Ein Geständnis: Ich habe gestern Lars Eidinger zum ersten Mal auf der Bühne gesehen. Sein Ruf war mir zu Ohren gekommen, in ein oder zwei Fernsehspielen war er mir ein wenig auf die Nerven gegangen, dass er in Tartuffe mitspielen würde, wusste ich nicht. Peinlich.
Man war der gut! Er spielte übrigens, dies für die ebenso Uninformierten wie mich, den Tartuffe. Jetzt muß ich also versuchen, Karten für den Hamlet zu bekommen.
Die Altmann-Bühne eine schwarze Wand mit einem kleinen güldenen Kabinett in der Mitte, ein schwarzer 70er Jahre Ledersessel das einzige Möbel.
Es beginnt laut und schrill, geradezu entnervend ausgestellt, mit der Mutter des Hauses, hier ein Mann. Die Kinder sind gleichfalls wild-üble Chargen von unterschiedlicher Qualität. Der Vater tritt auf mit gepflegt langer Mähne und weinrotem Hemd - und mit ihm ein Anderer, dieselbe Frisur, nur strähnig und vor dem Gesicht hängend. Der Gesichtslose spricht erbarmungslos, rhythmisiert, mit heiligem Zorn Texte aus dem Neuen Testament und geht ab.
Es wird weiter geclownt und chargiert, das muß sein, habe ich später verstanden, damit der Kontrast steht.
Der Kontrast - Bettina Zimmermann & Lars Eidinger sprechen über die Liebe. Wow. So leise, so intelligent, so abgeklärt und doch verletzlich. Sie tun dies, während sich das quadratische Kabinett um 180 Grad gedreht hat und der unerschütterlich an den Propheten der Lehre und seine Wahrhaftigkeit glaubende Vater nunmehr schräg im Sessel an der Seitenwand hängt. Ein großartiges Bild der aus den Fugen geratenen Welt, in der im festgklebten Sessel die behauptete entspannte Sitzhaltung weiter behauptet wird, und wenn die stabilisierende verkrampfte Hand auch fast abfällt.
Dieser Tartuffe ist ein brennender Prediger, ein Fanatiker der Liebe, der in solcher Gesellschaft also nur zum Vieh werden kann. Elmire versteht das und weist ihn dennoch ab. Sie wiederholt seine wunderschönen Bibelzitate verwundert, enttäuscht, ihnen nachlauschend, so schön und so unmöglich.
Der Schluß ist ein bisschen abrupt, da fehlt irgendwas. Dass der Bote des König nicht kommt, ist sicher folgerichtig. Aber mein sentimentales Mörderherz hätte gern gewusst, was mit Tartuffe und Elmire, die als einzige am Finale nicht teilnehmen, denn noch geschieht.
Matthäus 25
Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist; ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt; ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt; nackt, und ihr habt mich nicht bekleidet; krank und gefangen, und ihr habt mich nicht besucht!
Ich glaube, sie haben die Schlachter-Übersetzung genutzt, da bin ich nicht ganz sicher. Würde aber passen, Franz Eugen Schlachter, Schweizer, stand der protestantischen Erweckungsbewegung nahe und studierte gründlich die Originalsprachen der Schrift. Es ist eine sehr klare, genaue, verständliche Version der Bibel.
Aus: DIE GNADENLOSE LIEBE
gefunden im Programmheft zu Tartuffe
Eine weitere dieser ungeschriebenen Regeln betrifft die religiösen Überzeugungen. Man muss so tun, als sei man ungläubig. Gibt man den eigenen Glauben offen und öffentlich zu, wird dies fast als etwas Schamloses, Exhibitionistisches empfunden. Wir alle scheinen uns in der Situation von Goethes Faust zu befinden, der, nach dem er mit Gretchen geschlafen hat, auf deren Frage »Nun sag', wie hast du's mit der Religion?« mit einer Fülle ausweichender Gegenfragen antwortet (s. Goethes Faust I, Vers 3415 ff.). Die verborgene Kehrseite dieses Widerstands besteht darin, dass niemand dem Glauben wirklich entkommt – ein Phänomen, das gerade heute, in unseren angeblich gottlosen Zeiten, besonders hervorgehoben zu werden verdient. D.h., in unserer angeblich atheistischen, hedonistischen, posttraditionellen, säkularen Kultur, in der niemand bereit ist, seinen Glauben offen einzugestehen, ist die zugrundeliegende Struktur des Glaubens dafür um so weiter verbreitet: Wir alle glauben heimlich. Lacans Position in diesem Zusammenhang ist klar und unzweideutig: »Gott ist unbewusst«, d.h. es ist ganz natürlich, dass der Mensch der Verlockung des Glaubens nachgibt. Diese Vorherrschaft des Glaubens, die Tatsache, dass das Bedürfnis zu glauben im Wesen der menschlichen Subjektivität liegt, ist das, was das gängige Argument, mit dem die Ordnungsgläubigen ihre Gegner zu entwaffnen versuchen, so problematisch macht: Nur diejenigen, die glauben, können verstehen, was es heißt, zu glauben, Atheisten sind daher von vornherein außerstande, mit uns zu diskutieren ... Falsch an dieser Argumentation ist die ihr zugrundeliegende Prämisse: Der Atheismus ist nicht die Nullstufe, die jeder verstehen kann, da sie lediglich die Abwesenheit Gottes oder des Glaubens an ihn bedeutet – vielleicht gibt es nichts, das schwieriger auszuhalten ist als diese Position, nämlich ein echter Materialist zu sein. Insofern als die Struktur des Glaubens diejenige der fetischistischen Spaltung und Verleugnung ist (»Ich weiß, dass es keinen Großen Anderen gibt, aber dennoch ... [glaube ich heimlich an ihn]«), ist nur der Psychoanalytiker, der die Nichtexistenz des Großen Anderen behauptet, ein echter Atheist. Selbst Stalinisten waren Gläubige, insoweit sie sich auf das Jüngste Gericht der Geschichte beriefen, das dereinst über die »objektive Bedeutung« unserer Taten entscheiden wird. Und selbst ein derart radikaler Verletzer von Grenzen wie Sade war kein konsequenter Atheist, denn die geheime Logik seiner Grenzüberschreitung ist ein gegen Gott gerichteter Akt der Auflehnung, d.h. die Umkehrung der gängigen Logik der fetischistischen Spaltung (»Ich weiß, dass es keinen Großen Anderen gibt, aber dennoch ...«): »Obwohl ich weiß, dass Gott existiert, bin ich bereit, mich gegen Ihn aufzulehnen, seine Verbote zu verletzen, so zu handeln, als existiere Er nicht!« Abgesehen von der Psychoanalyse (der freudschen, nicht der jungschen Deviation) war es vielleicht nur Heidegger, der in Sein und Zeit den konsequenten atheistischen Begriff der menschlichen Existenz entfaltete, die in einen kontingenten endlichen Horizont geworfen und deren ultimative Möglichkeit der Tod ist.
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In einem seiner (unpublizierten) Seminare kommentiert Jacques-Alain Miller ein unheimliches Experiment mit Ratten: In einem labyrinthartigen Kasten wird ein begehrtes Objekt (Futter oder ein sexueller Partner) zunächst leicht zugänglich gemacht; dann ändert man die Anordnung so, dass die Ratte das begehrte Objekt sieht und daher weiß, wo es sich befindet, aber keinen Zugang dazu hat; statt dessen hat sie, als eine Art Trostpreis, Zugriff auf eine Reihe ähnlicher Objekte von untergeordnetem Wert – wie reagiert die Ratte hierauf? Eine Zeitlang versucht sie, sich den Weg zu dem »echten« Objekt zu bahnen; nachdem sie sich sicher ist, dass sich dieses definitiv außerhalb ihrer Reichweite befindet, wird die Ratte darauf verzichten und sich mit einigen der minderwertigen Ersatzobjekte begnügen. Kurzum, sie wird handeln wie ein »rationales« utilitaristisches Subjekt. Doch das eigentliche Experiment beginnt erst jetzt: Die Wissenschaftler unterziehen die Ratte einem chirurgischen Eingriff, wobei sie ihr Gehirn mit Hilfe von Laserstrahlen manipulieren und allerlei Dinge tun, über die man, wie Miller es dezent formuliert, besser den Mantel des Schweigens breitet. Was aber geschah, nachdem die operierte Ratte erneut in jenes Labyrinth gesetzt wurde, dessen Objekt unzugänglich ist? Die Ratte insistierte: Sie gab sich nie mit dem Verlust des »echten« Objekts zufrieden und begnügte sich mit dem minderwertigen Ersatz, sondern kehrte immer wieder zu dem begehrten Objekt zurück und versuchte dieses zu erreichen. Kurzum, die Ratte wurde gewissermaßen vermenschlicht, sie ging jene tragische »menschliche« Beziehung zu dem absoluten Objekt ein, das unser Begehren gerade wegen seiner Unerreichbarkeit für immer fesselt. (Miller geht es natürlich darum, dass diese Quasihumanisierung der Ratte das Ergebnis ihrer biologischen Verstümmelung ist: Die bedauernswerte Ratte begann sich hinsichtlich des Objekts ihrer Begierde von dem Moment an wie ein Mensch zu verhalten, als ihr Gehirn durch einen »unnatürlichen« chirurgischen Eingriff verkrüppelt worden war.) Andererseits ist es genau diese »konservative« Fixierung, die den Menschen zu ständiger Erneuerung treibt, da er diesen Exzess niemals vollständig in seinen Lebensprozess integrieren kann. Wir sehen nun, warum Freud den Begriff »Todestrieb« verwendete. Die Psychoanalyse lehrt uns, dass Menschen nicht nur einfach lebendig sind, sondern von einem eigenartigen Trieb besessen sind, das Leben über den normalen Lauf der Dinge hinaus zu genießen, und der Tod steht schlicht und einfach für jene Dimension, die über das »gewöhnliche« biologische Leben hinausgeht.
Slavoj Žižek