Donnerstag, 1. November 2018

Mein Vorname - ein Stempel fürs Leben

Neuerdings treffe ich laufend Johannas. Sie sind um die dreissig. Zwei davon sind Dramaturginnen. Also war wohl um das Jahr 1988 der Name Johanna in Mode. Ich bin Baujahr 1958. In den dreissig Jahren dazwischen war mein Name scheinbar nicht so en vogue.

Johanna, Geschenk Gottes, Hanna, Hanne, Hanni. Gottseidank nennt mich niemand Jo, aber Hannileinchen wird in seltenen Fällen von einer bestimmten Person als Druckmittel eingesetzt. Kannst Du küssen Johanna / Johanna geht und niemals kehrt sie wieder - sind beide nach Nummer fünfzig übrigens nicht mehr lustig.

Was macht mein Name mit mir? Wäre ich als Sarah, Ludmilla, Resi oder Kunigunde eine ganz andere geworden? Mädchenhafter, fügsamer oder grantiger, angriffslustiger?

Ich kenne ein Baby das Oslo heißt, und eine meiner Mitschülerinnen hieß Lo, Lo Decker, und mußte sich hin und wieder als kLo DeckeL bezeichnen lassen. Ralph Müller aus der Nebenklasse stellte sich immer als Ralph mit ph Mu-eller vor. Manche meiner Bekannten haben Spitznamen adoptiert, um ihrem Vornamen zu entgehen. Wenn künftige Eltern im Benennungsmodus sind, scheinen sie zu vergessen, wie bestimmend ihre Entscheidung für die Zukunft ihrer noch ungeborenen Kinder sein wird. Ihre elterliche Vorfreude, ihre Liebe, ihre Hormone und ihre Kreativität lassen sie Grenzen der Vernunft überschreiten.

Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2008: „Der Name darf das Kindeswohl nicht beeinträchtigen“ und „er muss dem Wesen nach ein Vorname sein“

Heutzutage scheinen Eltern unter einem enormen Druck zu stehen, ihren Sprößlingen noch nie zuvor gehörte Namen zu geben und Individualität auf Teufel komm raus zu erreichen. Aber die armen Dinger tappern dann durch die schwierige Welt und müssen reagieren, wenn jemand nach "Despot" oder "Milka" ruft. Despot? Klein, dick und blond? "Milka"? Lecker. Mecky, Loveley, Eleyson, Fade, Libelle, Caridad, Kalesh, Theben, Justicia, Zabel - das sind Markennamen, nicht Laute mit denen ein Kind gekuschelt, zur Räson gebracht oder zum Abendessen gerufen wird. Ach ja, Vorname und Nachname sollten zusammenpassen, weil Azalea Stampfmüller im Ohr hackt. Und die Übernahmen aus Hollywood & Co - die Kevins, die Leonardos und die Taylors setzen Kinder unserer sächsisch sprechenden Landesteile unter gemeinen anglophilen Druck. 

Jacqueline, lautgenau ausgesprochen, Jacqueline komm hoch, Mittag ist fertig. 

Mit meinem Vornamen muß ich mich im Kindergarten vorstellen, die Untiefen der Schule durchschwimmen, er ist mein erster Kontakt mit meinen Mitmenschen. Bitte gebt mir eine Chance! 

 EMMA scheint weltweit einer der beliebtesten Vornamen zu sein. Meine Katze hieß Emma. Sie war wunderbar.

Meine Mama hatte, in Zeiten vor der pränatalen Geschlechtsbestimmung, nur Jungsnamen vorbereitet und benannte mich, noch in den Nachwirkungen der Kaiserschnittnarkose, nach Bruder und Schwester Johanna Stefanie. Jahre später hat "Schwester Stefanie" meinen harmlosen Zweitnamen verwurstet.
Max passt immer, Anna und Robert auch, unsere Namen sollten sich wie weiche Decken um uns schmiegen, keine langwierige Erklärung verlangen und es uns selbst überlassen, wer wir sein wollen.


https://www.vorname.com/ratgeber/blog/verrueckte-und-total-schraege-vornamen-3870/
nnn

Mittwoch, 31. Oktober 2018

NOSFERATU

Zu Haloween, diesem sinnentleert aus den USA importierten Feiertag, oder zum Reformationstag oder, am passendsten, in Vorbereitung von Allerseelen, zeigte das Kino Babylon heute die rekonstruierte Fassung von Murnaus "Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens" von 1922. Das Werk in fünf Akten wurde live begleitet vom METROPLIS ORCHESTER, das leichtfüssig ein Neuarrangement der originalen Filmmusik spielte.

Zu meinem Glück wuchs ich nur fünf Minuten vom Kino "Camera" entfernt auf, dem einzigen Kunstkino von Ostberlin. Ich habe große Teile meiner Kindheit & Jugend in diesem Filmtheater verbracht. Truffaut, Lelouche, Buster Keaton, Chaplin, Kurosawa, sie alle waren meine Augenfreude in diesem kleinen versifften Lichtspieltheater zwischen 1968 und 1985.
 
Heute Abend war großartig! 
Allen voran, Max Schreck, der Titelheld, mit kahlem Kopf und spitzen Ohren, die Augen voll gieriger Not, die Arme eng an den Körper gedrückt, wenn er sie nicht bebend vor Begehren tänzerisch ausstreckt. Ein liebender Blutsauger, Träger der Pest, von der er nichts weiß, weil er viel zu tief in seine eigenen Ziele versenkt ist.

Ob das Rattenmotiv für die Pest hier und das widerwärtige Verwenden des gleichen Bildes im "Jud Süß" in einem kranken Zusammenhang stehen?


 
Ein Film entstanden zwischen den großen Kriegen, der seitdem in unzähligen Filmen zitiert wurde. Ein Film, den ich kannte und der mich doch überrascht hat. Vorab, gelegentlich ist der sprachlose, hyperintensive Spielstil der Darsteller unbeabsichtigt komisch. 
Aber. 
Aber viele Effekte, wurden hier neu erfunden und sind seitdem feste Einträge im Nachschlagewerk der Cinematographie. 
Aber die Bilder sind mächtig. Schatten, Berge ohne Menschen, mächtige Wellen, Gruppenreaktionen, eine Gasse voller Sargträger.
Aber der Stilwille ist atemberaubend. Hier bewegt sich niemand "wie im Leben". Expressionismus und Ausdruckstanz, das Neueste vom Neuen 1922, sind substantielle Mittel der Darstellung.
Aber der Schnitt, wenn auch langsamer als heute üblich, nutzt bereits alle Erzähltechniken der Zukunft, Schnitt, Gegenschnitt, allegorischer Einschub, alles da. 
Aber immer wenn ich dachte, dass das Melodrama vorhersehbar wird, kam eine überraschende Wendung.
Der irrsinnige Gefolgsmann Nosferatus, hintertückisch und gemein, wird plötzlich zum Opfer eines aufgeheizten Mobs. Sichtwechsel.
Nosferatu, einsam, immer einsam, lädt seine Särge zur Abreise auf eine Kutsche, in den letzten Sarg legt er sich selbst, zaubert den Deckel drauf und die Kutsche fährt ohne Kutscher los.
An seinem Sehnsuchtsort angekommen, nicht in London wie in der Bram Stoker Fassung, sondern in der deutschen Stadt Wilsborg, sehen wir den bösen Vampyr, immer wieder, den lebensnotwendigen Sarg unterm Arm, auf der Suche nach einer Bleibe. Hinreißend.
Und die Spieler:
Alexander Granach, dessen Autobiographie "Da geht ein Mensch" mich zum weinen gebracht hat, starb 1945 in New York an einer Lungenembolie. Ein Emigrant.
Gustav von Wangenheim, hier der jugendlich, strahlender Naivling, soll später in der UdSSR, in Deutschland in absentia zum Tode verurteilt, Carola Neher und ihren Mann als Trotzkisten denunziert haben, was zu beider Tod führte. Nach Kriegsende war er kurzzeitig Intendant des deutschen Theaters.
Wolfgang Heinz, auch ein Nachkriegsintendant des DT, war ebenfalls Emigrant.
 

Gute Filme bleiben gute Filme. Und es gibt glücklicherweise, Musiker, die sich die Mühe machen, ihre Soundtracks zu studieren und aufzuführen und es gibt, noch, genug Filmfreaks, die dem Babylon zu einem ausverkauften Abend verhelfen, wenn ein solcher guter Film gezeigt wird.

https://de.wikipedia.org/wiki/Nosferatu_(Sagengestalt) 

https://de.wikipedia.org/wiki/Nosferatu_%E2%80%93_Eine_Symphonie_des_Grauens 

Dienstag, 30. Oktober 2018

THE BBC - Wie ein öffentlich rechtlicher Sender seinem Auftrag nachkommt

LINE OF DUTY - eine BBC-Serie auf Amazon Prime. 
Widersprüchlichkeit, Ambiguität, Doppel- und Dreifachbödigkeit in einer langsam, ja gerade langsam genug erzählten Polizeiserie. Die Polizisten & Ermittler sehen hier aus wie Polizisten & Ermittler und sie sind auch so angezogen. Polyester Anzüge und zu enge Krägen. Der Pullunder als Zeichen der Glaubwürdigkeit. Die Caster haben preiswürdige Arbeit geleistet, sie haben wirklich gute Schauspielarbeiter, und das ist ein hohes Kompliment, gefunden, und die Darsteller haben geliefert.
Komplexe moralische Dilemmata (So heißt das wirklich!) werden in Szenen erzählt, die ganz und gar alltägliche Polizeiarbeit zeigen. Keine Verfolgungsjagd weit und breit. Niemand schießt. Keiner ist cool. Dafür sehe ich Verhöre, Internetsuchen, Bürokratie. Verfolge die komplizierte Motivationen der Figuren und ein verwickeltes Geflecht von Absichten, Anti- und Sympathien und bin unter Hochspannung. Ich interessiere mich für diese Leute und will wissen, was sie tun, was ihnen passieren wird.

  © BBC
 
BODYGUARD - eine BBC-Serie auf Netflix. 
In sechs Episoden wird eine politische Intrige erzählt, meistens aus der Sicht eines traumatisierten Afganistan-Veteranen, der ausgemustert, nun eben dieser Bodyguard ist.
Die Serie ist in England ein emormer Erfolg. Spannend, schnell und griffig, mit einem sympathischen Helden, der aber auch ein effizienter Killer mit PTBS, posttraumitischer Belastungsstörung, sein könnte. Alle 20 Minuten ein überraschender Dreh und auch, immer mal wieder, genug Zeit für den "Helden" Atem zu schöpfen. Nein, realistisch ist die Handlung nur in der Behauptung, nicht in der Glaubwürdigkeit. Aber das stört mich nicht. Dies ist ein Thriller, Realismus wird nicht erwartet.


Warum können die das so gut?

ANDERE BEISPIELE: Jed Mercurio (die beiden oben beschriebenen Serien), Peter Moffat (Silk), 
Kevin Macdonald (State of Play), Susanne Bier (Nightmanager), Jimmy McGovern (Cracker). Silent Witness, London Spy, Vera, etc., etc.

Und die Skandinavier und die Dänen haben auch einiges im Petto. 
Und warum kann das deutsche Fernsehen das so gar nicht?

Und ein neues schönes Wort habe ich noch gelernt, selten verwendbar, aber trotzdem fein.
Das Kompromat (russisch компромат, kurz für компрометирующий материал) ist ein ursprünglich aus dem Jargon des sowjetischen Geheimdienstes KGB stammender Begriff für kompromittierendes Material, meist über einen Politiker oder eine andere Person des öffentlichen Lebens. So sagt Wiki.

Mittwoch, 24. Oktober 2018

Berlin auf Zelluloid



Berlin in Schwarz-Weiß und Farbe

https://www.youtube.com/watch?v=B-m9A8mY-U0


Im Museum für Deutsche Geschichte unter den Linden habe ich vor ein oder zwei Jahren Filmaufnahmen gesehen, leicht beschleunigt und hackig, wie es alte Aufnahmen so an sich haben. Die kurzen Streifen zeigten eine Strasse in Berlin um 1915, vermutlich den Kurfürstendamm, der Verkehr war angsteinflößend, Automobile, Kutschen, Strassenbahnen wild durcheinander und hochkonzentrierte Fußgänger, die versuchten mit Todesmut, die Straße zu überqueren. Kaum eine Lücke. Streß.
"Menschen am Sonntag" ein Stummfilm von Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer und Billy Wilder zeigt, halbdokumentarisch, eine lebenssüchtige, pulsierende Stadt voll mit Menschen, Dreck, Freude und Sehnsucht. "Die Büchse der Pandorra" oder "Eine Stadt sucht einen Mörder - M" oder "Kuhle Wampe" oder "Cabaret" oder "Das Schlangenei" oder "Berlin Alexanderplatz" oder "Berlin - Ecke Schönhauser" oder "Sonnenallee" sind einige von vielen anderen Berlin-Film-Beispielen.
Die Mode hat sich verändert, der Putz der Häuser ist heller, die Autos stromlinienförmiger, aber es bleibt unverkennbar meine Stadt. Die Intensität des Wollens bleibt sich, glaube ich, gleich über die Zeiten und in all diesen sehr unterschiedlichen Filmen erlebe ich eine sehr spezifische Ansammlung von Leuten mit ihrem Schweiß, ihrer Gier, ihren Ungereimtheiten und ihrer Lust. Berliner und Zugereiste die leben wollen.



https://www.dw.com/de/kino-favoriten-die-zehn-besten-berlin-filme/a-19255180

Nebenbei: God should love Christopher Isherwood!

"Babylon Berlin" zeigt mir Berlin als ein Ansammlung von Puppenhäusern, vermutlich historisch korrekt, aber säuberlich harmlos und irgendwie unbewohnt. Die Serie scheint stolz auf die genaue Rekonstruktion von Architektur, nur kann sie den Orten kein Leben einhauchen. Die ausführlich dargestellte Armut wirkt auf mich designt und kleidsam und bietet, trotz aller Zille-Zitate, keinerlei Verstörung, nur nette historisierende Häppchen. Und in diesem Konstrukt agieren Darsteller von sozialen Beispielgruppen. Der Süchtige, die Aufstrebende, der Zuhälter, etc..


KDW - Zigarrenabteilung - 1928

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Filmen_mit_Bezug_zu_Berlin

Ich weiß, das Vielen die Serie gefällt, mir mißfällt sie aus den obengenannten Gründen. Ich bin ein Berliner.

Montag, 22. Oktober 2018

Eine kleine Geschichte mit Happy End

Irgendwann in diesem zurückliegenden endlos scheinenden Sommer war ich Gast einer Gartenparty, einer Feier in einem Garten. Am Eingangstor wuchs ein wunderschöner Strauch mit fett leuchtenden, rostroten Blättern, den ich spontan lauthals bewunderte. Was einige Verwunderung hervorrief, da alle Anwesenden wußten, dass meine "Liebe zur Natur" sich sehr in Grenzen hält. Schön, wenn sie da ist, aber sie fehlt mir nicht, solange genug Großstadt bleibt.

Zum 60. Geburtstag bekam ich zu meiner überraschend großen Freude einen kleinen Verwandten dieses Strauches geschenkt und wollte ihn in der Rabatte vor meinem Haus einpflanzen. Der Wohngebietsgärtner kommt alle zwei Wochen und bis dahin hatte ich das Pflänzchen im Hausflur geparkt, um nach zwei Tagen festzustellen, dass jemand anderes, den Strauch auch schön fand und ihn mitgenommen hatte. Traurig, aber verständlich. Diebstahl aus botanischer Leidenschaft.
Ich habe dann, ohne viel Hoffnung, einen Brief ausgehängt, in dem ich die Geschichte dieses Geschenks erzählte.

Und, oh Wunder. Heute morgen war der Strauch einfach wieder da, mein Brief kommentarlos entfernt.
Der Hausmeister und ich haben jetzt ihn eingepflanzt.

Eine kleine gute Geschichte 


https://www.hauenstein-rafz.ch/de/pflanzenwelt/pflanzenportrait/laubgehoelze/Blasenspiere-Physocarpus-opulifolius.php

Wenn viele Blütensträucher ihren Zenit erreicht haben, dann erst hat die Blasenspiere ihren Auftritt. Ihre wunderschönen Blüten und ihre attraktive Belaubung dekorieren im Spätsommer nochmals Ihren Garten.
Der winterharte Zierstrauch ist nicht nur anspruchslos und robust, sondern auch pflegeleicht und somit ein ideales Gehölz für jeden Gartenliebhaber.


Physocarpus opulifolius, Diabolo oder weniger beindruckend, Blasenspiere biete Farbe, wechselnde Farbe, gelb, grün, graugrün und rot, je nach Jahreszeit.

Sonntag, 21. Oktober 2018

DIE EDDA am Schauspiel Hannover


Die Edda neu erzählt von Thorleifur Örn Arnarsson und Mikael Torfason, schon die Namen klingen exotisch. (Warum wirkt "exotisch" irgendwie schief im Zusammenhang mit nordischen Dingen?) Also passender: schon die Namen klingen verheißungsvoll fremd.

Bis auf 20 Minuten im ersten Teil war das ein ungewöhnlich spannender, mitnehmender Abend, und die kurze Strecke in insgesamt vier Stunden Theater hat mir mein perfektionierter Theaterschlaf gut verkürzt.

Das Bühnenbild ist faszinierend, es wird beherrscht von einem Deckel von vieleicht 50 Zügen mit integrierten Neonlampen, der in immer wieder überraschender Weise bewegt wird. Die Fläche bewegt sich schlangenartig oder wie ein Vorhang oder als Wand senkrecht oder schräg, verkleinert die Bühne oder läßt sie nach oben wachsen, wird zum Tier, zur Waffe, zum Rahmen. Toll. In der Mitte, der Stamm der Weltesche, erst liegend, dann zwischen Ober- und Unterwelt schwebend, im zweiten Teil noch ein dreistöckiges Gerüst um den Baum dazu und alle Schichten der Mythen in wilder Requisitenseligkeit mittendrin, vom Jesus am Kreuz bis zu Thors tödlichem Hammer. Ich mochte, dass die mythologische Tiefe immer wieder auf den Boden seiner Realisierung im Theater geholt wurde.

Die Kostüme, Gottseidank, mal nicht trendbewußt karg, sondern erfreulich theatralisch, kenntlichmachend und vielerzählend, ohne je in Folklore oder Bühnenhistorizismus zu verfallen. Ganzkörperanzüge, gemalt, wie Menschen ohne Haut, als Grundkostüm, darüber, was jeweils nötig ist für die Figur. Zwerge müssen nicht klein sein, aber sie tragen halt Gazezipfelmützen, Riesen nicht groß, sind aber massig in dicken Wollfädenkostümen.

Gabriel Cazes ist ein begnadeter Bühnenmusiker, alles live und wichtiger Bestandteil der Erzählung. Die choralen Stellen, werden im Spiel von den Darstellern gesungen.

Worum geht es? Um etwas ganz existentielles und alltägliches: wie alle sterben, jetzt, morgen oder übermorgen.
Und da liegt der Hund begraben, nach der Pause, wenn der Untergang beginnt, Ragnarök, die Apokalypse, wird der Endkampf der Götter, mit dem Abschiedsbrief den Mikael Torfason an seinen verstorbenen Vater geschrieben hat,verschnitten. Mikael weint über den Tod seines Vaters, der am Leberzirrhose starb und Freya, die Gattin Odins trauert um ihren Sohn Baldur, der nur dann von der Totengöttin Hel freigelassen wird, wenn alle Lebenden um ihn weinen würden, aber einer, Loki, weint nicht. Er verweigert sich, er ist der Riß, das Dazwischen.

Georg Büchner läßt seinen Woyzeck den großen Satz sagen:
Wir haben schön Wetter. Sehn Sie, so ein schöner, fester, grauer Himmel; man könnte Lust bekommen, ein' Kloben hineinzuschlagen und sich daran zu hängen, nur wegen des Gedankenstriches zwischen Ja und wieder Ja – und Nein. hh, Ja und Nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld? Ich will darüber nachdenken.
Ich bin froh, dass ich diesen überbordenden, ernstgemeinten Abend erlebt habe. Freie Spieler und keine Ironie, haben mir gut getan und wiegen gelegentliche Schwächen wahrlich auf.

Sarah Franke ist eine herrlich kraftvolle und kluge Schauspielerin.



https://www.youtube.com/watch?v=q7PiHuR8fKQ  
Ganz nebenbei, mit dem Auto haben wir bei der Hinfahrt bei relativ freier Autobahn über 3 Stunden gebraucht, zurück bin ich mit einem auf die Minute pünktlichen ICE in 1 Stunde und 40 Minuten gefahren. Cool, was? Im Anschluß mußte ich glücklicherweise nur nach dem Hackeschen Markt, denn die S-Bahn hatte eine große Auswahl von Schienenersatzverkehr.

Donnerstag, 18. Oktober 2018

Perfektion

Als ich heute Abend aus dem Theater kam, versuchte ich stotternd und nach den richtigen Worten suchend, einer Bekannten die Kluft, den Riss zwischen Bewunderung und Liebe zu beschreiben. Es ist für mich ein existentieller. 
Der Mann, den ich bewundere, anhimmle, toll finde mag schön sein, klug und witzig, die Nase dessen den ich liebe ist schief, er schnarcht, hat Kommunikationsprobleme und einen bedauerliche Vorliebe für Kalauer. So geht es mir auch mit der Kunst. 
Ein Beispiel: 
Klimts Porträts sind atemberaubend genau und individuell, "Der Kuss" ästhetisch aus einem grandiosen Guss (sorry für den Reim). Uneingeschränkte Hochachtung. 
Schiele hingegen malt ungelenk, kratzbürstig, verwundet, ja, er schleudert mir seine Verletzungen himmelsschön in die Fresse. Und ich liebe ihn dafür.
"Im Herzen der Gewalt" an der Schaubühne in der Regie von Thomas Ostermeier ist ein großartiger Theaterabend mit hochtalentierten Schauspielern, wunderbar technisch hochkomplizierten Videos und einer Ton- und Lichtregie, die nie fehl geht, mit magischen Zwischentänzen und einer klugen Dramaturgie. Alles stimmt. Ich bin aufmerksam, gespannt und nie gelangweilt. 
Und dann ganz am Ende wird versucht, sich mit mir zu verbünden, mein Einverständnis wird erbeten. 
Und ich?
Ich verweigere mich. Nicht dem Inhalt, aber der Verführung. Ich verwehre mein Mitgefühl. Das hat mich überrascht. Irritiert. 

© Foto: Arno Declair

Ist mit mir was nicht in Ordnung? Bin ich zu distanziert, zu mißtrauisch? Mangelt es mir an Empathie? 
Oder bin ich, zonengeprägt und jedwede Zustimmung nur unter Widerstand gebend, vielleicht ein starker Kampfgegner? Mich kriegt ihr nicht so leicht!
Das gleiche Problem hatte ich mit den Filmen von Ingmar Bergmann. Alle weinten und ich zog mich zurück. 
Ich habe heute Abend eine Hochleistung, die perfekte Realisierung des bürgerlichen Theaters gesehen. Bin ich neidisch? Erstaunlicherweise nicht. 
Was ist mit mir los?

Sonntag, 14. Oktober 2018

Unteilbar?

Fangen wir mit dem blöden Zeug an. 
"Nazis Raus" ist wirklich einer der dämlichsten mir bekannten Sprüche. Wo raus? Wo dann rein? Wenn wir "unteilbar" sein wollen, müssen wir sie drin behalten, denn sie sind ein Teil von uns, ob es uns gefällt oder nicht. "Uns" ist in diesem Fall das Volk, das deutsche. Von dem ich auch ein Teil bin, ob es mir gefällt oder nicht.

Und übrigens ist die AfD unangenehm, peinlich und beunruhigend, aber keine faschistische Partei. Bleiben wir genau, nicht alles ist das Gleiche. Scheinbar übersehen manche von uns schnell und gern, dass Demokratie auch das Aushalten gänzlich entgegengesetzter Meinungen, Haltungen verlangt. Solange jemand das Grundgesetz akzeptiert und nicht kriminell wird, darf er/sie denken, was er/sie will. Und ich muß das aushalten, als Demokrat und kann es trotzdem Scheiße finden. Und dagegen demonstrieren gehen.

Machen wir uns nichts vor, wir sind bereits geteilt. Das ist übel.

Wiki sagt:
Typische Merkmale einer modernen Demokratie sind freie Wahlen, das Mehrheits- oder Konsensprinzip, Minderheitenschutz, die Akzeptanz einer politischen Opposition, Gewaltenteilung, Verfassungsmäßigkeit, Schutz der Grundrechte, Schutz der Bürgerrechte und Achtung der Menschenrechte. Da die Herrschaft durch die Allgemeinheit ausgeübt wird, sind Meinungs- und Pressefreiheit zur politischen Willensbildung unerlässlich.

Die Stimmung war freundlich, das Wetter gut und eigentlich wirkte das Ganze eher wie ein Sonntagsausflug, zu dem halt ungewöhnlich viele Leute gekommen waren. Wir sind zwischen dem Fußballfanblock und der Queertruppe, inclusive einiger hinreißender Drag-Queens, gelaufen, oder besser gestanden, gelatscht, gelegentlich getanzt. 
Die Veranstalter sagen es waren 240 000, die Presse redet von mehr als 100 000 Leuten, nicht übel. Die hätten ja auch alle zum Samstagsbrunch gehen können, oder einkaufen, oder irgendwas anderes tun können, bei dem man nicht zwei Stunden rumsteht bis es losgeht. Nicht übel. Ich bin froh, dass ich trotz all der verständlichen Gegenargumente, mal wieder demonstrieren gegangen bin. 



Noch einmal Wiki:
Eine Demonstration (von lateinisch demonstrare, zeigen, hinweisen, nachweisen, Kurzform: Demo) im politischen Sinne ist eine in der Öffentlichkeit stattfindende Versammlung mehrerer Personen zum Zwecke der Meinungsäußerung.

Der Aufruf zur Demo mit dem Titel "#unteilbar: Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung" lautete:

"Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden. Wir halten dagegen, wenn Grund- und Freiheitsrechte weiter eingeschränkt werden sollen.
Das Sterben von Menschen auf der Flucht nach Europa darf nicht Teil unserer Normalität werden. Europa ist von einer nationalistischen Stimmung der Entsolidarisierung und Ausgrenzung erfasst. Kritik an diesen unmenschlichen Verhältnissen wird gezielt als realitätsfremd diffamiert.
Während der Staat sogenannte Sicherheitsgesetze verschärft, die Überwachung ausbaut und so Stärke markiert, ist das Sozialsystem von Schwäche gekennzeichnet: Millionen leiden darunter, dass viel zu wenig investiert wird, etwa in Pflege, Gesundheit, Kinderbetreuung und Bildung. Unzählige Menschen werden jährlich aus ihren Wohnungen vertrieben. Die Umverteilung von unten nach oben wurde seit der Agenda 2010 massiv vorangetrieben. Steuerlich begünstigte Milliardengewinne der Wirtschaft stehen einem der größten Niedriglohnsektoren Europas und der Verarmung benachteiligter Menschen gegenüber.
Nicht mit uns – Wir halten dagegen!
Wir treten für eine offene und solidarische Gesellschaft ein, in der Menschenrechte unteilbar, in der vielfältige und selbstbestimmte Lebensentwürfe selbstverständlich sind. Wir stellen uns gegen jegliche Form von Diskriminierung und Hetze. Gemeinsam treten wir antimuslimischem Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Antifeminismus und LGBTIQ*- Feindlichkeit entschieden entgegen.
Wir sind jetzt schon viele, die sich einsetzen:
Ob an den Außengrenzen Europas, ob vor Ort in Organisationen von Geflüchteten und in Willkommensinitiativen, ob in queer-feministischen, antirassistischen Bewegungen, in Migrant*innenorganisationen, in Gewerkschaften, in Verbänden, NGOs, Religionsgemeinschaften, Vereinen und Nachbarschaften, ob in dem Engagement gegen Wohnungsnot, Verdrängung, Pflegenotstand, gegen Überwachung und Gesetzesverschärfungen oder gegen die Entrechtung von Geflüchteten – an vielen Orten sind Menschen aktiv, die sich zur Wehr setzen gegen Diskriminierung, Kriminalisierung und Ausgrenzung.
Gemeinsam werden wir die solidarische Gesellschaft sichtbar machen! Am 13. Oktober wird von Berlin ein klares Signal ausgehen." 

Liste der Erstunterzeichnenden:
https://www.unteilbar.org/wir/erstunterzeichnende/ 

Die Muslimbrüderschaft ist, entgegen anderslauternder Behauptungen, nicht darunter. Sondern der Zentralrat der Muslime Deutschlands.

13.10.2018 Rede auf der Kundgebung #unteilbar am 13.10.2018 Auftakt AlexanderPlatz – Es gilt das gesprochene Wort. Aiman Mazyek (ZMD-Vorsitzender)
http://www.zentralrat.de/30412.php

Sonntag, 7. Oktober 2018

Mein kaltes Herz

Ich habe gerade den ersten Teil der vierzehnten Staffel einer Krininalserie gesehen. BBC, Silent Witness, das Thema ist Pädophilie. Und, zu meinem Schrecken bemerke ich, dass ich keinen Funken Mitleid für den Kinderschänder aufbringen kannn, sogar hoffe, dass er draufgeht. Mein kaltes Herz.

Und ich bin, überraschenderweise, froh, dass es Gesetze gibt, die, auf andere Weise kalt, aber ohne meine Wut einzubeziehen, verlangen, dass jeder Mensch nach Maßgabe unseres herrschenden Rechts verurteilt wird und nicht nach den Wünschen meiner nachvollziehbaren Rachegelüste. 

Vergriffe sich jemand an meiner Tochter oder der Lieblingsnichte würde ich gewissenslos seinen Tod wünschen, ihn befördern, vielleicht sogar verursachen.

https://www.ndr.de/kultur/geschichte/chronologie/Die-Rache-der-Marianne-Bachmeier,mariannebachmeier101.html 

Also steht im unvorstellbaren Extremfall, gefürchtet und hoffentlich nie Realität werdend, nur das Gesetz, zwischen meinem trauernden, regellosen Hass und den harterkämpften Regeln unserer Zivilisation.

Ja, manchesmal geht mir die mitfühlende Einsicht unserer Gerichte zu weit, harte Erlebnisse in jemandes Kindheit entschuldigen, meiner Ansicht nach, nicht alles und jedes. Ursachen und Entschuldigungen sind nicht das Gleiche. Informiertes Mitgefühl und selbstzerfleischendes Mitleid, verantwortungsloses Dulden und verständnisvolles Beurteilen sind nicht das Gleiche. Bleeding hearts nennen die schwache Seite die Englischsprechenden, Gutmenschen, die nur der deutschen Sprache mächtigen.

Aber, und dieses Aber ist immens wichtig, seit Hammurabi (1728-1686 v. Chr.) Gesetze in eine Steinsäule meißeln ließ, gibt es eine klare Grenze zwischen Rache und Strafe, zwischen Lynchjustiz und den begründeten Regeln der Strafverfolgung. 

Leider beugen sich diese Gesetze immer wieder zeitgemäßen Interessen, aber sowohl die Wut einzelner, und wäre ich einer davon, als auch die Erregung eines Mobs, einer zahlenmäßig großen Gruppe von Leuten, werden vom Gesetz in Schranken gehalten. Haben wir kein Gesetz, haben wir keine Zivilisation. 

Zwischen uns und dem Chaos steht nichts als die übel beleumdete, schwächelnde und momentan hart umkämpfte Demokratie. Und wie die Bulldogge Churchill sagte: Democracy is the worst form of government, except for all the others. Demokratie ist die übelste Regierungsform, nur dass alle anderen schlimmer sind.


Auf Facebook und im Leben begegnet mir gerade jetzt viel Wut, Wut und unverhältnismäßiges apokalyptisches Gequatsche.
Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? 
Georg Büchner in Dantons Tod

Was ist das in uns, das unsere Sehnsucht nach dem gefürchteten, erwarteten Endzeit-Szenario stärker sein läßt, als unsere Freude über die reale Verbesserung des Zustandes unserer Welt?

Seit 1990 ist die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, um 1,4 Milliarden gefallen. Das heißt täglich um 137.000 Menschen. Eine Milliarden und 400 Millionen Menschen weniger leben heute in extremer Armut.
Die Zeit Nº 40 

Das heißt nicht, dass alles zum Besten steht, sondern nur, dass es jetzt besser ist, als es noch vor kurzem war.

Ich bin kein Optimist. Keineswegs. Aber ich will auch nicht aus Gewohnheit im Schwarzdenken verharren. Ich möchte, dass die, die jünger sind als ich, eine Chance haben. Und die haben sie, wenn wir wachsam bleiben, aber auch nicht in altersgemäßen, bequemen Pessimismus verfallen.

Ein Stern wird geboren

Ein Freund von mir erschafft aufblasbare Kunstwerke, fliegende Pferde, riesige scheue Clowns, schwebende Giganten, bestehend aus nichts als Luft und Hülle. Mein liebstes ist ein Paar, der eine gefüllt, der andere leer, nur Hülle - und dann verliert der aufgeblasene seine Luft an den anderen, der bläht sich auf, bekommt Umfang und Form, beginnt zu leben, vom anderen bleibt nur das Außen. Leider finde ich kein Bild von diesen beiden in ständigem Vergehen und Geboren werden Untrennbaren.

Max Streicher, Quadriga, 2006. ©Max Streicher.

Heute Abend habe ich in meinem Lieblingskino auf Hof I "A star is born" gesehen. 1937 waren Janet Gaynor und Fredric March das tragische Paar in der ersten Verfilmung, die auch schon auf einem früheren Film basierte, George Cukor war der Regisseur der zweiten mit Judy Garland und James Mason, dann kam 1976 eine Version mit Barbra Streisand und Kris Kristofferson.
Die Grundgeschichte ist simpel, großer Star mit Problemen trifft zufällig junge hochbegabte Frau, sie verlieben sich, er fördert ihr Talent und während ihre Karriere schnell und steil beginnt, verlöscht die seine. Er trinkt mehr und mehr, und je nach Drehbuch bringt er sich um oder stirbt bei einem Unfall. Joan Didion and John Gregory Dunne werden jedesmal, auch bei der neuesten Verfilmung, als Drehbuchautoren genannt. Die beiden waren ein Paar und Didion hat eines meiner Lieblingsbücher geschrieben: "Die Stunde der Bestie" in Deutsch und im Original mit dem faszinierenden Titel "Slouching towards Bethlehem" oder" Latschen nach Bethlehem".
Dieser Fassung des alten Themas von 2018 ist es gelungen, eine heutige Geschichte zu erzählen, ohne mich daran zu hindern, am Ende weinen zu dürfen. Das ganze Kino hat geweint und statt einer witzigen Szene im Abspann gab es Nasenputzen, Schnüffeln und einiges verlegenes Kichern.
Bradley Cooper hatte ich schon gesehen, einmal sogar persönlich in einem Fahrstuhl in New York, hatte aber keinen großen Eindruck hinterlassen. Aber hier hat er seinen Doppel-Job als Regisseur und zweiter Hauptdarsteller wirklich gut gemacht. Lady Gagas Musik ist nicht mein Ding, aber hier ergreift sie mich, liefert sich mir aus, ungeschminkt, scheu und ehrgeizig.
Es wird mir die Geschichte einer Übergabe erzählt, von einer Generation zur nächsten, nicht so wie man leicht Hände schüttelt oder guten Rat gibt, sondern wie jedes Erblühen auch eines Vergehens bedarf. Das ist sehr traurig aber auch unvermeidbar.

 © Warner Bros.

Danach ein Gin &Tonic in der G&T Bar am Hackeschen Markt und einem wirklich guten Barmann bei der Arbeit zuschauen. Noch ein Genuß.