewesen. 

Der Applaus war schön. Alle waren so froh mal wieder im Theater zu sein. Die auf der Bühne und wir unten.

http://liebig34.blogsport.de/ 

Zero Mostel - Wiki schreibt: Während der McCarthy-Ära wurde er 1955 vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe vorgeladen. Mostel weigerte sich vor dem Ausschuss sowohl sich selbst zu belasten wie auch andere zu denunzieren und berief sich dabei auf den 5. Zusatzartikel der Bill of Rights. Er wurde daraufhin auf die Schwarze Liste gesetzt und auch mit einem Berufsverbot belegt. Siehe auch "Der Strohmann" von Woody Allen

 

Samstag, 3. Oktober 2020

Das C-Wort XXVI - Ups!

Der Plan. Meine Freundin und ich wollen in den Herbstferien verreisen, nach Budapest. Ich bin nicht mehr dort gewesen seit irgendwann in den frühen 80ern und Judith hat gute Freunde dort. Perfekt. Die Donau, Jugendstilbäder, tolle Eiscreme und jede Menge schöne Erinnerungen an die Vaci Utca und ihre Buchläden gefüllt mit Westbüchern. Herr Orban versucht seit Jahren mit großer Macht dieses Land in seine private Diktatur-Spielwiese zu verwandeln, aber noch hat er nicht gewonnen. Oder? In die Türkei würde ich augenblicklich nicht reisen. Nach Polen? Europa verändert sich.

Stop. 

Neue Überlegung: was ist mit unserem Carbon-Footprint, na gut, wir könnten mit dem Zug fahren. Aber sollten wir gerade jetzt überhaupt ins Ausland fahren? Vierzehn Tage Quarantäne im schlechtesten Fall. Und das in einem Land, in dem wir nicht mal ein kleines bisschen die Sprache verstehen. Ja ist igen, Restaurant etterem. Da hört's schon auf. Übrigens, Quarantäne heißt karantén. 

Stop.

Unsere Reise nach Budapest wird auf ungenaue Zeit verschoben. Nicht schlimm. Ein läppisches Luxusproblem.

Wir entscheiden uns für eine Inlandreise. Wird es Foer oder Bayern? Nach Bayern ist die Anreise kürzer. Bayern it will be.

Stop.

Und jetzt ist Berlin-Mitte, da wo ich wohne, ein Risikogebiet, ein Hotspot. Was wir für neue Wörter kennenlernen. Fahren wir trotzdem? 

Immer mehr werden als infiziert erkannt, Gott sei Dank, sterben nicht mehr so viele. Noch nicht? Hat sich der Virus verändert, ist die Zielgruppe jung genug, keine üblen Folgen erwarten zu müssen? 

Stop.

Ich weiß es nicht.

Stop.

 


Donnerstag, 1. Oktober 2020

Zweimal Becket und Pierrot Lunaire mit Dagmar Manzel in der Komischen Oper in Szene gesetzt von von Barry Kosky.

Dagmar, meine pünktlich punktuelle Freundin über Jahrzehnte. Wir sehen uns ewig nicht, aber wenn, dann ist es immer gut. Sie ist es, derentwegen ich meine Laufbahn als Schauspielerin an den Nagel gehängt habe. Ich war gut, sie war berauschend. Außerordentlich. Ereignis.

Die Komische Oper in Zeiten von Corona, die meisten Sitze sind mit rotem Samt abgehängt, dazwischen, in komplizierter Hygiene-Ordnung, verstreut in Zweier- und Dreiergruppen, wir wenigen Zuschauer. Auch die Saaldecke ist abgehängt, aber nicht wegen Corona, sondern wegen akuter Baufälligkeit.

AKT 1: NOT I - NICHT ICH

Der Text soll nach Mister Becketts Wünschen sehr schnell gesprochen werden. Die Uraufführung in den USA durch Jessica Tandy dauerte 24 Minuten und der Autor kommentierte: "Sie haben mein Stück zerstört." Billie Whitelaw erarbeitete es mit dem Dichter und Lisa Dwan schaffte es in 9 Minuten und 50 Sekunden und auch noch mit irischem Akzent. Der Kopf muß starr sein, um das Licht zu fangen, der Körper nahezu bewegungslos, das Gesicht mit Schwarz abgedeckt, bis auf den Mund. Eine Tortur, eine Trance, ein heiliges Märtyrium. 

DER MUND. Er spricht über den Tod hinaus, will er das Leben festhalten, was das Tempo notwendig machen würde? Wenn die Toten zu uns sprechen könnten, welche gewichtigen Wahrheiten könnten wir von ihnen erfahren? Was erfahren wir über uns in der "letzten" Sekunde?

Eine ungeliebte, einsame, alte, sprachlose Frau spricht, erbricht in letzter Not Sprache. Es spricht aus ihr. Nicht sterben wollen. Nicht sterben können, weil sonst alles umsonst gewesen ist?

Ein Mund, zuerst ganz klein, Lippen, Zähne, Zunge, Rachen, mit der Zeit vergrößert mein Auge ihn. Er könnte mich verschlingen.

AKT 2: ROCKABY

Ein Schaukelstuhl, ein Fenster, zugezogene Jalousien, eine Einsamkeit. Sterben, sterben. "Mehr". Ein Jalousie wird hochgezogen. Nicht aufhören, nicht sterben, nicht ohne Hoffnung sein, Hoffnung auf was? Hoffnung auf wen? Dann doch sterben. 

Der Schaukelstuhl schaukelt, wippt, stoppt, schaukelt weiter, wippt. "Wipp sie weg!"

AKT 3: Pierot Lunaire

Ein Kind träumt poetische und böse Träume. Es will lieben, es will töten, der Mond ist sein fremder Freund.

Wie leicht Dagmar dies alles erscheinen lässt, als wäre es die natürlichste Sache der Welt sich so zu äußern. Ich bin gefordert, muß Aufmerksamkeit aufbringen, Konzentration. Welch einen Luxus uns das subventionierte Theater bietet: Kunst, die nicht auf allgemeine Zustimmung angewiesen ist. Und doch äußerst dringlich ist.