Sonntag, 1. Mai 2011

Heinrich Heine - Über den Mai

Die Freiheit der Meinung setzt voraus, dass man eine hat. H.H.

Im wunderschönen Monat Mai

Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Knospen sprangen,
Da ist in meinem Herzen
Die Liebe aufgegangen
 
Im wunderschönen Monat Mai
Als alle Vögel sangen,
Da hab ich ihr gestanden
Mein Sehnen und Verlangen 
1822/23


Heinrich Heine, Zeichnung von Franz Theodor Kugler (1808-1858)
»So sah ich aus, heute Morgen, den 6ten April 1829. H. Heine«

Im Mai

Die Freunde, die ich geküßt und geliebt,
Die haben das Schlimmste an mir verübt.
Mein Herze bricht; doch droben die Sonne,
Lachend begrüßt sie den Monat der Wonne.


Es blüht der Lenz. Im grünen Wald
Der lustige Vogelgesang erschallt,
Und Mädchen und Blumen, sie lächeln jungfräulich -
O schöne Welt, du bist abscheulich!

Da lob ich mir den Orkus fast;
Dort kränkt uns nirgends ein schnöder Kontrast;
Für leidende Herzen ist es viel besser
Dort unten am stygischen Nachtgewässer.

Sein melancholisches Geräusch,
Der Stymphaliden ödes Gekreisch,
Der Furien Singsang, so schrill und grell,
Dazwischen des Cerberus Gebell -

Das paßt verdrießlich zu Unglück und Qual -
Im Schattenreich, dem traurigen Tal,
In Proserpinens verdammten Domänen,
Ist alles im Einklang mit unseren Tränen.

Hier oben aber, wie grausamlich
Sonne und Rosen stechen sie mich!
Mich höhnt der Himmel, der bläulich und mailich -
O schöne Welt, du bist abscheulich!
1853/54

Heines Totenmaske
 

1. Mai - Wie heisst das denn jetzt?


Tag der Arbeit, Maifeiertag, Kampftag der Arbeiterklasse oder -bewegung?

Wenn die Hexen genug getanzt hatten, gingen sie nach Hause, stellten den Besen in die Ecke, zogen sich bequeme Schuhe und einen Mantel an und gingen zur 1. Mai Demonstration.

Im Nachhinein wirkt der 1. Mai auf mich, wie eines der absurdesten Elemente, der an Absurditäten nicht armen Geschichte der DDR.
Am Morgen versammelten sich die Berliner Theater am 'Sammelplatz', Fahnen wurden ausgegeben, es wurde viel gequatscht, denn manche Kollegen anderer Theater sah man ja sonst nicht so oft. Dann wurde losgelatscht, anders kann man das nicht bezeichnen. Obwohl sehr genau bemerkt wurde, wenn jemand nicht anwesend war.
Die Militärparade kam zuerst, dann Kinder in Pionierkleidung, dann Bürger und Bürgerinnen nach Betriebszugehörigkeiten sortiert. Am Marx-Engels Platz stand die Tribüne, uralte Männer winkten beseligt oder mechanisch den Vorbeimarschierenden zu. Sie waren der Machtfülle nach sortiert und fast alle in Blass-Beige gekleidet, viele mit Hüten. Einmal standen drei strengblickende Chinesen mit auf der Haupttribüne, da müssen wir gerade mal kurzzeitig nicht verfeindet gewesen sein. Etwas tiefer und links saßen die niederen Chargen, auch Hans-Peter Minetti, Kandidat des ZK der SED und Direktor der Schauspielschule, der manisch grinste und mit den Armen wackelte. Er hatte so eine Überkämmfrisur und einmal hat der Wind seine Mütze weggeweht und die sorgfältig gelegte Haarsträhne wehte, einer Fahne gleich, von seinem halbkahlen Kopf. Dazu kam immer Beschallung aus den Lautsprechern, wer gerade an der Tribüne war, wurde begrüsst, dazwischen Lieder. In einem eine Zeile: "Du brauchst keine Brille, um Deinen Weg zu finden!" Eine Veranstaltung ohne Herz, ohne Leidenschaft, mit dem einzigen Zweck, nach außen Stärke und nach innen Einigkeit zu behaupten. und trotzdem war es oft ein gutgelaunter Tag, denn anschließend war Betriebsfest mit Eisbein und Erbspüree und Kinderbespassung und sehr viel Bier.

1949

1973

Wenn man bedenkt, wie dieser Feiertag entstanden ist! Es lebe der 1. Mai!

August Spies -  „Man kann nicht ewig wie ein Stück Vieh leben!“

Im Oktober 1884 rief die Federation of Organized Trades and Labor Unions of the United States and Canada zu einem landesweiten Streik für den 1. Mai 1886 auf. Ziel war die Arbeitszeitbegrenzung durch Einführung des Achtstundentages.
Am 1. Mai streikten in den USA insgesamt nach verschiedenen Schätzungen zwischen 300.000 und 500.000 Menschen. Der größte Streik fand in Chicago statt und umfasste rund 90.000 Teilnehmer. Die Situation war angespannt, die Miliz wurde in Bereitschaft versetzt. Die mit diesem und den darauf folgenden Tagen verbundenen Ereignisse werden als Haymarket Riot, Haymarket Affair und Haymarket Massacre bezeichnet und begründeten die Tradition den 1. Mai zum Kampftag der Arbeiterklasse zu erklären.

Als am 3. Mai die Polizei einschritt, um eine Versammlung von Streikenden nahe dem Erntemaschinen-Betrieb McCormick aufzulösen, wurden sechs Arbeiter getötet und einige weitere verletzt. In der folgenden Nacht versammelte sich eine Menge von mehreren tausend Streikenden und marschierte zum Haymarket Square. Wiederum versuchte die Polizei, die Versammlung aufzulösen. Der Protestmarsch wurde aber fortgesetzt und verlief friedlich. Auch der Bürgermeister der Stadt, Carter Harrison Sr., ging, nachdem er die Lage überprüft hatte, früh nach Hause.
Die Lage eskalierte am nächsten Tag, dem 4. Mai, als jemand eine Bombe in die Menge warf, die sich wieder am Haymarket-Square versammelt hatte. Zwölf Menschen starben, darunter der Polizist Mathias J. Degan noch am Ort des Geschehens, sowie sechs weitere Polizisten, die später ihren Verletzungen erlagen. Die Polizei eröffnete daraufhin das Feuer und tötete und verletzte eine unbekannte Zahl von Protestierenden. Da einige der Redner dieses Tages Anarchisten gewesen waren, ging man davon aus, dass ein Anarchist die Bombe geworfen hatte. Ein Beweis für eine solche Verbindung konnte allerdings nicht erbracht werden. Bis heute ist unklar, wer die Bombe geworfen hat.
Obgleich niemand überhaupt den Bombenwerfer erkannt hatte, wurden acht Männer, welche den Streik mitorganisiert hatten, angeklagt und für schuldig befunden. Vier von ihnen, darunter August Spies - Chefredakteur und Herausgeber der anarchistischen Arbeiter-Zeitung, wurden durch den Strang hingerichtet, einer beging in seiner Zelle Suizid. Die noch lebenden drei wurden sechs Jahre später begnadigt. Es gab keine Beweise für eine Verbindung der Angeklagten zu dem Bombenanschlag. Vielmehr argumentierte Richter Joseph Gary, dass der Bombenwerfer auf Grund der Ideen der Männer gehandelt hätte und diese damit ebenso schuldig wären, als hätten sie selbst den Anschlag verübt.


Samstag, 30. April 2011

30. April - Walpurgisnacht

Walburga oder Walpurga war eine Äbtissin aus England  und lebte von ca. 710 bis ca. 779.
Wiki sagt: Geboren als eines von vielen Kindern einer wohlhabenden englischen Familie in Devon (Wessex), soll sie, früh verwaist, bereits im Alter von 10 oder 11 Jahren in das Kloster von Wimborne in Dorset aufgenommen worden sein, zu dieser Zeit bekannt für seine Gelehrsamkeit und gute Ausbildung für junge Frauen aus der westsächsischen Oberschicht, für die eine Heirat nicht vorgesehen war. Dort verbrachte sie rund 26 Jahre ihres Lebens und wurde auf eine Aufgabe als Missionsleiterin, in den zu dieser Zeit weitgehend noch nicht christlich geprägten deutschen Landen, vorbereitet.
Nach dem Tod ihres Bruders Wunibald von Heidenheim 761 übernahm Walburga das von ihm etwa zehn Jahre zuvor gegründete Männerkloster Heidenheim, einen wichtigen Missionsstützpunkt; wenig später kam ein Frauenkloster hinzu. Durch die Leitung dieses mächtigen Doppelklosters wurde Walburga zu einer der bedeutendsten Frauen des christlichen Europas.
Der genaue Todestag Walburgas ist nicht eindeutig belegbar. Die Heiligsprechung Walburgas durch Papst Hadrian II. erfolgte am 1. Mai (vermutlich im Jahre 870) anlässlich der Umbettung ihrer Gebeine. Durch zahlreiche Wunder, die ihr zugeschrieben wurden, gilt sie als Schutzpatronin für die Seefahrt und gegen böse Geister.
Im Mittelalter war die Feier ihrer Heiligsprechung und der Umbettung ihrer Gebeine am 1. Mai weit verbreitet. Daher heißt die Nacht zum 1. Mai Walpurgisnacht.
 
St. Walpurga gives the beggar Ex-Lax, woodcut by Heinster Buffó, 1134.
Tatsächlich ist die Nacht vor dem 1. Mai als vorchristliches Frühlingsfest wohl älter als die Heiligsprechung Walpurgas und ihr Name erst später mit den später »verteufelten« Berggipfelriten aus älterer Zeit verknüpft worden. 
Die Walpurgisnacht findet mythologisch in der ersten Vollmondnacht zwischen der Frühjahrestagundnachtgleiche und der Sommersonnenwende statt. Jedoch ist es seit langer Zeit so, dass das Fest immer in der Nacht vom 31. April auf den 1. Mai gefeiert wird. An diesem Tag wurde ein mit diversen Opfern einhergehendes Frühlingsfest gefeiert aus Freude über das Ende des Winters, sowie zu Ehren von Wotans Hochzeit. Im Glauben der Germanen vertrieben Wotan und Freya in dieser Nacht den Winter und zeugten den Frühling. In Folge der Christianisierung wurde im Laufe der Zeit aus der Göttin Freya das Hexenvolk und aus dem Gott Wotan der Teufel. 
1603 im Calendarium Perpetuum: „Den nehesten Tag vor Philippi Jacobi zu Abend pflegen Zeuberer viel Teuffeley zu uben / damit sie die Leute viel beleidigen“ 
Ernst Barlach "Goethes Walpurgisnacht"
Johannes Praetorius schreibt in seiner Blokkes Berges Verrichtung über die Verknüpfung der grossen Hexenfahrt mit Walpurga, die Heilige wäre selbst die Ursache dafür, »Indem sie, wie sie noch am Leben gewesen, durch ihre Heiligkeit dem Teufel sich gewaltig zuwider gesetzet, und für andere Weiber bestürmet hat. Hierdurch mag der Teuf feletwann Anlass genommen haben, ihren Feyertag mit seinen Burschen zu schimpf fieren, und durch alle Jahr dafür Abrechnung zu halten«. »Noch ferner kann die Zeit auch selbsten verdächtig seyn, indem die Weibs Bilder, die grösseste Lust und Geilheit im Majo befinden sollen« 
Johannes Praetorius Blockes-Berges Verrichtung Oder Ausführlicher Geographischer Bericht / von den hohen trefflich alt- und berühmten Blockes-Berge

Johannes Praetorius: Blockes-Berges Verrichtung, Leipzig u.a. 1668
Das Hexeneinmaleins

   Du mußt versteh'n!
   Aus Eins mach Zehn,
   Und Zwei laß geh'n,
   Und Drei mach gleich,
   So bist Du reich.
   Verlier die Vier!
   Aus Fünf und Sechs,
   So sagt die Hex',
   Mach Sieben und Acht,
   So ist's vollbracht:
   Und Neun ist Eins,
   Und Zehn ist keins.
   Das ist das Hexen-Einmaleins!
  Johann Wolfgang von Goethe (Faust)
Ernst Barlach "Goethes Walpurgisnacht"
http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=4314

Freitag, 29. April 2011

Sonett 66


Ein englisches Sonett (a-b-a-b / c-d-c-d / e-f-e-f / g-g), 1609 erstmals zusammen mit 153 anderen Sonetten und dem Gedicht "A lover's complaint" (Die Klage/Beschwerde des Liebenden) wahrscheinlich als Raubdruck erschienen. Das Buch ist Master W. H. gewidmet, die Sonette 1 bis 126 sind an einen schönen jungen Mann (fair boy) gerichtet, 127 bis 154 an eine dunkle Dame (dark lady).

W.H. Auden schrieb: „Über kein literarisches Werk ist mehr Unsinn geschrieben worden“ und er mag Recht haben, und dann liest man und spürt, dass ein Mann aus der englischen Provinz, im von Hunger und Pest geplagten London um 1600 vorformuliert hat, was beinah ein jeder von uns manchmal denkt und nicht in Worte fassen kann und man meint, er würde einen kennen. Das ist Poesie!

Von Nummer 66 gibt es circa 180 deutsche Übersetzungen und auch eine ins Klingonische für Trekkies. 

Das Original:

Tyr'd with all these for restfull death I cry,
As to behold desert a begger borne,
And needie Nothing trimd in iollitie,
And purest faith vnhappily forsworne,

And gilded honor shamefully misplast,
And maiden vertue rudely strumpeted,
And right perfection wrongfully disgrac'd,
And strength by limping sway disabled,

And arte made tung-tide by authoritie,
And Folly (Doctor-like) controuling skill,
And simple-Truth miscalde Simplicitie,
And captiue-good attending Captaine ill.

Tyr'd with all these, from these would I be gone,
Saue that to dye, I leaue my loue alone.

Die Fassung in modernem Englisch:
Tired with all these, for restful death I cry,
As, to behold desert a beggar born,
And needy nothing trimm'd in jollity,
And purest faith unhappily forsworn,

And guilded honour shamefully misplaced,
And maiden virtue rudely strumpeted,
And right perfection wrongfully disgraced,
And strength by limping sway disabled,

And art made tongue-tied by authority,
And folly doctor-like controlling skill,
And simple truth miscall'd simplicity,
And captive good attending captain ill:

Tired with all these, from these would I be gone,
Save that, to die, I leave my love alone.

Wolf Biermanns Übersetzung:

Müd müd von all dem schrei ich nach dem Schlaf im Tod

Weil ich ja seh: Verdienst geht betteln hier im Staat

Seh Nichtigkeit getrimmt auf Frohsinn in der Not

Und reinster Glaube landet elend im Verrat



Und Ehre ist ein goldnes Wort, das nichts mehr gilt

Und einer Jungfrau Tugend wird verkauft wie’n Schwein

Und weil Vollkommenheit man einen Krüppel schilt

Und weil die Kraft dahinkriecht auf dem Humpelbein



Gelehrte Narrn bestimmen, was als Weisheit gilt

Und Kunst seh ich geknebelt von der Obrigkeit

Und simple Wahrheit, die man simpel Einfalt schilt

Und Güte, die in Ketten unterm Stiefel schreit



Von all dem müde, wär ich lieber tot, ließ ich
In dieser Welt dabei mein Liebchen nicht im Stich

Und die von Gustav Landauer:
Dies alles müd schrei’ ich nach Todesrast
Verdienst zu sehn als Bettelmann geboren,
Und dürftiges Nichts in Herrlichkeit gefasst,
Und reinste Treu’ zum Jammer auserkoren,

Und goldne Ehre, die den Falschen krönt,
Und jungfräuliche Tugend roh geschändet,
Und echte Hoheit ungerecht verpönt,
Und Kraft von lahmer Tyrannei entwendet,

Und Kunst geknebelt von der Obrigkeit,
Und Geist vorm Doktor Narrheit ohne Recht,
Und dumm befunden schlichte Redlichkeit,
Und Sklave Gut im Dienst beim Herren Schlecht:

Dies alles müd möcht’ ich begraben sein,
Ließ ich nicht sterbend, Liebster, dich allein.

Von Dorothea Tieck:

Satt alles dies, ruf’ ich des Todes Nacht –
Als: das Verdienst als Bettler sehn geboren,
Und ärmstes Nichts geschmückt in Glanz und Pracht.
Und reinste Treue unglücklich verschworen.

Vergold’te Ehre schandbar missgestellt,
Und jungfräuliche Tugend rau geschändet,
Und das Vollendete gekränkt, entstellt,
Und Kraft durch hinkenden Befehl entwendet.

Und Kunst verstummt vor Eitelkeit und Neid,
Torheit, die altklug, weist den Witz zurecht,
Einfält’ge Treu, geschimpft Einfältigkeit,
Gut, kriegsgefangen, dienen Kriegsherr’n schlecht.

Satt alles dies, möcht ich von hinnen scheiden,
Nur dass ich, sterbend, muss den Liebsten meiden.

Und Stefan George:

Dies alles müd ruf ich nach Todes Rast:
Seh ich Verdienst als Bettelmann geborn
Und dürftiges Nichts in Herrlichkeit gefasst
Und reinsten Glauben unheilvoll verschworn

Und goldne Ehre schändlich missverwandt
Und jungfräuliche Tugend roh geschwächt
Und das Vollkommne ungerecht verbannt
Und Kraft durch lahme Lenkung abgeflächt

Und Kunst schwer-zungig vor der Obrigkeit
Und Geist vorm Doktor Narrheit ohne Recht
Und Einfachheit missnannt Einfältigkeit
Und Sklave Gut in Dienst beim Herren Schlecht.

Dies alles müd möcht ich gegangen sein,
Ließ ich nicht, sterbend, meine Lieb allein.

Francisco de Goya y Lucientes: Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid.
1814

 Oscar Wilde hat einen Kurzroman "The Portrait of Mr. W. H." verfasst.

Donnerstag, 28. April 2011

Theater hat auch Effekte

Ein Mann sitzt auf einem Stuhl, die Schminke, die ihn als Neger kennzeichnet, ist nurmehr nur ein schwitziger Rest, er hält den letzten Monolog des Abends.

Gemach! – Nur noch zwei Worte, eh' Ihr geht!
Ich tat Venedig manchen Dienst, man weiß es:
Nichts mehr davon! – In Euren Briefen, bitt' ich,
Wenn Ihr von diesem Unheil Kunde gebt,
Sprecht von mir, wie ich bin – verkleinert nichts,
Noch setzt in Bosheit zu: Dann müßt Ihr melden
Von einem, der nicht klug, doch zu sehr liebte;
Nicht leicht argwöhnte, doch, einmal erregt,
Unendlich raste: von einem, dessen Hand,
Dem niedern Juden gleich, die Perle wegwarf,
Mehr wert als all sein Volk; des überwundnes Auge,
Sonst nicht gewöhnt zu schmelzen, sich ergeußt
In Tränen, wie Arabiens Bäume taun
Von heilungskräft'gem Balsam – schreibt das alles;
Und fügt hinzu: daß in Aleppo, wo
Ein gift'ger Türk' in hohem Turban einst
'nen Venetianer schlug und schalt den Staat, –
Ich den beschnittnen Hund am Hals ergriff
Und traf ihn – so!  
Hier macht der Spieler mit leichter, fast nachlässiger Geste eine Querbewegung über die Kehle und  stirbt indem sein Kopf weich nach unten fällt. Er hatte sich, Penthesilea gleich, zu Tode geredet, das übliche "er ersticht sich" ist nicht mehr nötig, die Geste Gewalt genug, man hätte ein Nadel fallen hören können. Black. Ein Effekt. (Othello in Wien mit Gert Voss.)

Eine Bühne: Videosequenzen aus Eisenstein Filmen und historischen Dokumentationen, ein Geräuschteppich von elektronischen Musikschnipseln und digitalisierten Alltagslauten, eine  riesige Bühnenmaschinerie bewegt sich von motorbetriebener Hand, irgendwo im Nebel Spieler, die möglicherweise wichtige Dinge verhandeln. Das Stück ist "Die Flucht" von Michail Bulgakow, der Ort Stuttgart. 500 Schwaben sitzen im Saal, die russische Revolution ist ihnen nicht nahe, der Abend schlägt auf sie ein mit eisener Hand. Effekte.

Das ist ein schwieriges Abwägen mit Effekten. Wo beginnt das hoffnungslose Hinterherhetzen, immer auf den Fersen der sich irrsinnig schnell entwickelnden technischen Möglichkeiten? Wo trifft moderne Techik auf archaisches Theater und es entsteht etwas Neues, etwas unerwartetes, erleuchtendes Neues?
Ein Beispiel: Robert Lepage inszeniert einen Teil seiner "Blue Dragon" Trilogie, eine der Figuren, eine junge Chinesin in Honkong, verdient sich ihren Lebensunterhalt mit dem Kopieren von europäischen Meistern der Moderne. Ein Raum, viele Bilderrahmen, die sich erst im Lauf der Szene alle mit ein und demselben van Gogh Portrait füllen werden. Das ist intelligent und es erzählt und die technische Perfektion ist verblüffend. Es hat Witz. Es ist theatralisch.

Maschinenzüge, Handzüge, Versenkungen, Auftritte von der Oberbühne, Pyrotechnik (Die man allerdings fast nicht mehr einsetzen kann, weil das katastrophenbeschwörende Sicherheitsdenken in Mitteleuropa zu solch blödsinnigen Auflagen geführt hat, dass man es besser gleich seien lässt.) Auch wenn ich also die alten hölzernen Windmaschinen, zerdepperten Donnerbleche, erbsengefüllten Regensiebe, mit Sand gefüllten Bambusrohre für Wellenrauschen inniglich liebe, Theatermittel, die in dieser oder ähnlicher Form, schon in Ephesos eingesetzt wurden und auch anderem gut eingesetztem Theaterzauber mit geradezu infantiler Freude begene, finde ich gar nicht, dass Elektronik, Video oder zum Beispiel die tollen neuen Scheinwerfer, mit Zoom und Farbwechslern und computergesteuerter Beweglichkeit nicht eine enorme Bereicherung unserer Möglichkeiten seien können. 
Aber merkwürdigerweise, macht die Menge der Effekte, die Hohlheit des Zentrums sichtbarer. Wenn da also nichts oder wenig gedacht, gewollt, beabsichtigt wird, scheint es, als schrien alle technischen Hilfsmittel ganz laut: "Der Kaiser ist nackt!" Wenn es halt Tünche bleibt, Ornament, Ausweichen vor den Schwierigkeiten der szenischen Kommunikation, Ersatz für Haltungen, wenn keine Reibung entsteht, dann sehne ich mich nach einer leeren, staubigen, halbwegs hellen Bühne mit Spielern, die sich das Herz aus dem Leibe spielen.

Eadweard Muybridge: Animal Locomotion Plate 99 1887


Francisco de Goya - Los Caprichos 2

«Diese Bilder … sind die ersten Schöpfungen einer neuen Kunst, die ersten Bilder des kommenden Jahrhunderts.»
Lion Feuchtwanger 

Goya bietet im Diario de Madrid am 6. Februar 1799 die Caprichos mit folgenden Worten an: „Eine Sammlung von Drucken launiger Themen, erfunden und radiert von Don Francisco Goya...."

"El sueño de la razón produce monstrous" - sueño kann Schlaf oder Traum heissen, es sind also zwei Übersetzungen möglich: Entweder entstehen Ungeheuer, weil/während die Vernunft schläft, oder der Traum von der (vollkommenen) Vernunft erzeugt sie. Wenn wir uns die Geschichte betrachten, ist es schwer, sich nur für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden, oder?
         
             The Sleep Of Reason Produces Monsters; Caprichos no.43; First Edition 1799














 
"Those who reach eighty suck little children; those under eighteen suck grown-ups. It seems that man is born and lives to have the substance sucked out of him."
"Jene, die die achtzig erreichen saugen kleine Kinder aus; jene unter achtzehn, saugen Erwachsene aus. Es scheint, dass der Mensch geboren wird und lebt, um seine Substanz aus sich heraus gesaugt zu bekommen."
There Is Plenty To Suck; Caprichos no.45; First Edition 1799

They Spruce Themselves Up; Caprichos no.51; First Edition 1799
Until Death; Caprichos no.55; First Edition 1799
Pretty Teacher!; Caprichos no.68; First Edition 1799
It Is Time; Caprichos no.80; First Edition 1799
"Es ist Zeit: Dann, wenn die Dämmerung naht, gehen alle ihrer Wege, Hexen, Kobolde, Erscheinungen und Phantome. Es ist gut, dass diese Kreaturen sich nicht gestatten gesehen zu werden, außer in der Nacht, wenn es dunkel ist. Niemand hat herausgefunden, wo sie sich einschliessen und verstecken während des Tages..."
"It Is Time: Then, when dawn threatens, each one goes on his way, Witches, Hobgoblins, apparitions, and phantoms. It is a good thing that these creatures do not allow themselves to be seen except by night and when it is dark! Nobody has been able to find out where they shut themselves up and hide through the day..."
"Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis", 1951 erschienen, ist einer der letzten Romane Lion Feuchtwangers, mit "Die Füchse im Weinberg" und "Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau" bildet er eine Trilogie, in der die französische Revolution als Sinnbild für eine Zeit des Umbruchs steht. Der Roman schildert das Leben Francisco de Goyas zwischen 1793 und 1803. Die Einführung des Häßlichen in der bildenden Kunst nennt ein Analyst das Kernmotiv des Romans.

Mittwoch, 27. April 2011

Francisco de Goya - Los Caprichos 1


Los Caprichos (spanisch, von italienisch Laune, Einfall) ist ein zwischen 1793 und 1799 entstandener Zyklus von 80 Blättern des spanischen Malers und Grafikers Francisco de Goya. Die damals neuartige Aquatinta - Technik ermöglichte es, Flächen in verschiedenen Grauwerten zu ätzen, während mit der klassischen Radiernadel die Linien und Umrisse gezogen wurden.
1792 hatte Goya nach schwerer Krankheit sein Gehör verloren, er zog sich aus dem Hofleben zurück und sein Blick, wohl im Ausgleich zum verlorenen anderen Sinn, verschärfte sich.
Er sagte, er wolle, "...die unzähligen Schwächen und Torheiten, die in jeder zivilisierten Gesellschaft zu finden sind, und die üblichen Vorurteile und hinterlistigen Methoden, welche Gewohnheit, Ignoranz und Selbstsucht normal gemacht haben... " zeigen.
Und das hat er. Die erste Edition wurde, nach scharfer "Kritik" durch die Inquisition, wieder zurückgezogen und 1803 an den König verkauft.


Nobody Knows Himself. (Caprichos, no. 6; First Edition 1799)
Love and Death. (Caprichos, no. 10; First Edition 1799)
They Are Hot. (Caprichos, no. 13; First Edition 1799)
All Will Fall. (Caprichos, no. 19; First Edition 1799)
Nothing Could Be Done about It. (Caprichos, no. 24; First Edition 1799)
A Bad Night. (Caprichos, no. 36; First Edition 1799)
Bravo! (Caprichos, no. 38; First Edition 1799)

Indianisches Cabaret

Nur durch einen Zufall hatte ich erfahren, dass heute der größte Dichter der kanadischen Cree-Indianer in der Stadt ist, mit einer Cabaret Show im Grünen Salon der Volksbühne. Schade, die Werbung war nichtexistent und es war mehr als schlecht besucht. Wirklich schade.
Eine wilde Mischung: Tomson Highway ist Cree, Kanadier, Poet, begeistert schwul und, was ich nicht wusste, eben auch Pianist und Komponist. Die Sängerin ist Kanadierin peruanischer Abstammung, der Saxophonist Berliner und die Lieder erinnern an jazzige Songs der 30er Jahre. Thompson erzählte, dass aufwachsend im äußersten Norden, kurz vor Alaska, seine Klavierlehrer eben alles Deutsche gewesen wären: Schubert, Schumann, Bach... und hat sich bei Deutschland freundlich bedankt. Die Texte waren teilweise in Cree, einer sehr kurzsilbigen und doch weichen Sprache, in französisch oder englisch. Die Sängerin Patricia Kano hat eine Stimme, die dem Saxophon in Variation und Überraschung um nichts nachstand und sie hat Sinn für Humor. Ein überraschender Abend, Verfremdungseffekt durch gelebte Multikulturalität (Ist das ein Wort?)
Ich wünschte mehr Leute hätten es gehört, gesehen.

http://www.metacafe.com/watch/3176659/tomson_highway_talks_about_the_cree_language/

http://www.youtube.com/watch?v=DXCjpYaZZZE

Dienstag, 26. April 2011

Dylan Thomas - Liebesbrief


Der einundzwanzigjährige Dylan Thomas traf Caitlin McNamara am 12.April 1936, im Wheatsheaf Pub in London, das Hotelzimmer ihrer ersten Nacht im Fitzrovia Hotel, ließen sie auf Caitlins Liebhaber, den Maler Augustus John anschreiben. Dylan Thomas' Hosen sollen so schmutzig gewesen sein, dass er sie in die Ecke des Zimmers stellen konnte. Die Ehe hielt bis zu seinem frühen Tod. Aber man fragt besser nicht wie sie hielt. 
Hier ein früher Liebesbrief an Caitlin:

"...du bist jetzt Wochen älter, ist Dein Haar grau? hast Du Dein Haar hochgesteckt. und siehst Du wie eine richtig erwachsene Person aus...? Du darfst nicht zu erwachsen aussehen, sonst würdest Du älter aussehen als ich, und Du wirst nie, ich werde dir nie erlauben, vernünftig zu werden, und ich werde nie, Du wirst mir nie erlauben, vernünftig zu werden und wir werden immer zusammen jung und unvernünftig sein. Es gibt, nehme ich an, in den Augen der Anderen, eine Art süßen Irrsinn um Dich und mich herum, eine Art verrücktes Erstaunen und Nichtbegreifen, nichtachtend die Fiesen und Gemeinen... Ich weiss, wir sind keine Heiligen oder Jungfrauen oder Wahnsinnige; wir kennen die Lust und die schweinischen Witze, und die meisten der schmutzigen Leute, wir können den Bus nehmen und unser Wechselgeld zählen und Strassen überqueren und wirkliche Sätze sagen. Aber unsere Unschuld reicht sehr tief, und unser unehrenhaftes Geheimnis ist, dass wir gar nichts wissen, und unser schreckliches tiefes Geheimnis ist, dass es uns nichtmal interessiert."

"…you're weeks older now, is your hair grey? have you put your hair up, and do you look like a real adult person…? You mustn't look too grown up, because you'd look older than me; and you'll never, I'll never let you, grow wise, and I'll never, you shall never let me, grow wise, and we'll always be young and unwise together. There is, I suppose, in the eyes of the They, a sort of sweet madness about you and me, a sort of mad bewilderment and astonishment oblivious to the Nasties and the Meanies…. I know we're not saints or virgins or lunatics; we know all the lust and lavatory jokes, and most of the dirty people; we can catch buses and count our change and cross the roads and talk real sentences. But our innocence goes awfully deep, and our discreditable secret is that we don't know anything at all, and our horrid inner secret is that we don't care that we don't."

Augustus John Portrait Caitlin McNamarra

Augustus John Portrait Dylan Thomas

Montag, 25. April 2011

Theater hat auch einen (oder manchen) Verrat

Dies ist ein unsachlicher Wutausbruch. Wer keine Lust darauf hat, sollte nicht weiterlesen.

Nach einem erstaunlich erschreckenden Erlebnis heute mit einem Theaterfreund, nein eigentlich einem Freund, habe ich das Gefühl, es ist ein guter Augenblick über eine der dunklen Seiten des von mir geliebten Theaters zu schreiben - den Verrat.
Und ich spreche hier nicht vom kleinen, niedlichen, negierbaren Verrat, der gemeinen witzigen Spitze oder dem Auflaufenlassen auf der Bühne, nicht von den "normalen" kleinen Verbrechen des Machtgefälles, sondern von dem Verrat, der uns als Gruppe den Ruf verschafft, keinen Charakter zu haben, kein Rückgrat, weil wir alles tun, um geliebt zu werden, alles vermeiden, was diese ominöse Geliebtwerden gefährden könnte. Von dem, der ins Herz schneidet und viele von uns zu Zynikern werden lässt. Von dem, der Einsamkeit erzeugt, weil er unser Vertrauen erschüttert, das Vertrauen darauf, dass wir alle Theater machen, weil wir es lieben.

Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel, die Proben sind gräulich, der Regisseur trinkt, die Spieler leiden, alle in Panik, es muss etwas geschehen. Zwei werde vorgeschickt, um den Intendanten von der katastrophalen Situation und der Besorgnis allerseits zu informieren und wenn sie mit dem Informierten wiederkommen, ist urpötzlich niemand mehr seiner Meinung - "So schlimm, ist es auch nicht! Wird schon! Wir haben doch noch 5 Tage!" - der verwunderte Intendant schaut fragend auf die beiden unglückseligen Postillone, die bestürzt schweigen. Die Premiere findet statt, ist ein sagenhafter Flop, es wird weiter geschwiegen und wenige Monate später erzählt man sich in der Kantine, verlegen grinsend, colorierte Erinnerungen.
Oder der Spieler, der mit grosser Offenheit und Willigkeit probiert und mit seiner Begeisterung nicht hinterm Berg hält, bis die erste Kritik erscheint und er mit weichem Übergang an anderen Tischen, als dem deinen sein Bier trinkt. Das funktioniert auch in umgekehrter Reihenfolge.
Oder, fast überflüssig zu erwähnen, der janusköpfige Kollege, manche bringen es auch auf weit mehr als zwei Gesichter, der sich, keines Widerspruches bewusst, wie eine verhungernde Hure, jedem an den Hals wirft, der nicht schnell genug weglaufen kann und das mit der immer gleichen, tiefen Wahrhaftigkeit.
Ich weiss, das klingt böse, aber heute bin ich böse, denn ich bin verraten worden.
Um mich etwas genauer zu erklären, ich bin mir durchaus bewusst, dass dieses Verhalten, nicht auf das Theater beschränkt ist, ABER: wir leben und arbeiten in einer merkwürdig ungenauen Welt, oszillierend zwischen Handwerk, Schweiss und dem Unbegreiflichen. Der Tischler, dessen Tisch wackelt, muss seinen mangelhaften Tischlerfähigkeiten ins Gesicht sehen, der Chirurg, dem der Patient mit dem unkomplizierten Blinddarm unter den Händen wegstirbt, muss sich ernste Fragen stellen, bei uns.... tja, bei uns bleibt vieles im Vagen, im Geschmack, im Geruch, im Trend, ungenau halt, unsicher, nicht verbindlich. Und wenn dann das ursächliche Vertrauen, die Grundverabredung erschüttert wird, was bleibt? Woher nimmt man die Chuzpe, die Unverschämtheit, mit durch nichts untermauertem Selbstbewusstsein auf die Bühne zu treten und zu "behaupten"?
So oft, wenn ich mit Kollegen über unsere gemeinsame Geliebte spreche, ist es, als sprächen wir von einer, von der wir wissen, dass sie sich gerade mit einem anderen amüsiert und mit ihm über unsere, ungelenken und naiven Liebesbezeugungen lacht.
Zu einem Zeitpunkt, an dem uns sowieso schon fast keiner mehr will, zücken wir das Gewehr und schiessen uns in den eigenen Fuss. Hallali!