Freitag, 27. März 2020

Das C-Wort IX - Körpernähe

Ich habe seit 12 Tagen keinen Menschen angefasst. Außer mich selbst. Wie sehr eigenartig. 
Ich bin nicht so der typische Küsschenverteiler und jederman Umarmer, aber als heute eine besonders liebe Freundin mir impulsiv den Arm um die Schulter legen wollte, wie sie es oft tut, eine Berührung, die ich normalerweise sehr gern spüre, bin ich zurückgeschreckt. Irrwitz.
Wir waren beide bestürzt. 
Gummihandschuhe lassen meine Hände massiv schwitzen, die Gesichtsmaske von nomimikri läßt meine Brille beschlagen und kühler wird es durch sie auch nicht. Hitzewallungen. Oh Gott, ich habe Fieber, ich werde krank. Handschuhe weg, Maske ab und ich kühle runter. Entwarnung.
Nach Hause kommen, Hände waschen, die Einkäufe auspacken, Hände waschen, ein wirklich steriles Leben ist nicht möglich. Und war, bis jetzt, auch nicht erwünscht.
Ich mag Lippenstift. Knallrot. Oder dunkles Pink. Aber mit so einer Maske ist er nicht zu sehen. Mein kleiner Protest gegen die üble Zeit, versteckt hinter buntem Stoff.
Bitte, bitte, keine Ausgangssperre.
Ja, ja ich weiß, dass ich einer Risikogruppe angehöre. Über 60 und Raucher seitdem ich 17 war. Ich will niemanden infizieren und auch selbst nicht infiziert werden. Aber ich will auch nicht aufhören, zu leben. Was kann, soll ich tun?
Meschugge. So nennen das meine Leute, die auch irgendwie nicht meine Leute sind.
Aber. Immer dieses aber. Morgen lerne ich Brotbacken via Skype.

https://www.smarticular.net/hefe-vermehren-backhefe-haltbar-machen/ 

Mittwoch, 25. März 2020

Das C-Wort VII - Einfache, leckere Pilzpfanne

Geht gerade die Welt unter?
Ich vermute, das tut sie nicht.
(Auch wenn ich schon mal kurze paranoide Attacken spüre.)

Deshalb heute was zum Essen.

Pilze, simple braune Champignons tun es auch.
Knoblauch & Zwiebeln
Salz & Pfeffer
Thymian
1 Klecks Butter
Sahne, Creme Fraiche oder Creme Fin nach Gefallen.
Parmesan

Zwiebeln in Öl anschmelzen, etwas später Pilze & Knofi dazu, salzen, pfeffern, Thymian ran, kurz vor fertig den Klecks Butter, wenn man es cremig mag Sahne o.ä. dazu, auf den Teller, Parmesan drüber, voila!

Bin ganz verblüfft, wie gut das schmeckt. Habe soeben den Teller abgeleckt. Sieht ja keiner, jetzt, wo wir uns eh physikalisch distanzieren sollen. Da riecht auch keiner die zwei großen Zehen Knoblauch.

Am Wochenende lerne ich Brotbacken via Skype! DieHefe wirft mir die zauberhafte Frau von ihrem Balkon runter. Hefe und Toilettenpapier? Heute back ich, morgen kack ich und übermorgen ...?

Noch etwas Unwichtiges. Wir alle mit Kurzhaarschnitten und gefärbten Haaren werden, wenn das hier hinter uns liegt, erstmal gräßlich aussehen und beim Friseur unseres Vertrauens Schlange stehen. Vielleicht sogar wieder ohne die 1,50 Meter Abstand?

Und jetzt was Trauriges & doch Schönes zum Abschluß, unser Bühnenbild von hinten und der leere Zuschauerraum der bremer shakespeare company. Hat mir ein Kollege geschickt.






Sonntag, 22. März 2020

Das C-Wort VI

Kein Lagerkoller. Keine Depression. Keine Panik. Nicht mal Langeweile.
Aber ich bin es nicht gewohnt, keinen Zeitplan zu haben und da wartet ein Lernprozess auf mich und der kann noch ein bisschen warten. Ich will mich nicht zu schnell mit der neuen Situation anfreunden. Ich mache eh nicht so schnell Freunde. So eine Fremdheit, Ungewohntheit ist doch auch spannend. Oder?

Was für aufgeräumte, gut sortierte Wohnungen wir alle haben werden!

Was für Pläne habe ich? 
Das Nibelungen-Projekt so weit fertig zu stellen, das wir, wann auch immer, eine tolle restliche Probenphase haben können.
Brot backen zu lernen.
Mit Ötti spazieren zu gehen und vielleicht auch mal mit wem anders. Das ist noch erlaubt. Juchuh!
Mich nicht gehen zu lassen. Lippenstift hilft.
Ein neues Schreib-Unternehmen mit Grit zu starten.
Bücher zu lesen.
Filme zu gucken.
Rum zu trödeln.
Mich zu entscheiden, ob ich einen Hund oder eine Katze einladen werde, mit mir zu leben.
Gesund zu bleiben.
Viel mit Freunden zu quatschen.
Euch mit Texten & Gedichten zu zu ballern.
Zu hoffen, das so wenig Leute wie irgend möglich sterben werden.
Weniger zu rauchen und zu trinken. Na ja.

Ich mag es nicht, wenn Menschen jetzt das irgendwie doch Positive der Situation preisen. Das ist mir zu katholisch. Per aspera ad astram? Käse. Aber ich will auch nicht rechthaberisch und hämisch die Apokalypse begrüßen. Dies ist eine Krise, eine unerhört große und neuartige. Wird sie uns verändern auf lange Sicht? Da bin ich mißtrauisch. Nach den großen Pestausbrüchen des Mittelalters, als die Bevölkerungszahl extrem geschrumpft war, gab es eine Zeit, in der die bis dahin geltenden Moralregeln außer Kraft gesetzt waren. Es wurde wild herum gevögelt. Aber kaum war die Einwohnerzahl wieder auf dem notwendigen Maß, bäng (!), wurden die Sitten wieder so streng wie zuvor. Die Menschheit als Ganzes will halt unbedingt überleben. Und wir waren, denke ich, immer gleich schlimm oder gleich großartig. "Früher war alles besser" ist einer der blödesten Sätze, die ich kenne. Wir sind, wie wir sind.

Entschleunigung. 
Wiki definiert das so: Die Entschleunigung zeigt Wesensmerkmale der Faulheit und Muße, ohne wie diese negativ besetzt zu sein. Während Entschleunigung als Verzicht weiterer Beschleunigung nicht unbedingt eine Drosselung der gewohnten Geschwindigkeit beinhaltet, enthält das ältere Wort „Verlangsamung“ die Tendenz, das Fortschritts­denken in Frage zu stellen. 
Wir müssen drosseln. Weniger tun, weniger reden, weniger was? Ist weniger besser? Es ist erstmal weniger.

Samstag, 21. März 2020

Das C-Wort V

Hühnersuppe. Das Allheilmittel meiner Mutter für jede Lebenslage - Liebeskummer, gebrochenes Bein, Grippe. Das Iboprofen jüdischer Mütter. Heute habe ich selber mal wieder welche gekocht. Mit einigen Tipps von meiner Tochter und meiner Cousine und ein paar eigenen Ideen. Huhn, Wasser, Ingwer, Kurkuma, Zitrone Knoblauch, Lorbeer, schwarzer Pfeffer, Suppengemüse, 1El Ahornsirup und 1 El Maggi, weil ich Berliner bin. Morgen noch ein bisschen das Fett abschöpfen und dann schlürfe ich mich in die totale Immunität.

Im Tiergarten beim Spaziergang mit meiner Freundin auf zwei Meter Abstand. Es war kalt und wunderbar sonnig. Viele Menschen, alle Abstand haltend, außer, Gott sei Dank, wenn Kinder dabei waren. Ich hoffe so sehr, dass es nicht zur AUSGANGSSPERRE kommt. Sowohl weil ich nicht möchte, dass der Staat, die Bundesregierung solche Machtmittel einsetzt, einsetzen darf, muß, aber als auch, weil ich ohne meine täglichen Gänge wohl ziemlich unfroh wäre. Aber, aber was? Aber wenn es hilft? Aber wenn es uns als Bürgern eines demokratischen Staates schadet? Ich weiß es nicht.

Frage: Nehmen wir an, die Isolation erfüllt ihren Zweck, lässt die Kurve flach oder zumindest flacher verlaufen. Dann wird sie irgendwann aufgehoben. Aber das Virus ist ja weiter da. Werden wir dann weiterhin infiziert, nur weniger gleichzeitig, bis die Herdenimmunität greift?
Ich wünschte, ich hätte einen wissenschaftlicheren Kopf. Habe ich aber nicht, und so wabert in meinem Kopf ein Gemansche von "Contagion", Camus' "Die Pest", The Walking Dead herum. Mit ein bisschen "1984" Paranoia zur Würze.

Ich habe Zeit zum Denken, aber alleine zu denken ist nicht so produktiv, wie in einer Gruppe von schlauen Leuten. Ich neige dazu, in Kreisen, in Loops stecken zu bleiben.

Morgen esse ich Hühnersuppe, dann geht es mir besser.

DER TIERGARTEN








Freitag, 20. März 2020

Das C-Wort IV

Ich habe den Eindruck, dass dieses Übermaß an freier Zeit mein Gehirn langsam aufweicht. Gibt es eigentlich Studien über Isolationszeiten und IQ-Verlust? 
Der aktive Höhepunkt meines heutigen Tages war der Erwerb einer Flasche Desinfektionsmittel in der Apotheke meines Vertrauens. 
Wenn ich DRAUSSEN bin, weichen Menschen bei meinem Anblick ungelenk aus, ich tue desselben. Man will den Anderen nicht kränken, tut es aber doch. Er könnte der potentielle Infektor sein. Der Amazon-Bote eröffnet das Gespräch mit dem Hinweis auf seine Diabetes, die ihn angreifbar macht.
Habe ich Halsschmerzen? Nein. Huste ich? Ja. Aber nicht trocken. Nur mein üblicher Raucherhusten. Kein Fieber. Kein Verlust von Geschmacks- oder Riechfähigkeit. Ich bin, im pandemischen Sinn, gesund.
Schöne Telefonate mit Familie & Freunden, Pina Bauschs "Kontakthof" auf youtube, meine Bücher gesichtet und viele aussortiert. So ordentlich werden unsere Schränke, Gärten, Wohnungen wohl noch nie gewesen sein.
Die Nachrichten hämmern auf mich ein. Ich weiß, ich sollte ausschalten, kann mich aber nicht entschließen.
Das die Jungen weiterfeiern, kann ich noch irgendwie verstehen, auch ich dachte mit 18, dass ich unsterblich und immer im Recht bin. Aber Verkäuferinnen anspucken, weil sie die dritte Packung Toilettenpapier verwehren? Alte Leute anhusten unter "Corona, Corona" Rufen?
Ausgangsbegrenzungen, gar Ausgangssperren werden nun erwogen. Was heißt das für unsere Zukunft? Die Grenzen wurden bereits geschlossen, nun wird höchstwahrscheinlich auch noch unsere Bewegungsfreiheit extrem eingeschränkt. Ein Teil meines Hirns stimmt zu, weil ich möchte, dass so wenig Menschen wie möglich sterben. Der andere Teil erschrickt. Wenn das Gift der Allmacht erst geleckt wurde? Paranoia oder Realismus?
Und trotzalldem geht es mir so sehr gut, so unvergleichlich gut, im Vergleich zu anderen. Und das sind viele. Alle Bewohner der sogenannten "Dritten Welt", die der unzähligen Flüchtlinglager. 
Huren dürfen nicht mehr arbeiten, Schauspieler auch nicht. Kleine Filmtheater, Galerien, Kabretts, Clubs, Bars, Boutiquen, Theater, Museen, Opernhäuser, geschlossen, die Liste ist lang. Meine Vergnügungen, geschlossen.
Am Ende von diesem Irrsinn werde ich entweder nur noch Hildegard von Bingen Zitate kopieren oder ganz neu über die Welt denken. Who knows.
Was mir mächtig auf die angestrengten Nerven geht, sind die vielen kleinen Propheten der Apokalypse, die jetzt in den Medien den Moment ihrer Wichtigkeit gekommen sehen. Keiner von uns weiß genau, wie schlimm es wird. Oder wie gut es ausgehen wird. Selbstgerechtigkeit ist für mich eine der unangenehmsten menschlichen Eigenschaften. Die Freiheit von Zweifel, ist die Freiheit von Empathie und Widerspruch. Es ist diktatorisch. Und so lange es meine intellektuellen Fähigkeiten zulassen, verteidige ich mein Recht unsicher zu sein.
Und zum Abschluss einen ernstgemeinten Dank an alle, die weiterarbeiten, weil es notwendig ist, die mir, sollte es dazu kommen, helfen, damit ich überlebe.



Donnerstag, 19. März 2020

Das C-Wort III

WIKI SAGT: Viren (Singular: das Virus, außerhalb der Fachsprache auch der Virus, von lateinisch virus, natürliche zähe Feuchtigkeit, Schleim, Saft, [speziell:] Gift‘) sind infektiöse organische Strukturen, die sich als Virionen außerhalb von Zellen (extrazellulär) durch Übertragung verbreiten, aber als Viren nur innerhalb einer geeigneten Wirtszelle (intrazellulär) vermehren können. Sie selbst bestehen nicht aus einer oder mehreren Zellen. Alle Viren enthalten das Programm zu ihrer Vermehrung und Ausbreitung, besitzen aber weder eine eigenständige Replikation noch einen eigenen Stoffwechsel und sind deshalb auf den Stoffwechsel einer Wirtszelle angewiesen. Daher sind sich Virologen weitgehend darüber einig, Viren nicht zu den Lebewesen zu rechnen. Man kann sie aber zumindest als „dem Leben nahestehend“ betrachten, denn sie besitzen allgemein die Fähigkeit zur Replikation und Evolution.

Proben abgebrochen, von Bremen nach Hause gefahren, das Leben ist anders. Die diesem "Leben nahestehenden" Dinger lungern überall herum, infizieren Tausende und manche, nicht wenige, vorzugsweise Ältere und Kranke, töten sie.
The Worst case scenario -  Das Szenarium für die schlimmste Variante - Drei Monate oder mehr "social distance". Blödes Wort, soziale Nähe geht auch ohne körperliche, oder? Drei Monate oder mehr und sicher bald das Ausgehsverbot, weil Leute halt gern Regeln ignorieren. Ich kenne diese Trotzhaltung von mir selber. Geht jetzt aber nicht, wegen der Alten und Kranken. Wir sollten uns vorstellen, wir seien infiziert, dann machen die Regeln Sinn. Ein kleiner Schnupfen, ein schwacher Husten, nix wirklich störendes, können für einen anderen Menschen Atemnot, Lungenentzündung, Erstickung bedeuten.
Also nehmen wir mal an: Drei Monate oder mehr. Vorrausgeschickt, ich lebe im Paradies im Vergleich zur überwiegenden Mehrheit der Menschheit. Ich lebe allein, bin nicht in finanzieller Not, welch Privileg in dieser Zeit, eigentlich in jeder Zeit, das Internet und das Telephon funktionieren, es gibt Lieferdienste, meine Wohnung ist warm.
Drei Monate oder mehr. März bis Juni, Juli. Der Frühling, der Sommeranfang. 24 Stunden täglich ohne meine gewohnte, geliebte Arbeit. Ohne Kneipen, Theaterbesuche, gemeinsame Essen, Kino, Museen, Nichtenbesuche, einen Handdruck hier und eine Umarmung da. Wie wird das, so auf mich zurückgeworfen zu werden?
Nebenthema. Warum Toilettenpapier? Was macht diese Papierstreifen so wertvoll? Wir leben in Mitteleuropa, wir haben eine Dusche, fließendes Wasser. Aber Toilettenpapier ist eine kulturelle Errungenschaft, wir wollen uns der Realität unserer Exkremente nicht mehr aussetzen. Meine Mutter erzählte gern, wie sie Freunden ihr blondes, dickes Baby vorführen wollte und eben jenes Baby sich wolllüstig mit der eigenen Kacke eingeschmiert hatte.
Drei Monate oder mehr.


Sonntag, 15. März 2020

Das C-Wort II

Wir probieren in einem Theater, dass nicht mehr für sein Publikum spielen darf.
Wir treffen uns immer noch zu unserer täglichen Arbeit.
Früh und Abends.
Aber wir alle haben Kinder.
Eltern.
Großeltern.
Um uns herum verändert sich gerade alles.
Grenzen werden geschlossen, Regale sind leer, Versammlungen sind verboten.
Oberflächliche Erinnerungen an die DDR werden wach.
Europa. Die EU. Werden diese Risse post-Corona wieder verheilen?
Wann ist das?
Ich fasse möglichst nichts mehr mit meinen Händen an, das ich nicht persönlich kenne.
Huste ich den gewohnten Raucherhusten oder klingt der heute etwas anders?
Mein Mißtrauen gegen irgendwas, das ich nicht einmal benennen könnte, bleibt bestehen.
Aber.
Aber. Wir werden nicht weiterprobieren. Mein Theater-Herz wird etwas zerbrechen. Wie schon öfter zuvor.
Aber diesmal ist es auch anders.
Größer. Unverständlicher. Unhandbarer.
Wie lange wird das dauern?
Bis nach Ostern?
Bis in den August?
Kinder ohne Freunde, ohne Schule, ohne Großeltern.
Jugendliche ohne Tanz und Gedankenlosigkeit, ohne Körpernähe.
Erwachsene ohne ihre üblichen Ablenkungen, mit Dauersorgen. Sozialdistanz? Gräßliches Wort.
Aber notwendig.
Aber was benötigen wir jetzt mehr als soziale Nähe?
Nähe ohne Körperkontakt.
Unvorstellbar, wenn die digitale Welt zusammenbräche.

das besondere ist nicht, dass etwas nicht mehr funktioniert, sondern dass es überhaupt jemals funktioniert hat 
pollesch

Donnerstag, 12. März 2020

Das C-Wort

CORONA 

Hilflosigkeit & Handlungsunfähigkeit sind körperlich intensiv spürbare Gefühle.

Ich weiß, das mein Rauchen zu Lungenkrebs oder Ähnlichem führen kann. Ich könnte aufhören und meine Chance auf ein längeres Leben würden sich erhöhen.
Ich altere dem Tod entgegen, wie alle anderen Menschen auch, das ist nicht immer angenehm, aber unvermeidlich und letztendlich die gerechteste Sache überhaupt, denn wir alle sterben. Über die Fairness des wie und wann können wir streiten und die Wahllosigkeit der Auswahl verunmöglicht mir den Glauben an irgendeinen Gott.

Aber jetzt dieses C-Ding. Aus unzähligen Filmen habe ich einen Vorrat von Tsunami-Wellen-Bildern im Kopf, und immer stehen Leute herum und starren, bevor sie, viel zu spät, anfangen wegzurennen. Und jetzt, ohne jede Möglickeit mich zu verhalten, stehe ich, mir brav die Hände waschend, zwischen Tsunamiwellen, die aus unterschiedlichen Richtungen auf uns heranrollen, und bin hilflos und handlungsunfähig.

Sollen wir morgen eine öffentliche Probe abhalten? Ist das wichtig? Wird überhaupt jemand kommen? Ist das wichtig? Unser Publikum ist eher dem älteren Bevölkerungsquadranten zugehörig, der besonders gefährdet ist, könnten wir sie gefährden? Wird es überhaupt eine Premiere im April geben, wenn, laut Aussage des Chef-Virologen der Berliner Charité, die Infektionswelle erst im August ihren Höhepunkt erreichen wird? Ist das wichtig?

Was tue ich dann zwischen jetzt und August?

Eine wahrhaft neue und äußerst unangenehme Erfahrung. Niemand den ich hassen kann, niemand den ich bekämpfen kann. Kismet.

Ein Virus.

Übertreiben all die Fachleute? Die WHO und die Ärzte? Ist die rechte Zeit für paranoide Verschwörungstheoretiker gekommen? Oder müssen wir uns beugen und die Welle in Demut und unter größtem möglichen Widerstand und mit größt möglicher Hoffnung über uns rollen lasssen?

Ich weiß es nicht.


Freitag, 14. Februar 2020

Im Rausch

Der Nibelungen Wut - Furor Teutonicus

Etwas Neues. Bisher eine Menge Strichfassungen, einige Adaptionen, ein Stück nach Bibeltexten und nun unser erstes ganz und gar eigenes. 
Was für ein Abenteuer.
Ohne Grit wäre das alles gar nicht möglich.
Und - die Edda, das Nibelungenlied, ein Meter Sekundärliteratur, alle Filme, die ich je gesehen, Bücher, die ich gelesen, Musik, die ich gehört habe, der gesamte Wildwuchs im Hirn, Gespräche, Nachrichten, Zufälligkeiten - alles fließt ein, fliegt raus, wird integriert.
Ich danke meinem Vater, der mir während gemeinsamer Frühstücke und Abendessen mit Duden und Meyers Lexikon, die Liebe zur deutschen Sprache eingefüttert hat. Meiner Mutter weil sie mich alles durcheinander lesen ließ, und meine faule Neigung zum Kitsch gebändigt hat. Meinen Freunden, weil sie mich herausgeforden, weiter zu denken, als ich es allein könnte oder vielleicht wollte. 

Was für ein wahnwitziges Abenteuer.
Langsam beginnen die Figuren ihre persönliche Sprache zu sprechen, widersprüchliche Meinungen zu haben, ihre eigenen Witze zu machen.

Die Nibelungen - Kriemhild, Brunhild und Hagen sitzen, verbannt in die untere Hölle, bei Hel, der Jenseitsgöttin und giften sich seit hunderten von Jahren an. Treue, Verrat, Rache, Mord, Hort, Blut, Gut, Gold - ein endloser mißtönender Gesang - eine deutsche Horrorstory - ein Mord hinterrücks wird zur Dolchstoßlegende und ein blutiges Massenschlachten zum Symbol der Nibelungentreue. Im Zentrum, wenn auch nicht anwesend, der Held - SIEGFRIED. 
Das soll ein Held sein?
Aber auch das Jenseits braucht Digitalisierung der Archivbestände, eine junge Frau wird angeheuert. Sie sieht Möglichkeiten der Vermarktung und mit dem Hort als Anschubfinanzierung wäre Einiges möglich. Wird Hagen ihr die Lage des Verstecks verraten?


Politische Bewegungen verschiedenster Art haben sich diese Geschichte unter den Nagel gerissen, für ihre Zwecke gebraucht, mißbraucht. Die Blut & Boden Rethorik der Neuen Rechten und die unserer "gemäßigten" Faschisten mit ihrer Beschwörung der tausendjährigen europäischen Kulturgeschichte bedienen sich hier, wie bei der heißen Schlacht am kalten Buffet.
Mein momentaner Browserverlauf ist ein Mix aus deutscher Geschichte, Mittelalter, Mythologie und jeder Menge rechter Propagandaseiten. 

Sonntag, 2. Februar 2020

Die Wütenden – Les Misérables

Die Wütenden – Les Misérables

Ins Kino gehen, Karte kaufen, zuschauen. 

Ladj Ly ist ein junger französischer Filmregisseur, der in Montfermeil, einem Vorort von Paris, aufgewachsen ist. Sein erster Spielfilm ist für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert und das, denke ich, zu Recht.

Montfermeil ist einer der Vororte, die unter der Bezeichnung Banlieues in unsern Wortschatz geraten sind. 

Wiki sagt: Der französische Ausdruck Banlieue, von lateinisch bannum leucae, wörtlich: „Bannmeile“ bezeichnet die verstädterten Bereiche außerhalb eines Stadtzentrums bzw. die Randzone einer Großstadt, die sich im 19. Jahrhundert im Zuge von Industrialisierung wie Urbanisierung herausbildeten.

https://www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/152511/problemgebiet-banlieue 

Ly erzählt über Dinge, die er kennt, er erzählt sie mit Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Wut und unter Mitwirkung von Schauspielern und vieler Einwohner von Montfermeil.

2018, ganz Frankreih bejubelt den Sieg der französischen Mannschaft in der Fußball-Weltmeisterschaft. Ganz Frankreich, ganz Paris, die jugendlichen Bewohner der Vorstädte sind ins Zentrum gefahren, um mitzujubeln. Sie sind Franzosen, hier geboren und aufgewachsen. 

Dann gehen sie zurück nach Montfermeil, ins Abseits.

Ein Löwenbaby wird aus einem Zigeuner-Zirkus gestohlen. Eine Harmlosigkeit hat schreckliche Folgen, scheint gelöst und eskaliert ins Entsetzliche. Auch gute Absichten erweisen sich als hilflos, verständliche Verhärtungen verhindern Verständigung. Der Umgangston ist roh. Niemand ist wirklich böse, Unschuld ist ein Risikofaktor.

Der Film findet das perfekte Ende. Er entläßt mich in verzweifelte Hoffnung oder ins resignierende Aufgeben, je nach Gemütslage. Ich habe geweint und hoffe.

Ich lebe ein sehr privilegiertes Leben. Die meisten von uns tun es. Das sollten wir bedenken. Nicht wegen des trendigen "white privilege" Labels, sondern, weil wir oft wirklich keine Ahnung haben, wie andere Menschen leben und um wieviel härter ihre Ausgangsposition, um wieviel geringer ihre Chancen und um wieviel größer die Hürden sind, die sie zu überwinden haben.

Merkt Euch, Freunde! Es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt bloß schlechte Gärtner. Victor Hugo in Les Misérables

Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. 


Ladj Ly