Gestern in Rostock: "Effie Briest" inszeniert von Matthias Brenner mit Lisa Flachmeyer, Tim Ehlert, Ulrich K. Müller, Petra Gorr, Undine Cornelius, Jakob Kraze, Paul Walther, Dirk Donat, Laura Bleimund, Peer Roggendorf, Caroline Erdmann, Jörg Schulze, Michael Ruchter, Jessica Reinicke, Jewgeni Potschekujew und den Mitarbeitern aller Gewerke des Volkstheaters Rostock.
Premiere. Der Saal war leer. Kein einziger Zuschauer war anwesend. Keine Karte war verkauft worden.
Brandschutzprobleme waren seit Jahren bekannt, geforderte Nachbesserungen wurden aus dem Etat des Theaters durchgeführt, für ein weiteres Gutachten brauchte es über ein Jahr, zuletzt wurde noch eine Wand mit Brandschutztür mitten ins Foyer gebaut, in einer morgendlichen Probe erhielten die Spieler via Privat-Telefon aus Berlin (!) Nachricht von der Schließung ihres Hauses.
Niemand hat vorher von den baupolizeilichen Problemen gewusst? Das war eine ganz plötzliche Entdeckung? Man konnte vor der Katastrophe keine Vorbereitungen für einen Notfallplan treffen? Und jetzt, nach der Entscheidung, soll es bitte keine unsachlichen Diskussionen geben?
„Es geht nicht darum zu bremsen, aber auch nicht darum, irgendeine schnelle Entscheidung durch die Gremien zu ´peitschen`.“ Originalton des Bürgermeisters.
Das Haus ist seit dem 22. Februar 2011 für den Publikumsverkehr geschlossen.
Bisher gibt es einige sehr behelfsmäßige Notspielstätten, Es ist nicht bekannt, wann und ob es zu einer Wiedereröffnung des alten Hauses kommt, oder wo die Produktionen (Tanztheater, Oper, Konzerte, Schauspiel) in der Zwischenzeit oder bis zur Eröffnung des magischen Neubaus (von dem seit ungefähr 25 Jahren die Rede ist) zur Aufführung kommen könnten. Der früheste Termin für die Wiedereröffnung bei einer Investition von circa 3 Millionen wäre März 2012. Ein Neubau könnte frühestens 2016 realer 2017 fertig werden.
Das Theater Stuttgart hat die Sanierungsschließung seines Grossen Hauses in Zusammenarbeit mit der Stadt gründlich vorbereitet und spielt jetzt in einer tollen Übergangslösung vor vollen Zuschauerreihen. Andere Beispiele lassen sich finden.
Für eine Protest-Vorstellung des "Münchhausen" musste das Volkstheater 1000 Euro Miete an die Stadt für drei Stunden Aufenthalt im Rathaus der Stadt Rostock bezahlen.
Der jetzige Intendant ist der 10. seit der Wende. Soweit mir bekannt, hat es fast keiner der 9 Vorgänger bis zum regulären Ende seiner Amtszeit geschafft. Ein Großteil hat die Stadt nach vorfristiger Vertragsaufkündigung mit Abfindung verlassen müssen oder dürfen.
DIE VERANTWORTLICHEN:
Bürgermeister der Stadt Rostock:
Roland Methling
Intendant und Kaufmännischer Geschäftsführer:
Peter Leonhard
Aufsichtsrat:
Dr. Liane Melzer
Dr. Ingrid Bacher
Sandra Benzmann
Sabine Friesecke
Dr. Christel-Katja Fuchs
Eva-Maria Kröger
Heide Mundo
Dr. Anne-Kathrin Riethling
Susanne Schulz
Noch besitzt Deutschland ein Stadttheatersystem.
Und Geldmangel ist sicher nur eines seiner Probleme. Auch eines ist, auf welche Art sich Theater in einer Welt der Digitalisierung, Schnittverschnellerung, Zeitraffung in den sozialen Umbruch unserer Gesellschaft einmischen kann. Wie es Schau - Spiel bleiben kann, in dem Sinne, dass es erkennbare Vorgänge spielerisch durchforstet und sie zum Anschauen anbietet, damit wir uns wiedererkennen mögen in unserer Verzweiflung, unserer Komik und unserem Geheimnis. Diese Fragen, bedürfen jeden Tag neuer Antworten und manche dieser Antworten wollen wir nicht hören und unterhalten uns lieber untereinander in altbekannter Weise weiter, versichern uns gegenseitig unserer Sensibilität und Modernität und lassen die, die wir "bespielen" enttäuscht und ununterhalten zurück.
Aber es gibt auch die Politik! Und die will, zu großen Teilen, Kunst nicht finanzieren. Warum auch? Kunst? Die Schulen müssen bezahlt werde, die Krankenhäuser, die nationale Verteidigung, die Diäten, die Subventionen für die Industrie. Sparen tut not und Geiz ist geil, besonders wenn es etwas betrifft, was man eh nur unter Kinderkram einsortieren sollte. Altes Zeugs, archaischer Müll. Weg damit. Schaut nach Amerika! Da geht es doch auch ohne Subventionen. Und die Engländer arbeiten an einem ähnlichen Plan.
Politiker in Rostock gehen nicht ins Theater. Am gestrigen Abend, einem wichtigen und bedrückenden in der Geschichte des Rostocker Theaters war, wie schon so oft, kein Vertreter der Stadt anwesend. Der Anstand verlangt doch zumindest die Anwesenheit beim Begräbnis eines ungeliebten Kindes, oder?
§ 223 des Strafgesetzbuches sagt über den Tatbestand der Körperverletzung: Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Ich sage, wer ihm anvertraute Institutionen, auch kulturelle, misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, soll bestraft werden.
Aber zurück zum gestrigen Abend: Die Premiere wurde via Livestream übers Internet angeboten. Etwa 4000 Menschen sollen geschaut haben, toll, ABER mit Ausnahme von zwei, drei Clubs, die gemeisam Video guckten: es wurde nirgends hin gegangen, um gemeinsam mit anderen zu schauen, niemand konnte den Schweiß riechen, der vergossen wurde, kein Lacher veränderte den Lauf einer Szene, kein Atem nahm Einfluss auf das Tempo. Entsolidarisierung. Entfremdung. Am Ende verbeugten sich die Spieler vor dem leeren Saal und aus einem iPhone hörte man leise den Applaus der Zuschauer, die die "Vorstellung" in einem Musikclub verfolgt hatten.
Gestern haben viele geweint, ich nicht, mir war schlecht.