Freitag, 11. März 2011
Zbigniew Herbert - Der Siebte Engel
DER SIEBTE ENGEL
Der siebte engel
ist ganz anders
er heißt sogar anders
Schemkel
kein Gabriel
der güldene
eine stütze des throns
und baldachin
kein Raphael
stimmeister der chöre
auch kein
Asrael
planetenführer
geometer der unendlichkeit
vollendeter kenner der theoretischen physik
Schemkel
ist schwarz und nervös
vielmals vorbestraft
für schmuggel mit sündern
zwischen Abgrund
und himmel hallt
sein ständiges gestampfe
er hält nicht auf seine würde
und man lässt ihn in dieser schar
nur mit rücksicht auf die zahl sieben
aber er ist nicht wie die anderen
kein feldherr
Michael
ganz in schuppen und federbüschen
kein Asraphael
weltdekorateur
beschützer der üppigen vegetation
mit flügeln die wie zwei eichen rauschen
nicht einmal
Dedrael
apologet und kabbalist
Schemkel Schemkel
- murren die engel
warum bist du so unvollkommen
byzantinische maler
wenn sie die sieben malen
zeigen Schemkel
ähnlich den anderen
sie meinen nämlich
sie würden der lästerung schuldig
wenn sie ihn malten
so wie er ist
schwarz nervös
im alten ausgefransten glorienschein
von Zbigniew Herbert
Onoda Hirō - Nur nicht irre machen lassen!
Dies ist ein Wikipedia-Artikel, aber die Geschichte ist so irre, dass ich ihn hier vollständig wiedergeben möchte. Bitte beachtet die Jahreszahlen!
Onoda Hirō war auf Lubang stationiert, als im Februar 1945 amerikanische Truppen die Insel überrannten und kurz darauf das Kriegsende verkündeten. Onoda und die Soldaten Yuichi Akatsu, Siochi Shimada und Kinshichi Kozuka konnten in den Dschungel flüchten und versteckten sich dort.
Im Oktober 1945 fand die Gruppe ein Flugblatt, auf dem das Kriegsende mitgeteilt wurde. Kurz darauf ein Zweites mit der Aufforderung: „Der Krieg endete am 15. August. Kommt von den Bergen runter!“ Dem misstrauten die Soldaten aber, da sie ein paar Tage zuvor Schüsse vernommen hatten. Sie schlussfolgerten daher, dass es sich bei den Flugblättern um alliierte Propaganda handeln musste. Ende 1945 wurden weitere Flugblätter, mit dem Befehl des japanischen Generals Tomoyuki Yamashita, sich zu ergeben, abgeworfen. Die Gruppe um Onoda beriet sich, um letztendlich zu dem Schluss zu kommen, dass auch dieses Flugblatt eine List sei. Im September 1949 entfernte sich Akatsu von der Gruppe und ergab sich, nachdem er 6 Monate auf sich allein gestellt war, 1950 den Philippinern. Die verbleibenden drei Soldaten sahen im Verschwinden von Akatsu ein Sicherheitsproblem und wurden so noch vorsichtiger. Akatsu bestätigte unterdessen der Außenwelt, dass die anderen drei noch am Leben waren, was 1952 dazu führte, dass Briefe und Familienfotos mit der Aufforderung, sich zu ergeben, abgeworfen wurden. Die drei Japaner kamen dem erneut nicht nach. Während einer Schießerei mit lokalen Fischern wurde Shimada 1953 ins Bein getroffen. Onoda pflegte ihn daraufhin, bis er sich wieder erholt hatte. Am 7. Mai 1954 schließlich wurde Shimada dann von einem Suchtrupp erschossen, der die Männer ausfindig machen sollte.
Als Teil ihrer Guerillaaktivitäten verbrannten die beiden nun noch verbleibenden Männer Onoda und Kozuka am 19. Oktober 1972 Reis, welcher gerade von lokalen Bauern zusammengetragen wurde. Infolgedessen wurde Kozuka von der örtlichen Polizei erschossen. Nach diesem Vorfall wurde von den Behörden in Betracht gezogen, dass auch Onoda, der bereits im Dezember 1959 für tot erklärt wurde, noch leben könnte. Es wurden erneut Suchtrupps gebildet, die allerdings auch dieses Mal Onoda nicht ausfindig machen konnten. Die Nachricht, dass Onoda noch am Leben sein könnte, sprach sich bis nach Japan herum. Dort brach gerade der Student Suzuki Norio sein Studium ab und setzte sich das Ziel „Lieutenant Onoda, einen Panda und den Yeti zu finden, in dieser Reihenfolge“. Suzuki reiste in die Region, in der Onoda vermutet wurde, und suchte dort nach ihm. Weil Suzuki Japanisch sprach, gab sich Onoda ihm am 20. Februar 1974 zu erkennen. Beide wurden Freunde. Onoda lehnte es jedoch weiterhin ab, sich ohne den Befehl eines Vorgesetzten zu ergeben. Suzuki kehrte daher mit Fotos von sich und Onoda, als Beleg für ihr Treffen, nach Japan zurück. Dort machten die Behörden Onodas ehemaligen Vorgesetzten, Major Taniguchi, ausfindig, der inzwischen Bücherverkäufer geworden war. Dieser flog am 9. März 1974 nach Lubang, informierte Onoda über die Kapitulation Japans im und befahl ihm, sich zu ergeben. Das akzeptierte Onoda. Zu dieser Zeit trug er immer noch seine Uniform, sein Schwert, sein Gewehr sowie etwa 500 Schuss und mehrere Handgranaten bei sich. Obwohl er während seiner Zeit auf der Insel ungefähr 30 Menschen umbrachte, weitere ca. 100 verwundet hatte und in mehrere Schießereien mit der Polizei verwickelt war, wurde er aufgrund der Umstände vom philippinischen Präsidenten Marcos begnadigt.
Onoda Hirō war auf Lubang stationiert, als im Februar 1945 amerikanische Truppen die Insel überrannten und kurz darauf das Kriegsende verkündeten. Onoda und die Soldaten Yuichi Akatsu, Siochi Shimada und Kinshichi Kozuka konnten in den Dschungel flüchten und versteckten sich dort.
Im Oktober 1945 fand die Gruppe ein Flugblatt, auf dem das Kriegsende mitgeteilt wurde. Kurz darauf ein Zweites mit der Aufforderung: „Der Krieg endete am 15. August. Kommt von den Bergen runter!“ Dem misstrauten die Soldaten aber, da sie ein paar Tage zuvor Schüsse vernommen hatten. Sie schlussfolgerten daher, dass es sich bei den Flugblättern um alliierte Propaganda handeln musste. Ende 1945 wurden weitere Flugblätter, mit dem Befehl des japanischen Generals Tomoyuki Yamashita, sich zu ergeben, abgeworfen. Die Gruppe um Onoda beriet sich, um letztendlich zu dem Schluss zu kommen, dass auch dieses Flugblatt eine List sei. Im September 1949 entfernte sich Akatsu von der Gruppe und ergab sich, nachdem er 6 Monate auf sich allein gestellt war, 1950 den Philippinern. Die verbleibenden drei Soldaten sahen im Verschwinden von Akatsu ein Sicherheitsproblem und wurden so noch vorsichtiger. Akatsu bestätigte unterdessen der Außenwelt, dass die anderen drei noch am Leben waren, was 1952 dazu führte, dass Briefe und Familienfotos mit der Aufforderung, sich zu ergeben, abgeworfen wurden. Die drei Japaner kamen dem erneut nicht nach. Während einer Schießerei mit lokalen Fischern wurde Shimada 1953 ins Bein getroffen. Onoda pflegte ihn daraufhin, bis er sich wieder erholt hatte. Am 7. Mai 1954 schließlich wurde Shimada dann von einem Suchtrupp erschossen, der die Männer ausfindig machen sollte.
Als Teil ihrer Guerillaaktivitäten verbrannten die beiden nun noch verbleibenden Männer Onoda und Kozuka am 19. Oktober 1972 Reis, welcher gerade von lokalen Bauern zusammengetragen wurde. Infolgedessen wurde Kozuka von der örtlichen Polizei erschossen. Nach diesem Vorfall wurde von den Behörden in Betracht gezogen, dass auch Onoda, der bereits im Dezember 1959 für tot erklärt wurde, noch leben könnte. Es wurden erneut Suchtrupps gebildet, die allerdings auch dieses Mal Onoda nicht ausfindig machen konnten. Die Nachricht, dass Onoda noch am Leben sein könnte, sprach sich bis nach Japan herum. Dort brach gerade der Student Suzuki Norio sein Studium ab und setzte sich das Ziel „Lieutenant Onoda, einen Panda und den Yeti zu finden, in dieser Reihenfolge“. Suzuki reiste in die Region, in der Onoda vermutet wurde, und suchte dort nach ihm. Weil Suzuki Japanisch sprach, gab sich Onoda ihm am 20. Februar 1974 zu erkennen. Beide wurden Freunde. Onoda lehnte es jedoch weiterhin ab, sich ohne den Befehl eines Vorgesetzten zu ergeben. Suzuki kehrte daher mit Fotos von sich und Onoda, als Beleg für ihr Treffen, nach Japan zurück. Dort machten die Behörden Onodas ehemaligen Vorgesetzten, Major Taniguchi, ausfindig, der inzwischen Bücherverkäufer geworden war. Dieser flog am 9. März 1974 nach Lubang, informierte Onoda über die Kapitulation Japans im und befahl ihm, sich zu ergeben. Das akzeptierte Onoda. Zu dieser Zeit trug er immer noch seine Uniform, sein Schwert, sein Gewehr sowie etwa 500 Schuss und mehrere Handgranaten bei sich. Obwohl er während seiner Zeit auf der Insel ungefähr 30 Menschen umbrachte, weitere ca. 100 verwundet hatte und in mehrere Schießereien mit der Polizei verwickelt war, wurde er aufgrund der Umstände vom philippinischen Präsidenten Marcos begnadigt.
Donnerstag, 10. März 2011
Interview mit Matthias Freihof zu "Coming Out"
JS.: Rainer Carow hatte viele Kämpfe auszutragen, um seine Filme in der DDR realisieren zu können. Er soll sieben Jahre lang darum gerungen haben, das Drehbuch von „Coming Out“ gegen den Widerstand von, unter anderen, Karl-Heinz Maede, dem Generaldirektor der DEFA, durchzusetzen. Carow holte zur Unterstützung Gutachten ein, psychologische, soziologische, juristische, weißt Du etwas darüber?
MF.: Heiner hatte vor „Coming Out“ viele Jahre keinen Film gemacht, aber in der Zeit, soviel ich weiß, auch andere Stoffe eingereicht, die abgelehnt wurden. Ob es sieben Jahre waren, erinnere ich nicht mehr genau. Er wollte einen Film mit dem Arbeitstitel „Paule Panke“ drehen, der unter anderem wegen einer schwulen Nebenfigur nicht gewollt war. Laut Heiner haben er und unser Autor Wolfram Witt sich darauf hin gesagt: Ok! Dann erst recht! Dann kriegt ihr jetzt ein Buch, in dem das Thema Homosexualität im Zentrum steht!
Natürlich gab es eine breite Ablehnung dem Buch gegenüber. Maede sagte wohl, dass es einen solchen Film nie geben würde, so lange er DEFA-Chef ist! Heiner war Mitglied der Akademie der Künste und bei einer Veranstaltung traf er auf Kurt Hager, den obersten „Meinungsmacher“ der DDR. Er diskutierte mit ihm seine berufliche Situation und beklagte, dass all seine Projekte abgelehnt würden. Dieses Gespräch war dann sozusagen das „grüne Licht“. Der Film wurde über die Köpfe der mittleren Leitungsebene (Maede inklusive) durchgesetzt. Die Gutachten kenne und besitze ich. Aus heutiger Sicht sind sie wenig spannend, aber damals haben sie ihren Zweck erfüllt. In einem wurde hervorgehoben, dass es in den Konzentrationslagern der Nazis eine recht starke Solidarität zwischen den Insassen mit dem „roten Winkel“ und denen mit dem „rosa Winkel“ gegeben hat. Neben dem Original-Drehbuch und meinem Filmvertrag habe ich die Gutachten in Kopie dem Schwulen Museum in Kreuzberg überlassen und so der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Natürlich gab es auch während des Drehs seitens derer, die über Drehgenehmigungen zu entscheiden hatten, Versuche der Zensur, die Heiner aber glücklicherweise abschmettern konnte. Den Paragraph 175 gab’s zwar schon lange nicht mehr, aber die Berührungsängste der „Genossen“ waren groß.
JS.: Dirk Kummer war sehr jung damals, es war sein erster Film überhaupt, und für Dich wohl der zweite, wie war Carow als Schauspieler – Regisseur? (Und Du hast inzwischen bei Dirk Kummer gedreht, was war das für ein Film?)
MF.: Dirk hatte damals über die Akademie der Künste eine Meisterschülerschaft bei Heiner Carow für Filmregie und war eigentlich für den Dreh von „Coming Out“ als zweiter Regieassistent am Start. Bei den Probeaufnahmen für die Hauptrolle war Dirk immer der Spielpartner für die jeweiligen Schauspieler. Dabei fiel Heiner auf, wie gut Dirk spielen kann und hat dann Dirk gefragt, ob er die Rolle des „Matthias“ im Film spielen wolle. Wenn Dirk nicht vor der Kamera stand, hat er beim Dreh seinen Job als Assistent gemacht.
Heiner Carow war ein großartiger Schauspieler-Regisseur, hat sehr intensiv mit seinen Darstellern gearbeitet, das Maximum an Konzentration und Emotion gefordert, war manchmal über die Schmerzgrenze hinaus unerbittlich und seinen Schauspielern ein extrem launischer Liebhaber. Eine derart intensive Arbeit ist mir in meinem beruflichen Leben leider nie wieder begegnet.
Mein erster DEFA-Film war „Käthe Kollwitz“ und ich durfte den Sohn der wunderbaren Jutta Wachowiak spielen.
Meine erste Arbeit mit Dirk Kummer als Regisseur war für seinen TV-Film „Geschlecht Weiblich“. Dirk hat eine sehr professionelle, extrem konzentrierte, vertrauens- und liebevolle und entspannte Atmosphäre am Set geschaffen! Großartig! Den Film habe ich sehr gemocht und Ulrike Krumbiegel hat für ihre Hauptrolle den Fernsehpreis bekommen! Dirk und ich sind bis zum heutigen Tage sehr eng befreundet.
JS.: Du warst 28 als Du „Coming Out“ gedreht hast, und, so wie ich es in der taz gelesen habe, war der Film auch dein persönliches „Coming Out“? Hast Du Probeaufnahmen gemacht oder warst Du gleich besetzt? Wie war Deine Reaktion auf das Drehbuch, falls Du das überhaupt noch erinnerst?
MF.: Mein persönliches „Coming Out“ hatte ich als Teenager, aber für mich war es „politische Mission“, mich nach diesem Film, der dazu aufruft, aus dem Versteck zu kommen, auch in der Öffentlichkeit (Interviews) zu „outen“.
Wolfram Witt hatte mich mal in Frankfurt/Oder auf der Bühne gesehen, Heiner von mir erzählt und so wurde ich zu Probeaufnahmen eingeladen. Beim Casting war ich der erste und Heiner mochte mich sehr. Aber er wollte nicht glauben, dass gleich der erste Schauspieler sein „Phillipp“ ist und wollte weitere Kollegen sehen. Beim zweiten Casting wollte Heiner überprüfen, ob Dagmar Manzel und ich als Paar funktionieren und beim dritten Casting ging es dann darum, ob Dirk Kummer und ich zusammenpassen. Es war also ein ziemlich langes Prozedere über mehrere Monate! Ich habe das Drehbuch bis auf wenige Passagen sehr geliebt und wollte die Rolle natürlich unbedingt spielen! Als junger Schauspieler eine Hauptrolle bei DEM Heiner Carow zu spielen, war der Sechser im Lotto! Für den hätte ich auch ein Tablett durch’s Bild getragen! Zudem hat mich das Thema des Films selbst betroffen und ich fand es mehr als an der Zeit und sehr wichtig, dass dieser Film in der DDR gemacht wird! Heiner sagte mir nach Beendigung aller Probeaufnahmen, dass er einen zweiten Favoriten für die Hauptrolle hätte, der der Geschichte eine ganz andere Stimmung und Handschrift geben würde und dass er sich jetzt überlegen muss, WELCHEN Film er drehen will. Er hat sich für den Film mit mir entschieden und ich war überglücklich.
JS.: Sicher, die Gesetzgebung der DDR war, zu unserer Zeit, hinsichtlich Homosexualität schon recht fortschrittlich, der §175 war 1968 endlich abgeschafft worden, aber trotzdem weiß ich, dass Freunde sehr unter der provinziellen und kleingeistigen Denkart großer Teile der Bevölkerung gelitten haben. Es war nicht verboten, aber unerwünscht. Würdest Du diese Einschätzung teilen?
MF.: Absolut! Kuschelnde Genossen passten nicht ins Bild! Es gab zwar seit Anfang der Achtziger die ersten Printveröffentlichungen, Theaterabende, Kontaktanzeigen in der „Wochenpost“ und einen „Aufklärungsfilm“, der vom Hygienemuseum Dresden in Auftrag gegeben wurde, aber trotzdem war das Thema Homosexualität in der Öffentlichkeit nicht präsent. Vor allem nicht in der DDR-Provinz, woran sich ja leider bis heute (weltweit) nicht wirklich viel geändert hat. Ostberlin war die Ausnahme, wie es alle Großstädte bis heute noch sind. Dass Ostberlin für alle Schwulen und Lesben sehr attraktiv war, wussten natürlich auch unsere obersten Genossen. Und in den Achtzigern zog ein Gespenst auf, das auch die DDR-Oberen zum Umgang mit Homosexualität in der Öffentlichkeit zwang, nämlich HIV und AIDS. Die Mauer war nah und die Panik auf allen Seiten groß! Wir haben bei den Dreharbeiten zu „Coming Out“ natürlich auch darüber diskutiert , aber dann bewusst darauf verzichtet, HIV oder AIDS zu thematisieren, da es unsere Geschichte gesprengt hätte und kontraproduktiv zu dem gewesen wäre, das wir mit diesem Film erzählen und öffnen wollten.
JS.: Die Besetzungsliste klingt wie ein Ausschnitt aus der Sammlung meiner Lieblingsschauspieler, Dagmar Manzel, Michael Gwisdek, Werner Dissel, Gudrun Ritter, Walfriede Schmidt, Axel Wandtke, Pierre Bliss (heute Sanoussi-Bliss), Gudrun Okras und und und, war es eine eher angestrengte oder heitere Drehzeit?
MF.: Es war schon eine harte Drehzeit, denn wir haben ja hauptsächlich nachts gedreht! Die Kollegen hatten zum Teil tagsüber Proben und abends Vorstellungen, bevor sie zum Dreh kamen! Aber wir hatten alle sehr viel Spass und haben extrem viel rumgeblödelt! Einmal bei nem Nachtdreh im „Burgfrieden“ gab es eine sehr lange Pause, weil umgebaut und umgeleuchtet werden musste. Gudrun Okras und mir war langweilig! So sind wir heimlich um die Ecke ins „Café Nord“ gegangen, haben uns jeder drei Cola-Vodka gegönnt, bisschen getanzt und kamen dann sehr beschwingt zum Drehort zurück. Heiner hat natürlich „die Lunte“ gerochen, war stinksauer und hat uns beschimpft. Aber wir haben dieses „bisschen Leben“ gebraucht, mussten die nächsten Takes laut Buch sowieso „betrunken“ spielen und alles war letzten Endes so, wie der Regisseur es haben wollte. Immer, wenn ich diese Szene jetzt im Film sehe, muss ich innerlich kichern und schicke ein kräftiges „Prösterchen“ zu Gudrun, wo auch immer sie jetzt sein mag!
JS.: Einige der zärtlichsten Szenen sind die mit Werner Dissel, er strahlt eine solche Traurigkeit und Erschöpfung aus und wird doch nie sentimental, besonders im Zusammenspiel mit Micha Gwisdek und Dir entsteht da ein Bild von einem Versuch generationsübergreifender Verständigung. Wie hast Du Werner bei den Dreharbeiten erlebt?
MF.: Heiner hatte die Rolle des alten Mannes ursprünglich zwei anderen, sehr namhaften, Kollegen angeboten, die dann leider beide Berührungsängste hatten. Werner kannte ich vor dem Dreh nicht persönlich. Bei meiner ersten Drehbuch-Lektüre habe ich die Erzählung des alten Mannes gehasst. Ich dachte: Jetzt kommt wieder der typische DDR-Zeigefinger mit „Arbeiterklasse“, Naziverbrechen, antifaschistischer Solidarität etc. Die wirkliche Potenz dieser Szene hatte ich nicht erkannt. Werner hat diesem „Papier“ auf zauberhafte und sehr berührende Weise Leben eingehaucht! Großartig, was da passiert, zumal die Tragik der Geschichte immer wieder durch die gespielte Zickigkeit von Gwisdek und das Partytreiben gebrochen wird. Für mich war die Szene sehr hart! Heiner hat mich getreten, wollte das Weinen anders! Und versuche mal zu heulen, wenn dich 200 Komparsen und das komplette Team dabei anstarren und denken: „Nu heul doch endlich, du Depp! Wir wollen nach Hause!“ Keine so schöne Erinnerung!
JS.: Die Premiere war am 9.11.1989, am Tag als die Mauer geöffnet wurde, das war sicher ein surrealer Vorgang, als mitten in eure Premierenfeier Einer mit der Nachricht reinplatzte?
MF.: Ja das war absolut surreal! Keiner konnte ahnen, dass sich die DDR auf so banale Weise erledigen würde! Der Abend war einzigartig und hat unseren Film auf ewig mit dem Fall der Mauer verbunden.
Ich habe den Abend schon unzählige Male in vielen TV- und Zeitungsinterviews beschrieben und verzichte jetzt hier darauf!;)
JS.: Eure Premiere, die Premiere des ersten DDR-Films der Homosexualität zum zentralen Thema nahm, wurde durch das staatliche ‚Coming Out’ zum Nebenereignis, trotzdem haben damals eine Millionen Menschen den Film gesehen und er hat bis heute „Kult“-Status. Es ist ein sehr ruhig erzählter Film, ohne extrovertiertes Drama, die Bildsprache ist nahezu karg, wie erklärst Du Dir die große Wirkung selbst heute noch, wo es, Gott sei Dank, schon mehr als einen Film zum Thema gibt, wenn auch immer noch lächerlich wenige?
MF.: Viele schwule Filme, damals und heute, sind „aus dem Ghetto für’s Ghetto“ gemacht! Unser Anspruch war es, eine realistische, ehrliche und berührende Geschichte zu erzählen. Der Zuschauer wird eingeladen, nicht mit Effekten oder falschem Pathos gelockt, nicht verschreckt, aber emotional und moralisch verwickelt und JEDER Zuschauer kann sich mit den Figuren dieser Liebesgeschichte identifizieren! Liebe ist Liebe, Fleisch ist Fleisch! Auch ich nehme im Film oder im Theater den großen Anspruch viel lieber an, wenn er mir schlicht, fast bescheiden nahe gebracht wird. Mein Lieblingsfilm zu Thema „Coming Out“ ist die britische Produktion BEAUTIFUL THING – rührend, voller Humor und Herz, einfach fabelhaft!
JS.: Apropos Bildsprache, wenn ich mir den Film ins Gedächtnis rufe, sind da Bilder, besonders die kahle Neubauwohnung, die einsam und kühl wirken, obwohl doch z.B. Deine Filmwohnung auch der Ort der ersten Liebesnacht ist. Dies und eure zurückhaltende Spielweise hat mir großen Eindruck gemacht. Diese Figuren gestehen sich ihre großen Gefühle gar nicht zu, es ist ihnen fast peinlich, wenn sie leidenschaftlich, zornig oder verzweifelt werden. Das finde ich sehr modern, nur ist es hier nicht cool, sondern wohl das Ergebnis der Idealisierung des Mittelmaßes, dass in der DDR mehr oder weniger latent betrieben wurde.
MF.: Ich stimme Dir zu! Nur bin ich davon überzeugt, dass sich Heiner nie der Idealisierung des Mittelmaßes unterworfen hätte, sondern es ihm darum ging, das richtige Angebot zu finden, mit dem sich jeder identifizieren kann und das niemanden ausschließt. Dass er das geschafft hat, beweist, dass die Liebesgeschichte bis heute angenommen wird und nichts an Kraft verloren hat! Das hat sich mir bei allen Festivals und Publikumsgesprächen in all den Jahren und in all den Ländern immer wieder bestätigt.
JS.: Du hast erzählt, dass Du bis heute zu Festivals und anderen Gelegenheiten eingeladen wirst, um an Diskussionen zum Film teilzunehmen, auch in Länder, wo das Hauptthema von „Coming Out“ bis heute nur selten und dann kontrovers diskutiert wird. Wie sind Deine Erfahrungen mit solchen Zuschauergesprächen, wie weit ist die Spanne der Erwartungen und Irritationen? Kannst Du Dich an besonders eindrückliche oder erschreckende Gespräche erinnern?
MF.: Die Zuschauergespräche waren immer sehr lang und intensiv. Oft haben mir heterosexuelle Zuschauer erzählt, wie schön und erotisch sie die Liebesgeschichte finden. Schwule Zuschauer berichteten, dass sie sich in diesem Film absolut wieder finden, weil ihr eigenes „Coming Out“ genauso oder ähnlich abgelaufen ist. Unser Film ist ja auch ein sehr gutes Abbild des Lebensgefühls im Ostberlin kurz vor dem Mauerfall. Dieses Abbild ist natürlich für Zuschauer aus der westlichen Welt sehr fremd und irritierend. In Canada oder Italien wurde mir beschrieben, dass unser Film neben der Liebesgeschichte, die noch immer berührt und die man ja aus seiner Welt ähnlich kennt, einen einzigartigen, fast dokumentarischen Blick hinter den Eisernen Vorhang bietet!
Viele Leute haben mir immer wieder zum Dank ohne Worte die Hand gehalten, oder mich umarmt.
Im letzten Oktober wurde unser Film zum ersten mal in Sankt Petersburg gezeigt. Nach der Vorführung kam ein Junge auf mich zu, der sehr aufgewühlt schien und mir danken wollte. Er erzählte mir, wie schwer es für Schwule in der russischen Macho-Gesellschaft und unter dem Druck der eigenen orthodoxen Kirche sei, sich in der Öffentlichkeit zu outen. Ich hatte das Gefühl, dass er innerlich brannte! Er tat mir unendlich leid und seine Situation machte mich wahnsinnig wütend! Mir wurde klar, wie wichtig mein öffentliches Zu-Mir-Stehen für viele Menschen ist und wie wichtig das Statement unseres Filmes nach all den Jahren noch immer ist. Das einzige, was ich dem jungen Mann raten konnte, war, dass er sich von seiner Kirche verabschieden kann, in der für ihn kein Platz ist, ohne seinen Glauben aufgeben zu müssen. Das Goethe – Institut Sankt Petersburg war Mitveranstalter der Filmvorführungen in Russland. Tage vor der Veranstaltung ging bei den dortigen Mitarbeitern ein Drohanruf ein von einem Anwalt der Russisch-Orthodoxen Kirche mit dem Wortlaut: „Sie bringen die westliche Sodomie nach Russland!“
Arme Ritter
Dies ist ein Rezept von meiner Mutter, während Endproben, in den Küchen schon erwähnter Theaterwohnungen, (diese Küchen besitzen im Durchschnitt: eine Pfanne, drei unterschiedliche Teller, kein scharfes Messer und der Rest ist "hit and miss"), ohne Zeit zum Kochen, aber mit dem Bedürfnis nach Schönheit auf der Zunge und im Magen, gibt es nix Besseres. Nein, es ist nicht schlankmachend!
Arme Ritter (Rezept von BBS)
Toastbrot oder Brioche in Scheiben
1 Teller: 2 Eier mit etwas Milch verquirlen
1 Teller: Semmelbrösel mit Vanillinzucker vermischen
viel Butter in einer Pfanne erhitzen
Die Brotscheiben erst in der Eier-Milch-Mischung, dann in den Semmelbröseln wälzen.
braten
Variante: 2 Scheiben Brot nehmen, dazwischen z. B. Pflaumenmus streichen, zusammendrücken, panieren wie oben, braten
Die Butter muß öfter ausgetauscht werden, da sie leicht verbrennt. Auch die Pfanne dann auswischen. Besser noch: etwas Diät-Öl in die Butter geben.
P.S. Mit Ahornsirup anstatt Marmelade, heisst das Ganze French Toast und ist "Cuisine"!
Mittwoch, 9. März 2011
Herder über Shakespeare
Danke liebe Ötti,
Johann Gottfried Herder
Aus: Von deutscher Art und Kunst
II. Shakespeare
Wenn bei einem Manne mir jenes ungeheure Bild einfällt: »hoch auf einem Felsengipfel sitzend! zu seinen Füßen, Sturm, Ungewitter und Brausen des Meers; aber sein Haupt in den Strahlen des Himmels!« so ist's bei Shakespeare! – Nur freilich auch mit dem Zusatz, wie unten am tiefsten Fuße seines Felsenthrones Haufen murmeln, die ihn – erklären, retten, verdammen, entschuldigen, anbeten, verleumden, übersetzen und lästern! – und die Er alle nicht höret!Welche Bibliothek ist schon über, für und wider ihn geschrieben! – die ich nun auf keine Weise zu vermehren Lust habe. Ich [301] möchte es vielmehr gern, daß in dem kleinen Kreise, wo dies gelesen wird, es niemand mehr in den Sinn komme, über, für und wider ihn zu schreiben: ihn weder zu entschuldigen, noch zu verleumden; aber zu erklären, zu fühlen wie er ist, zu nützen, und – wo möglich! – uns Deutschen herzustellen. Trüge dies Blatt dazu etwas bei!
Die kühnsten Feinde Shakespeares haben ihn – unter wie vielfachen Gestalten! beschuldigt und verspottet, daß er, wenn auch ein großer Dichter, doch kein guter Schauspieldichter, und wenn auch dies, doch wahrlich kein so klassischer Trauerspieler sei, als Sophokles, Euripides, Corneille und Voltaire, die alles Höchste und Ganze dieser Kunst erschöpft. – Und die kühnsten Freunde Shakespeares haben sich meistens nur begnüget, ihn hierüber zu entschuldigen, zu retten: seine Schönheiten nur immer mit Anstoß gegen die Regeln zu wägen, zu kompensieren; ihm als Angeklagten das absolvo zu erreden, und denn sein Großes desto mehr zu vergöttern, je mehr sie über Fehler die Achsel ziehen mußten. So stehet die Sache noch bei den neuesten Herausgebern und Kommentatoren über ihn – ich hoffe, diese Blätter sollen den Gesichtspunkt verändern, daß sein Bild in ein volleres Licht kommt.
Aber ist die Hoffnung nicht zu kühn? gegen so viele, große Leute, die ihn schon behandelt, zu anmaßend? ich glaube nicht. Wenn ich zeige, daß man von beiden Seiten bloß auf ein Vorurteil, auf Wahn gebauet, der nichts ist, wenn ich also nur eine Wolke von den Augen zu nehmen, oder höchstens das Bild besser zu stellen habe, ohne im mindesten etwas im Auge oder im Bilde zu ändern: so kann vielleicht meine Zeit, oder ein Zufall gar schuld sein, daß ich auf den Punkt getroffen, darauf ich den Leser nun festhalte, »Hier stehe! oder du siehest nichts als Karikatur!« Wenn wir den großen Knaul der Gelehrsamkeit denn nur immer auf- und abwinden sollten, ohne je mit ihm weiterzukommen – welches traurige Schicksal um dies höllische Weben!
Es ist von Griechenland aus, daß man die Wörter Drama, Tragödie, Komödie geerbet, und so wie die Letternkultur des menschlichen Geschlechts auf einem schmalen Striche des Erdbodens den Weg nur durch die Tradition genommen, so ist in dem Schoße und mit der Sprache dieser, natürlich auch ein gewisser Regelnvorrat überall mitgekommen, der von der Lehre unzertrennlich schien. Da die Bildung eines Kindes doch unmöglich [302] durch Vernunft geschehen kann und geschieht; sondern durch Ansehen, Eindruck, Göttlichkeit des Beispiels und der Gewohnheit: so sind ganze Nationen in allem, was sie lernen, noch weit mehr Kinder. Der Kern würde ohne Schlaube nicht wachsen, und sie werden auch nie den Kern ohne Schlaube bekommen, selbst wenn sie von dieser ganz keinen Gebrauch machen könnten. Es ist der Fall mit dem griechischen und nordischen Drama.
In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte. In Griechenland war's, was es in Norden nicht sein kann. In Norden ist's also nicht und darf nicht sein, was es in Griechenland gewesen. Also Sophokles' Drama und Shakespeares Drama sind zwei Dinge, die in gewissem Betracht kaum den Namen gemein haben. Ich glaube diese Sätze aus Griechenland selbst beweisen zu können, und eben dadurch die Natur des nordischen Drama, und des größten Dramatisten in Norden, Shakespeares sehr zu entziffern. Man wird Genese einer Sache durch die andre, aber zugleich Verwandlung sehen, daß sie gar nicht mehr dieselbe bleibt.
Die griechische Tragödie entstand gleichsam aus einem Auftritt, aus dem Impromptus des Dithyramben, des mimischen Tanzes, des Chors. Dieser bekam Zuwachs, Umschmelzung: Äschylus brachte statt einer handelnden Person zween auf die Bühne, erfand den Begriff der Hauptperson, und verminderte das Chormäßige. Sophokles fügte die dritte Person hinzu, erfand Bühne – aus solchem Ursprunge, aber spät, hob sich das griechische Trauerspiel zu seiner Größe empor, ward Meisterstück des menschlichen Geistes, Gipfel der Dichtkunst, den Aristoteles so hoch ehret, und wir freilich nicht tief gnug in Sophokles und Euripides bewundern können.
Man siehet aber zugleich, daß aus diesem Ursprunge gewisse Dinge erklärlich werden, die man sonst, als tote Regeln angestaunet, erschrecklich verkennen müssen. Jene Simplizität der griechischen Fabel, jene Nüchternheit griechischer Sitten, jenes fort ausgehaltne Kothurnmäßige des Ausdrucks, Musik, Bühne, Einheit des Orts und der Zeit – das alles lag ohne Kunst und Zauberei so natürlich und wesentlich im Ursprunge griechischer Tragödie, daß diese ohne Veredlung zu alle jenem nicht möglich war. Alles das war Schlaube, in der die Frucht wuchs.
Tretet in die Kindheit der damaligen Zeit zurück: Simplizität [303] der Fabel lag würklich so sehr in dem, was Handlung der Vorzeit, der Republik, des Vaterlandes, der Religion, was Heldenhandlung hieß, daß der Dichter eher Mühe hatte, in dieser einfältigen Größe Teile zu entdecken, Anfang, Mittel und Ende dramatisch hineinzubringen, als sie gewaltsam zu sondern, zu verstümmeln, oder aus vielen, abgesonderten Begebenheiten ein Ganzes zu kneten. Wer jemals Äschylus oder Sophokles gelesen, müßte das nie unbegreiflich finden. Im ersten was ist die Tragödie als oft ein allegorisch-mythologisch-halbepisches Gemälde, fast ohne Folge der Auftritte, der Geschichte, der Empfindungen, oder gar, wie die Alten sagten, nur noch Chor, dem einige Geschichte zwischengesetzt war – konnte hier über Simplizität der Fabel die geringste Mühe und Kunst sein? Und war's in den meisten Stücken des Sophokles anders? Sein »Philoktet«, »Ajax«, »Vertriebner Ödipus« usw. nähern sich noch immer so sehr dem Einartigen ihres Ursprunges, dem dramatischen Bilde mitten im Chor. Kein Zweifel! es ist Genesis der griechischen Bühne.
Nun sehe man, wieviel aus der simpeln Bemerkung folge. Nichts minder als: »das Künstliche ihrer Regeln war – keine Kunst! war Natur!« – Einheit der Fabel – war Einheit der Handlung, die vor ihnen lag; die nach ihren Zeit-, Vaterlands-, Religions-, Sittenumständen, nicht anders als solch ein Eins sein konnte. Einheit des Orts – war Einheit des Orts; denn die eine, kurze feierliche Handlung ging nur an einem Ort, im Tempel, Palast, gleichsam auf einem Markt des Vaterlandes vor: so wurde sie im Anfange, nur mimisch und erzählend nachgemacht und zwischengeschoben: so kamen endlich die Auftritte, die Szenen hinzu – aber alles natürlich noch eine Szene, wo der Chor alles band, wo der Natur der Sache wegen Bühne nie leer bleiben konnte usw. Und daß Einheit der Zeit nun hieraus folgte und natürlich mitging – welchem Kinde brauchte das bewiesen zu werden? Alle diese Dinge lagen damals in der Natur, daß der Dichter mit alle seiner Kunst ohne sie nichts konnte!
Offenbar siehet man also auch: die Kunst der griechischen Dichter nahm ganz den entgegengesetzten Weg, den man uns heutzutage aus ihnen zuschreiet. Jene simplifizierten nicht, denke ich, sondern sie vervielfältigten : Äschylus den Chor, Sophokles den Äschylus, und man darf nur die künstlichsten Stücke des letztern, und sein großes Meisterstück, den »Ödipus in Thebe« gegen den »Prometheus«, oder gegen die Nachrichten vom [304] alten Dithyramb halten: so wird man die erstaunliche Kunst sehen, die ihm dahinein zu bringen gelang. Aber niemals Kunst aus vielen ein Eins zu machen, sondern eigentlich aus einem ein vieles, ein schönes Labyrinth von Szenen, wo seine größte Sorge blieb, an der verwickeltsten Stelle des Labyrinths seine Zuschauer mit dem Wahn des vorigen einen umzutauschen, den Knäuel ihrer Empfindungen so sanft und allmählich loszuwinden, als ob sie ihn noch immer ganz hätten, die vorige dithyrambische Empfindung. Dazu zierte er ihnen die Szene aus, behielt ja die Chöre bei, und machte sie zu Ruheplätzen der Handlung, erhielt alle mit jedem Wort im Anblick des Ganzen, in Erwartung, in Wahn des Werdens, des Schon-Habens (was der lehrreiche Euripides nachher sogleich, da die Bühne kaum gebildet war, wieder verabsäumte!). Kurz, er gab der Handlung (eine Sache, die man so erschrecklich mißverstehet) Größe.
Und daß Aristoteles diese Kunst seines Genies in ihm zu schätzen wußte, und eben in allem, fast das Umgekehrte war, was die neuern Zeiten aus ihm zu drehen beliebt haben, müßte jedem einleuchten, der ihn ohne Wahn und im Standpunkte seiner Zeit gelesen. Eben daß er Thespis und Äschylus verließ, und sich ganz an den vielfach dichtenden Sophokles hält, daß er eben von dieser seiner Neuerung ausging, in sie das Wesen der neuen Dichtgattung zu setzen, daß es sein Lieblingsgedanke ward, nun einen neuen Homer zu entwickeln, und ihn so vorteilhaft mit dem ersten zu vergleichen; daß er keinen unwesentlichen Umstand vergaß, der nur in der Vorstellung seinen Begriff der Größe habenden Handlung unterstützen konnte. – Alle das zeigt, daß der große Mann auch im großen Sinn seiner Zeit philosophierte, und nichts weniger, als an den verengernden kindischen Läppereien schuld ist, die man aus ihm später zum Papiergerüste der Bühne machen wollen. Er hat offenbar, in seinem vortrefflichen Kapitel vom Wesen der Fabel »keine andre Regeln gewußt und anerkannt, als den Blick des Zuschauers, Seele, Illusion!« und sagt ausdrücklich, daß sich sonst die Schranken ihrer Länge, mithin noch weniger Art oder Zeit und Raum des Baues durch keine Regeln bestimmen lassen. O wenn Aristoteles wieder auflebte, und den falschen, widersinnigen Gebrauch seiner Regeln bei Dramas ganz andrer Art sähe. – Doch wir bleiben noch lieber bei der stillen, ruhigen Untersuchung.
[305] Wie sich alles in der Welt ändert: so mußte sich auch die Natur ändern, die eigentlich das griechische Drama schuf. Weltverfassung, Sitten, Stand der Republiken, Tradition der Heldenzeit, Glaube, selbst Musik, Ausdruck, Maß der Illusion wandelte: und natürlich schwand auch Stoff zu Fabeln, Gelegenheit zu der Bearbeitung, Anlaß zu dem Zwecke. Man konnte zwar das Uralte, oder gar von andern Nationen ein Fremdes herbeiholen, und nach der gegebnen Manier bekleiden: das tat alles aber nicht die Würkung: folglich war in allem auch nicht die Seele: folglich war's auch nicht (was sollen wir mit Worten spielen?) das Ding mehr. Puppe, Nachbild, Affe, Statüe, in der nur noch der andächtigste Kopf den Dämon finden konnte, der die Statüe belebte. Lasset uns gleich (denn die Römer waren zu dumm, oder zu klug, oder zu wild und unmäßig, um ein völlig gräzisierendes Theater zu errichten) zu den neuen Atheniensern Europens übergehen, und die Sache wird, dünkt mich, offenbar.
Alles was Puppe des griechischen Theaters ist, kann ohne Zweifel kaum vollkommner gedacht und gemacht werden, als es in Frankreich geworden. Ich will nicht bloß an die sogenannten Theaterregeln denken, die man dem guten Aristoteles beimißt, Einheit der Zeit, des Orts, der Handlung, Bindung der Szenen, Wahrscheinlichkeit des Brettergerüstes, usw. sondern würklich fragen, ob über das gleißende, klassische Ding, was die Corneille, Racine und Voltaire gegeben haben, über die Reihe schöner Auftritte, Gespräche, Verse und Reime, mit der Abmessung, dem Wohlstande, dem Glanze – etwas in der Welt möglich sei? Der Verfasser dieses Aufsatzes zweifelt nicht bloß daran, sondern alle Verehrer Voltaires und der Franzosen, zumal diese edlen Athenienser selbst, werden es geradezu leugnen – haben's ja auch schon gnug getan, tun's und werden's tun, »über das geht nichts! das kann nicht übertroffen werden!« Und in den Gesichtspunkt des Übereinkommnisses gestellt, die Puppe aufs Bretterngerüste gesetzt – haben sie recht, und müssen's von Tag zu Tage je mehr man sich in das Gleißende vernarrt, und es nachäffet, in allen Ländern Europens mehr bekommen!
Bei alledem ist's aber doch ein drückendes unwiderstrebliches Gefühl »das ist keine griechische Tragödie! von Zweck, Würkung, Art, Wesen kein griechisches Drama!« und der parteiischte Verehrer der Franzosen kann, wenn er Griechen gefühlt hat, das nicht leugnen. Ich will's gar nicht einmal untersuchen »ob sie auch ihren Aristoteles den Regeln nach so beobachten, wie sie's [306] vorgeben«, wo Lessing gegen die lautesten Anmaßungen neulich schreckliche Zweifel erregt hat. Das alles aber auch zugegeben, Drama ist nicht dasselbe, warum? weil im Innern nichts von ihm dasselbe mit jenem ist, nicht Handlung, Sitten, Sprache, Zweck, nichts – und was hülfe also alles äußere so genau erhaltne Einerlei? Glaubt denn wohl jemand, daß ein Held des großen Corneille ein römischer oder französischer Held sei? Spanisch-Senecasche Helden! galante Helden, abenteurlich tapfere, großmütige, verliebte, grausame Helden also dramatische Fiktionen, die außer dem Theater Narren heißen würden, und wenigstens für Frankreich schon damals halb so fremde waren, als sie's jetzt bei den meisten Stücken ganz sind – das sind sie. Racine spricht die Sprache der Empfindung – allerdings nach diesem einen zugegebnen Übereinkommnisse ist nichts über ihn; aber außer dem auch – wüßte ich nicht, wo eine Empfindung so spräche? Es sind Gemälde der Empfindung von dritter fremder Hand; nie aber oder selten die unmittelbaren, ersten, ungeschminkten Regungen, wie sie Worte suchen und endlich finden. Der schöne Voltairesche Vers, sein Zuschnitt, Inhalt, Bilderwirtschaft, Glanz, Witz, Philosophie – ist er nicht ein schöner Vers? Allerdings! der schönste, den man sich vielleicht denken kann, und wenn ich ein Franzose wäre, würde ich verzweifeln, hinter Voltaire einen Vers zu machen – aber schön oder nicht schön, kein Theatervers! für Handlung, Sprache, Sitten, Leidenschaften, Zweck eines (anders als französischen) Drama, ewige Schulchrie, Lüge und Galimathias. Endlich Zweck des allen? durchaus kein griechischer, kein tragischer Zweck! Ein schönes Stock, wenn es auch eine schöne Handlung wäre, auf die Bühne zu bringen! eine Reihe artiger, wohlgekleideter Herrn und Dames schöne Reden, auch die schönste und nützlichste Philosophie in schönen Versen vortragen zu lassen! sie allesamt auch in eine Geschichte dichten, die einen Wahn der Vorstellung gibt, und also die Aufmerksamkeit mit sich fortzieht! endlich das alles auch durch eine Anzahl wohlgeübter Herrn und Dames vorstellen lassen, die würklich viel auf Deklamation, Stelzengang der Sentenzen und Außenwerke der Empfindung, Beifall und Wohlgefallen anwenden – das alles können vortreffliche und die besten Zwecke zu einer lebendigen Lektüre, zur Übung im Ausdruck, Stellung und Wohlstande, zum Gemälde guter oder gar heroischer Sitten, und endlich gar eine völlige Akademie der Nationalweisheit und Décence im Leben und Sterben werden[307] (alle Nebenzwecke übergangen), schön! bildend! lehrreich! vortrefflich! durchaus aber weder Hand noch Fuß vom Zweck des griechischen Theaters.
Und welches war der Zweck? Aristoteles hat's gesagt, und man hat gnug darüber gestritten – nichts mehr und minder, als eine gewisse Erschütterung des Herzens, die Erregung der Seele in gewissem Maß und von gewissen Seiten, kurz! eine Gattung Illusion, die wahrhaftig! noch kein französisches Stück zuwege gebracht hat, oder zuwege bringen wird. Und folglich (es heiße so herrlich und nützlich, wie es wolle) griechisches Drama ist's nicht. Trauerspiel des Sophokles ist's nicht. Als Puppe ihm noch so gleich; der Puppe fehlt Geist, Leben, Natur, Wahrheit – mithin alle Elemente der Rührung – mithin Zweck und Erreichung des Zwecks – ist's also dasselbe Ding mehr?
Hiemit würde noch nichts über Wert und Unwert entschieden, es wäre nur bloß von Verschiedenheit die Rede, die ich mit dem Vorigen ganz außer Zweifel gesetzt glaube. Und nun gebe ich's jedem anheim, es selbst auszumachen, »Ob eine Kopierung fremder Zeiten, Sitten und Handlungen in Halbwahrheit, mit dem köstlichen Zwecke, sie der zweistündigen Vorstellung auf einem Bretterngerüste fähig und ähnlich zu machen, wohl einer Nachbildung gleich- oder übergeschätzt werden könne, die in gewissem Betracht die höchste Nationalnatur war?« ob eine Dichtung, deren Ganzes eigentlich (und da wird sich jeder Franzose winden oder vorbeisingen müssen) gar keinen Zweck hat – das Gute ist nach dem Bekenntnis der besten Philosophen nur eine Nachlese im Detail – ob die einer Landesanstalt gleich geschätzt werden kann, wo in jedem kleinen Umstande Würkung, höchste schwerste Bildung lag? Ob endlich nicht eine Zeit kommen mußte, da man, wie die meisten und künstlichsten Stücke Corneillens schon vergessen sind, Crébillon und Voltaire mit der Bewundrung ansehen wird, mit der man jetzt die »Asträa« des Hrn. von Urfé, und alle »Clelien« und »Aspasien« der Ritterzeit ansieht, »voll Kopf und Weisheit! voll Erfindung und Arbeit! es wäre aus ihnen so viel! viel zu lernen – aber schade! daß es in der ›Asträa‹ und ›Clelia‹ ist«. Das Ganze ihrer Kunst ist ohne Natur! ist abenteuerlich! ist ekel! – Glücklich wenn wir im Geschmack der Wahrheit schon an der Zeit wären! Das ganze französische Drama hätte sich in eine Sammlung schöner Verse, Sentenzen, Sentimens verwandelt – aber der große Sophokles stehet noch, wie er ist!
[308] Lasset uns also ein Volk setzen, das aus Umständen, die wir nicht untersuchen mögen, Lust hätte, sich statt nachzuäffen und mit der Walnußschale davonzulaufen, selbst lieber, sein Drama zu erfinden: so ist's, dünkt mich, wieder erste Frage: wenn? wo? unter welchen Umständen? woraus soll's das tun? und es braucht keines Beweises, daß die Erfindung nichts als Resultat dieser Fragen sein wird und sein kann. Hole es sein Drama nicht aus Chor, aus Dithyramb her: so kann's auch nichts Chormäßiges, Dithyrambisches haben. Läge ihm keine solche Simplizität von Faktis der Geschichte, Tradition, häuslichen, und Staats-und Religionsbeziehungen vor – natürlich kann's nichts von alledem haben. – Es wird sich, wo möglich, sein Drama nach seiner Geschichte, nach Zeitgeist, Sitten, Meinungen, Sprache, Nationalvorurteilen, Traditionen, und Liebhabereien, wenn auch aus Fastnachts- und Marionettenspiel (eben, wie die edlen Griechen aus dem Chor) erfinden – und das Erfundne wird Drama sein, wenn es bei diesem Volk dramatischen Zweck erreicht. Man sieht, wir sind bei den
toto divisis ab orbe Britannis
und ihrem großen Shakespeare.
Daß da, und zu der und vor der Zeit kein Griechenland war, wird kein pullulus Aristotelis leugnen, und hier und da also griechisches Drama zu fodern, daß es natürlich (wir reden von keiner Nachäffung) entstehe, ist ärger, als daß ein Schaf Löwen gebären solle. Es wird allein erste und letzte Frage: »wie ist der Boden? worauf ist er zubereitet? was ist in ihn gesäet? was sollte er tragen können?« – und Himmel! wie weit hier von Griechenland weg! Geschichte, Tradition, Sitten, Religion, Geist der Zeit, des Volks, der Rührung, der Sprache – wie weit von Griechenland weg! Der Leser kenne beide Zeiten viel oder wenig, so wird er doch keinen Augenblick verwechseln, was nichts Ähnliches hat. Und wenn nun in dieser glücklich oder unglücklich veränderten Zeit, es eben ein Alter, ein Genie gäbe, das aus seinem Stoff so natürlich, groß, und original eine dramatische Schöpfung zöge, als die Griechen aus dem ihren – und diese Schöpfung eben auf den verschiedensten Wegen dieselbe Absicht erreichte, wenigstens an sich ein weit vielfach Einfältiger und Einfach-Vielfältiger – also (nach aller metaphysischen Definition) ein vollkommenes Ganzes wäre – was für ein Tor, der nun vergliche und gar verdammte, weil dies zweite nicht [309] das erste sei? Und alle sein Wesen, Tugend und Vollkommenheit beruhe ja darauf, daß es nicht das erste ist: daß aus dem Boden der Zeit, eben die andre Pflanze erwuchs.
Shakespeare fand vor und um sich nichts weniger als Simplizität von Vaterlandssitten, Taten, Neigungen und Geschichtstraditionen, die das griechische Drama bildete, und da also nach dem ersten metaphysischen Weisheitssatze aus nichts nichts wird, so wäre Philosophen überlassen, nicht bloß kein griechisches, sondern wenn's außerdem nichts gibt, auch gar kein Drama in der Welt mehr geworden, und hätte werden können. Da aber Genie bekanntermaßen mehr ist, als Philosophie, und Schöpfer ein ander Ding, als Zergliederer: so war's ein Sterblicher mit Götterkraft begabt, eben aus dem entgegengesetztesten Stoff, und in der verschiedensten Bearbeitung dieselbe Würkung hervorzurufen, Furcht und Mitleid! und beide in einem Grade, wie jener erste Stoff und Bearbeitung es kaum vormals hervorzubringen vermocht! – Glücklicher Göttersohn über sein Unternehmen! Eben das Neue, Erste, ganz Verschiedne zeige die Urkraft seines Berufs.
Shakespeare fand keinen Chor vor sich; aber wohl Staats – und Marionettenspiele – wohl! er bildete also aus diesen Staats – und Marionettenspielen, dem so schlechten Leim! das herrliche Geschöpf, das da vor uns steht und lebt! Er fand keinen so einfachen Volks-und Vaterlandscharakter, sondern ein Vielfaches von Ständen, Lebensarten, Gesinnungen, Völkern und Spracharten – der Gram um das Vorige wäre vergebens gewesen; er dichtete also Stände und Menschen, Völker und Spracharten, König und Narren, Narren und König zu dem herrlichen Ganzen! Er fand keinen so einfachen Geist der Geschichte, der Fabel, der Handlung: er nahm Geschichte, wie er sie fand, und setzte mit Schöpfergeist das verschiedenartigste Zeug zu einem Wunderganzen zusammen, was wir, wenn nicht Handlung im griechischen Verstande, so Aktion im Sinne der mittlern, oder in der Sprache der neuern Zeiten Begebenheit (événement) großes Eräugnis nennen wollen – o Aristoteles, wenn du erschienest, wie würdest du den neuen Sophokles homerisieren! würdest so eine eigne Theorie über ihn dichten, die jetzt seine Landsleute, Home und Hurd, Pope und Johnson noch nicht gedichtet haben! Würdest dich freuen, von jedem deiner Stücke, Handlung, Charakter, Meinungen, Ausdruck, Bühne, wie aus zwei Punkten des Dreiecks Linien ziehen zu können, die sich oben in einem [310] Punkte des Zwecks, der Vollkommenheit begegnen! Würdest zu Sophokles sagen: male das heilige Blatt dieses Altars! und du o nordischer Barde alle Seiten und Wände dieses Tempels in dein unsterbliches Fresko!
Man lasse mich als Ausleger und Rhapsodisten fortfahren: denn ich bin Shakespeare näher als dem Griechen. Wenn bei diesem das Eine einer Handlung herrscht: so arbeitet jener auf das Ganze eines Eräugnisses, einer Begebenheit. Wenn bei jenem ein Ton der Charaktere herrschet, so bei diesem alle Charaktere, Stände und Lebensarten, so viel nur fähig und nötig sind, den Hauptklang seines Konzerts zu bilden. Wenn in jenem eine singende feine Sprache, wie in einem höhern Äther tönet, so spricht dieser die Sprache aller Alter, Menschen und Menscharten, ist Dolmetscher der Natur in all ihren Zungen – und auf so verschiedenen Wegen beide Vertraute einer Gottheit? – Und wenn jener Griechen vorstelle und lehre und rühre und bildet, so lehre, rührt und bildet Shakespeare nordische Menschen! Mir ist, wenn Ich ihn lese, Theater, Akteur, Kulisse verschwunden! Lauter einzelne im Sturm der Zeiten wehende Blätter aus dem Buch der Begebenheiten, der Vorsehung der Welt! – einzelne Gepräge der Völker, Stände, Seelen! die alle die verschiedenartigsten und abgetrenntest handelnden Maschinen, alle – was wir in der Hand des Weltschöpfers sind – unwissende, blinde Werkzeuge zum Ganzen eines theatralischen Bildes, einer Größe habenden Begebenheit, die nur der Dichter überschauet. Wer kann sich einen größern Dichter der nordischen Menschheit und in dem Zeitalter! denken!
Wie vor einem Meere von Begebenheit, wo Wogen in Wogen rauschen, so tritt vor seine Bühne. Die Auftritte der Natur rücken vor und ab; würken ineinander so disparat sie scheinen; bringen sich hervor, und zerstören sich, damit die Absicht des Schöpfers, der alle im Plane der Trunkenheit und Unordnung gesellet zu haben schien, erfüllt werde – dunkle kleine Symbole zum Sonnenriß einer Theodizee Gottes. Lear der rasche, warme, edelschwache Greis, wie er da vor seiner Landkarte steht, und Kronen wegschenkt und Länder zerreiße – in der ersten Szene der Erscheinung trägt schon allen Samen seiner Schicksale zur Ernte der dunkelsten Zukunft in sich. Siehe! der gutherzige Verschwender, der rasche Unbarmherzige, der kindische Vater wird es bald sein auch in den Vorhöfen seiner Töchter – bittend, betend, bettelnd, fluchend, schwärmend, segnend – ach, Gott! [311] und Wahnsinn ahndend. Wird's sein bald mit blassem Scheitel unter Donner und Blitz, zur untersten Klasse von Menschen herabgestürzt, mit einem Narren und in der Höhle eines tollen Bettlers Wahnsinn gleichsam pochend vom Himmel herab. – Und nun ist wie er's ist, in der ganzen leichten Majestät seines Elends und Verlassens; und nun zu sich kommend, angeglänzt vom letzten Strahle der Hoffnung, damit diese auf ewig, ewig erlösche! Gefangen, die tote Wohltäterin, Verzeiherin, Kind, Tochter auf seinen Armen! auf ihrem Leichnam sterbend, der alte Knecht dem alten Könige nachsterbend – Gott! welch ein Wechsel von Zeiten, Umständen, Stürmen, Wetter, Zeitläuften! und alle nicht bloß eine Geschichte – Helden und Staatsaktion, wenn du willt! von einem Anfange zu einem Ende, nach der strengsten Regel deines Aristoteles; sondern tritt näher, und fühle den Menschengeist, der auch jede Person und Alter und Charakter und Nebending in das Gemälde ordnete. Zween alte Väter und alle ihre so verschiedne Kinder! Des einen Sohn gegen einen betrognen Vater unglücklich dankbar, der andre gegen den gutherzigsten Vater scheußlich undankbar und abscheulich glücklich. Der gegen seine Töchter! diese gegen ihn! ihre Gemahl, Freier und alle Helfershelfer im Glück und Unglück. Der blinde Gloster am Arm seines unerkannten Sohnes, und der tolle Lear zu den Füßen seiner vertriebnen Tochter! und nun der Augenblick der Wegscheide des Glücks, da Gloster unter seinem Baume stirbt, und die Trompete rufet alle Nebenumstände, Triebfedern, Charaktere und Situationen dahinein gedichtet – alles im Spiel! zu einem Ganzen sich fortwickelnd – zu einem Vater– und Kinder-, Königs– und Narren– und Bettler– und Elend-Ganzen zusammengeordnet, wo doch überall bei den disparatsten Szenen Seele der Begebenheit atmet, wo Örter, Zeiten, Umstände selbst möchte ich sagen, die heidnische Schicksals- und Sternenphilosophie, die durchweg herrschet, so zu diesem Ganzen gehören, daß ich nichts verändern, versetzen, aus andern Stücken hieher oder hieraus in andre Stücke bringen könnte. Und das wäre kein Drama? Shakespeare kein dramatischer Dichter? Der hundert Auftritte einer Weltbegebenheit mit dem Arm umfaßt, mit dem Blick ordnet, mit der einen durchhauchenden, alles belebenden Seele erfüllet, und nicht Aufmerksamkeit; Herz, alle Leidenschaften, die ganze Seele von Anfang bis zu Ende fortreißt – wenn nicht mehr, so soll Vater Aristoteles zeugen, »die Größe des lebendigen Geschöpfs darf [312] nur mit einem Blick übersehen werden können« – und hier – Himmel! wie wird das Ganze der Begebenheit mit tiefster Seele fortgefühlt und geendet! – Eine Welt dramatischer Geschichte, so groß und tief wie die Natur; aber der Schöpfer gibt uns Auge und Gesichtspunkt, so groß und tief zu sehen!
In »Othello, dem Mohren«, welche Welt! welch ein Ganzes! lebendige Geschichte der Entstehung, Fortgangs, Ausbruchs, traurigen Endes der Leidenschaft dieses edlen Unglückseligen! und in welcher Fülle, und Zusammenlauf der Räder zu einem Werke! Wie dieser Jago, der Teufel in Menschengestalt, die Welt ansehen, und mit allen, die um ihn sind, spielen! und wie nun die Gruppe, ein Cassio und Rodrich, Othello und Desdemone in den Charakteren, mit dem Zunder von Empfänglichkeiten seiner Höllenflamme, um ihn stehen muß, und jedes ihm in den Wurf kommt, und er alles braucht, und alles zum traurigen Ende eilet. – Wenn ein Engel der Vorsehung menschliche Leidenschaften gegeneinander abwog, und Seelen und Charaktere gruppierte, und ihnen Anlässe, wo jedes im Wahn des Freien handelt, zuführt, und er sie alle mit diesem Wahne als mit der Kette des Schicksals zu seiner Idee leitet – so war der menschliche Geist, der hier entwarf, sann, zeichnete, lenkte.
Daß Zeit und Ort, wie Hülsen um den Kern immer mitgehen, sollte nicht einmal erinnert werden dürfen, und doch ist hierüber eben das helleste Geschrei. Fand Shakespeare den Göttergriff eine ganze Welt der disparatesten Auftritte zu einer Begebenheit zu erfassen; natürlich gehörte es eben zur Wahrheit seiner Begebenheiten, auch Ort und Zeit jedesmal zu idealisieren, daß sie mit zur Täuschung beitrügen. Ist wohl jemand in der Welt zu einer Kleinigkeit seines Lebens Ort und Zeit gleichgültig? und sind sie's insonderheit in den Dingen, wo die ganze Seele geregt, gebildet, umgebildet wird? in der Jugend, in Szenen der Leidenschaft, in allen Handlungen aufs Leben! Ist's da nicht eben Ort und Zeit und Fülle der äußern Umstände, die der ganzen Geschichte Haltung, Dauer, Existenz geben muß, und wird ein Kind, ein Jüngling, ein Verliebter, ein Mann im Felde der Taten sich wohl einen Umstand des Lokals, des Wie? und Wo? und Wann? wegschneiden lassen, ohne daß die ganze Vorstellung seiner Seele litte? Da ist nun Shakespeare der größte Meister, eben weil er nur und immer Diener der Natur ist. Wenn er die Begebenheiten seines Drama dachte, im Kopf wälzte, wie wälzen sich jedesmal Orter und Zeiten so mit umher! Aus Szenen [313] und Zeitläuften aller Welt findet sich, wie durch ein Gesetz der Fatalität, eben die hieher, die dem Gefühl der Handlung, die kräftigste, die idealste ist; wo die sonderbarsten, kühnsten Umstände am meisten den Trug der Wahrheit unterstützen, wo Zeit-und Ortwechsel, über die der Dichter schaltet, am lautesten rufen: »hier ist kein Dichter! ist Schöpfer! ist Geschichte der Welt!«
Als z. E. der Dichter den schrecklichen Königsmord, Trauerspiel »Macbeth« genannt, als Faktum der Schöpfung in seiner Seele wälzte – bist du, mein lieber Leser, so blöde gewesen, nun in keiner Szene, Szene und Ort mitzufühlen – wehe Shakespeare, dem verwelkten Blatte in deiner Hand. So hast du nichts von der Eröffnung durch die Zauberinnen auf der Heide unter Blitz und Donner! nichts nun vom blutigen Manne mit Macbeths Taten zur Botschaft des Königes an ihn, nichts wider die Szene zu brechen, und den prophetischen Zaubergeist zu eröffnen, und die vorige Botschaft nun mit diesem Gruße in seinem Haupt zu mischen – gefühlt! Nicht sein Weib mit jener Abschrift des Schicksalsbriefes in ihrem Schlosse wandern sehen, die hernach wie grauerlich anders wandern wird! Nicht mit dem stillen Könige noch zu guter Letzt die Abendluft so sanft gewittert, rings um das Haus, wo zwar die Schwalbe so sicher nistet, aber du o König – das ist im unsichtbaren Werk! – dich deiner Mördergrube näherst. Das Haus in unruhiger, gastlicher Zubereitung, und Macbeth in Zubereitung zum Morde! Die bereitende Nachtszene Bankos mit Fackel und Schwert! Der Dolch! der schauerliche Dolch der Vision! Glocke – kaum ist's geschehen und das Pochen an der Tür! – Die Entdeckung, Versammlung – man trabe alle Orter und Zeiten durch, wo das zu der Absicht, in der Schöpfung, anders als da und so geschehen könnte. Die Mordszene Bankos im Walde; das Nachtgastmahl und Bankos Geist – nun wieder die Hexenheide (denn seine erschreckliche Schicksalstat ist zu Ende!). Nun Zauberhöhle, Beschwörung, Prophezeiung, Wut und Verzweiflung! Der Tod der Kinder Macduffs unter den Flügeln ihrer einsamen Mutter! und jene zween Vertriebne unter dem Baum, und nun die grauerliche Nachtwanderin im Schlosse, und die wunderbare Erfüllung der Prophezeiung – der heranziehende Wald – Macbeths Tod durch das Schwert eines Ungebornen – ich müßte alle, alle Szenen ausschreiben, um das idealisierte Lokal des unnennbaren Ganzen, der Schicksals-, Königsmords- und Zauberwelt zu nennen, die [314] als Seele das Stück, bis auf den kleinsten Umstand von Zeit, Ort, selbst scheinbarer Zwischenverwirrung, belebt, alles in der Seele zu einem schauderhaften, unzertrennlichen Ganzen zu machen – und doch würde ich mit allem nichts sagen.
Dies Individuelle jedes Stücks, jedes einzelnen Weltalls, geht mit Ort und Zeit und Schöpfung durch alle Stücke. Lessing hat einige Umstände »Hamlets« in Vergleichung der Theaterkönigin »Semiramis« entwickelt – wie voll ist das ganze Drama dieses Lokalgeistes von Anfang, zu Ende. Schloßplatz und bittre Kälte, ablösende Wache und Nachterzählungen, Unglaube und Glaube – der Stern – und nun erscheint's! – Kann jemand sein, der nicht in jedem Wort und Umstande Bereitung und Natur ahnde! So weiter. Alles Kostüm der Geister erschöpft! der Menschen zur Erscheinung erschöpft! Hahnkräh und Paukenschall, stummer Wink und der nahe Hügel, Wort und Unwort – welches Lokal! welches tiefe Eingraben der Wahrheit! Und wie der erschreckte König kniet, und Hamlet vorbeiirrt in seiner Mutter Kammer vor dem Bilde seines Vaters! und nun die andre Erscheinung! Er am Grabe seiner Ophelia! der rührende good fellow in allen den Verbindungen mit Horaz, Ophelia, Laertes, Fortinbras! das Jugendspiel der Handlung, was durchs Stück fortläuft und fast bis zu Ende keine Handlung wird – wer da einen Augenblick Bretterngerüste fühlt und sucht, und eine Reihe gebundner artiger Gespräche auf ihm sucht, für den hat Shakespeare und Sophokles, kein wahrer Dichter der Welt gedichtet.
Hätte ich doch Worte dazu, um die einzelne Hauptempfindung, die also jedes Stück beherrscht, und wie eine Weltseele durchströmt, zu bemerken. Wie es doch in »Othello« würklich mit zu dem Stücke gehört, so selbst das Nachtsuchen wie die fabelhafte Wunderliebe, die Seefahrt, der Seesturm, wie die brausende Leidenschaft Othellos, die so sehr verspottete Todesart, das Entkleiden unter dem Sterbeliedchen und dem Windessausen, wie die Art der Sünde und Leidenschaft selbst – sein Eintritt, Rede ans Nachtlicht usw. wäre es möglich, doch das in Worte zu fassen, wie das alles zu einer Welt der Trauerbegebenheit lebendig und innig gehöre – aber es ist nicht möglich. Kein elendes Farbengemälde läßt sich durch Worte beschreiben oder herstellen, und wie die Empfindung einer lebendigen Welt in allen Szenen, Umständen und Zaubereien der Natur. Geht, mein Leser, was du willt, »Lear« und die »Richards«, »Cäsar« und die »Heinrichs«, selbst Zauberstücke und Divertissements, insonderheit [315] »Romeo«, das süße Stück der Liebe, auch Roman in jedem Zeitumstande, und Ort und Traum und Dichtung – geht es durch, versuche etwas der Art wegzunehmen, zu tauschen, es gar auf ein französisches Bretterngerüste zu simplifizieren – eine lebendige Welt mit allem Urkundlichen ihrer Wahrheit in dies Gerüste verwandelt – schöner Tausch! schöne Wandlung! Nimm dieser Pflanze ihren Boden, Saft und Kraft, und pflanze sie in die Luft: nimm diesem Menschen Ort, Zeit, individuelle Bestandheit – du hast ihm Otem und Seele genommen, und ist ein Bild vom Geschöpf.
Eben da ist also Shakespeare Sophokles' Bruder, wo er ihm dem Anschein nach so unähnlich ist, um im Innern, ganz wie er, zu sein. Da alle Täuschung durch dies Urkündliche, Wahre, Schöpferische der Geschichte erreicht wird, und ohne sie nicht bloß nicht erreicht würde, sondern kein Element mehr (oder ich hätte umsonst geschrieben) von Shakespeares Drama und dramatischem Geist bliebe: so sieht man, die ganze Welt ist zu diesem großen Geiste allein Körper: alle Auftritte der Natur an diesem Körper Glieder, wie alle Charaktere und Denkarten zu diesem Geiste Züge – und das Ganze mag jener Riesengott des Spinoza »Pan! Universum!« heißen. Sophokles blieb der Natur treu, da er eine Handlung eines Orts und einer Zeit bearbeitete: Shakespeare konnt ihr allein treu bleiben, wenn er seine Weltbegebenheit und Menschenschicksal durch alle die Orter und Zeiten wälzte, wo sie – nun, wo sie geschehen: und gnade Gott, dem kurzweiligen Franzosen, der in Shakespeares fünften Aufzug käme, um da die Rührung in der Quintessenz herunterzuschlucken. Bei manchen französischen Stücken mag dies wohl angehen, weil da alles nur fürs Theater versifiziert und in Szenen Schau getragen wird; aber hier geht er eben ganz leer aus. Da ist Weltbegebenheit schon vorbei: er sieht nur die letzte, schlechteste Folge, Menschen, wie Fliegen fallen: er geht hin und höhnt: Shakespeare ist ihm Ärgernis und sein Drama die dummeste Torheit.
Überhaupt wäre der ganze Knäuel von Ort- und Zeitquästionen längst aus seinem Gewirre gekommen, wenn ein philosophischer Kopf über das Drama sich die Mühe hätte nehmen wollen, auch hier zu fragen: »was denn Ort und Zeit sei?« Soll's das Bretterngerüste, und der Zeitraum eines Divertissements au théâtre sein: so hat niemand in der Welt Einheit des Orts, Maß [316] der Zeit und der Szenen, als – die Franzosen. Die Griechen – bei ihrer hohen Täuschung, von der wir fast keinen Begriff haben – bei ihren Anstalten für das Öffentliche der Bühne, bei ihrer rechten Tempelandacht vor derselben, haben an nichts weniger als das je gedacht. Wie muß die Täuschung eines Menschen sein, der hinter jedem Auftritt nach seiner Uhr sehen will, ob auch so was in soviel Zeit habe geschehen können? und dem es sodann Hauptelement der Herzensfreude würde, daß der Dichter ihn doch ja um keinen Augenblick betrogen, sondern auf dem Gerüste nur ebensoviel gezeigt hat, als er in der Zeit im Schneckengange seines Lebens sehen würde – welch ein Geschöpf, dem das Hauptfreude wäre! und welch ein Dichter, der darauf als Hauptzweck arbeitete, und sich denn mit dem Regelnkram brüstete, »wie artig habe ich nicht soviel und soviel schöne Spielwerke! auf den engen gegebnen Raum dieser Brettergrube, Théâtre François genannt, und in den gegebnen Zeitraum der Visite dahin eingeklemmt und eingepaßt! die Szenen filiert und enfiliert! alles genau geflickt und geheftet« – elender Zeremonienmeister! Savoyarde des Theaters, nicht Schöpfer! Dichter! dramatischer Gott! Als solchem schlägt dir keine Uhr auf Turm und Tempel, sondern du hast Raum und Zeitmaße zu schaffen, und wenn du eine Welt hervorbringen kannst, und die nicht anders, als in Raum und Zeit exsistieret, siehe, so ist da im Innern dein Maß von Frist und Raum; dahin du alle Zuschauer zaubern, daß du allen aufdringen mußt, oder du bist – was ich gesagt habe, nur nichts weniger, als dramatischer Dichter.
Sollte es denn jemand in der Welt brauchen demonstriert zu werden, daß Raum und Zeit eigentlich an sich nichts, daß sie die relativeste Sache auf Dasein, Handlung, Leidenschaft, Gedankenfolge und Maß der Aufmerksamkeit in oder außerhalb der Seele sind? Hast du denn, gutherziger Uhrsteller des Drama, nie Zeiten in deinem Leben gehabt, wo dir Stunden zu Augenblicken und Tage zu Stunden; gegenteils aber auch Stunden zu Tagen, und Nachtwachen zu Jahren geworden sind? Hast du keine Situationen in deinem Leben gehabt, wo deine Seele einmal ganz außer dir wohnte, hier in diesem romantischen Zimmer deiner Geliebten, dort auf jener starren Leiche, hier in diesem Drückenden äußerer, beschämender Not – jetzt wieder über Welt und Zeit hinausflog, Räume und Weltgegenden überspringet, alles um sich vergaß, und im Himmel, in der Seele, im Herzen dessen bist, dessen Exsistenz du nun empfindest? Und wenn das in deinem [317] trägen, schläfrigen Wurm- und Baumleben möglich ist, wo dich ja Wurzeln gnug am toten Boden deiner Stelle festhalten, und jeder Kreis, den du schleppest, dir langsames Moment gnug ist, deinen Wurmgang auszumessen – nun denke dich einen Augenblick in eine andre, eine Dichterwelt nur in einen Traum? Hast du nie gefühlt, wie im Traum dir Ort und Zeit schwinden? was das also für unwesentliche Dinge, für Schatten gegen das was Handlung, Würkung der Seele ist, sein müssen? wie es bloß an dieser Seele liege, sich Raum, Welt und Zeitmaß zu schaffen, wie und wo sie will? Und hättest du das nur einmal in deinem Leben gefühlt, wärest nach einer Vierteilstunde erwacht und der dunkle Rest deiner Traumhandlungen hätte dich schwören gemacht, du habest Nächte hinweg geschlafen, geträumt und gehandelt! – dürfte dir Mahomeds Traum, als Traum noch einen Augenblick ungereimt sein! und wäre es nicht eben jedes Genies, jedes Dichters, und des dramatischen Dichters insonderheit erste und einzige Pflicht, dich in einen solchen Traum zu setzen? Und nun denke, welche Welten du verwirrest, wenn du dem Dichter deine Taschenuhr, oder dein Visitenzimmer vorzeigest, daß er dahin und darnach dich träumen lehre?
Im Gange seiner Begebenheit, im ordine successivorum und simultaneorum seiner Welt, da liegt sein Raum und Zeit. Wie, und wo er dich hinreiße? wenn er dich nur dahin reißt, da ist seine Welt. Wie schnell und langsam er die Zeiten folgen lasse; er läßt sie folgen; er drückt dir diese Folge ein: das ist sein Zeitmaß – und wie ist hier wieder Shakespeare Meister! langsam und schwerfällig fangen seine Begebenheiten an, in seiner Natur wie in der Natur: denn er gibt diese nur im verjüngten Maße. Wie mühevoll, ehe die Triebfedern in Gang kommen! je mehr aber, wie laufen die Szenen! wie kürzer die Reden und geflügelter die Seelen, die Leidenschaft, die Handlung! und wie mächtig sodann dieses Laufen, das Hinstreuen gewisser Worte, da niemand mehr Zeit hat. Endlich zuletzt, wenn er den Leser ganz getäuscht und im Abgrunde seiner Welt und Leidenschaft verloren sieht, wie wird er kühn, was läßt er aufeinanderfolgen! Lear stirbt nach Cordelia, und Kent nach Lear! es ist gleichsam Ende seiner Welt, Jüngster Tag da, da alles aufeinanderrollet und hinstürzt, der Himmel eingewickelt und die Berge fallen; das Maß der Zeit ist hinweg. – Freilich wieder nicht für den lustigen, muntren Kaklogallinier, der mit heiler frischer Haut in den fünften Akt käme, um an der Uhr zu messen, wieviel [318] da in welcher Zeit sterben? aber Gott, wenn das Kritik, Theater, Illusion sein soll – was wäre denn Kritik? Illusion? Theater? was bedeuteten alle die leeren Wörter.
Nun finge eben das Herz meiner Untersuchung an, »wie? auf welche Kunst und Schöpferweise Shakespeare eine elende Romanze, Novelle und Fabelhistorie zu solch einem lebendigen Ganzen habe dichten können? Was für Gesetze unsrer historischen, philosophischen, dramatischen Kunst in jedem seiner Schritte und Kunstgriffe liege?« Welche Untersuchung! wieviel für unsern Geschichtbau, Philosophie der Menschenseelen und Drama. – Aber ich bin kein Mitglied aller unsrer historischen, philosophischen und schön-künstlichen Akademien, in denen man freilich an jedes andre eher, als an so etwas denkt! Selbst Shakespeares Landsleute denken nicht daran. Was haben ihm oft seine Kommentatoren für historische Fehler gezeihet! der fette Warburton z.E. welche historische Schönheiten schuld gegeben! und noch der letzte Verfasser des »Versuchs« über ihn hat er wohl die Lieblingsidee, die ich bei ihm suchte: »wie hat Shakespeare aus Romanzen und Novellen Drama gedichtet?« erreicht? Sie ist ihm wie dem Aristoteles dieses britischen Sophokles, dem Lord Home kaum eingefallen.
Also nur einen Wink in die gewöhnlichen Klassifikationen in seinen Stücken. Noch neuerlich hat ein Schriftsteller2, der gewiß seinen Shakespeare ganz gefühlt hat, den Einfall gehabt, jenen ehrlichen Fishmonger von Hofmann, mit grauen Bart und Runzelgesicht, triefenden Augen und seinem plentiful lack of wit together with weak Hams, das Kind Polonius zum Aristoteles des Dichters zu machen, und die Reihe von Als und Cals, die er in seinem Geschwätz wegsprudelt, zur ernsten Klassifikation aller Stücke vorzuschlagen. Ich zweifle. Shakespeare hat freilich die Tücke, leere locos communes, Moralen und Klassifikationen, die auf hundert Fälle angewandt, auf alle und keinen recht passen, am liebsten Kindern und Narren in den Mund zu legen; und eines neuen Stobaei und Florilegii, oder Cornu copiae von Shakespeares Weisheit, wie die Engländer teils schon haben und wir Deutsche gottlob! neulich auch hätten haben sollen – deren würde sich solch ein Polonius, und Launcelot, Arlequin und Narr, blöder Richard, oder aufgeblasner Ritterkönig am meiste [319] zu erfreuen haben, weil jeder ganze, gesunde Mensch bei ihm nie mehr zu sprechen hat, als er aus Mund in Hand braucht, aber doch zweifle ich hier noch. Polonius soll hier wahrscheinlich nur das alte Kind sein, das Wolken für Kamele und Kamele für Baßgeigen ansieht, in seiner Jugend auch einmal den Julius Cäsar gespielt hat, und war ein guter Akteur, und ward von Brutus umgebracht, und wohl weiß:
why day is day, night night
and time is time
also auch hier einen Kreisel theatralischer Worte drehet – wer wollte aber darauf bauen? oder was hätte man denn nun mit der Einteilung? Tragedy, Comedy, History, Pastoral, Tragical-Historical, und Historical-Pastoral, und Pastoral-Comical und Comical-Historical-Pastoral, und wenn wir die Cals noch hundertmal mischen, was hätten wir endlich? kein Stück wäre doch griechische Tragedy, Comedy und Pastoral, und sollte es nicht sein. Jedes Stück ist History im weitsten Verstande, die sich nun freilich bald in Tragedy, Comedy, usw. mehr oder weniger nuanciert. – Die Farben aber schweben da so ins Unendliche hin, und am Ende bleibt doch jedes Stück und muß bleiben – was es ist. Historie! Helden- und Staatsaktion zur Illusion mittlerer Zeiten oder (wenige eigentliche Plays und Divertissements ausgenommen) ein völliges Größe habende Eräugnis einer Weltbegebenheit, eines menschlichen Schicksals.
Trauriger und wichtiger wird der Gedanke, daß auch dieser große Schöpfer von Geschichte und Weltseele immer mehr veralte! daß da Worte und Sitten und Gattungen der Zeitalter, wie ein Herbst von Blättern welken und absinken, wir schon jetzt aus diesen großen Trümmern der Ritternatur so weit heraus sind, daß selbst Garrick, der Wiedererwecker und Schutzengel auf seinem Grabe, so viel ändern, auslassen, verstümmeln muß, und bald vielleicht, da sich alles so sehr verwischt und anders wohin neiget, auch sein Drama der lebendigen Vorstellung ganz unfähig werden, und eine Trümmer von Kolossus, von Pyramide sein wird, die jeder anstaunet und keiner begreift. Glücklich, daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo ich ihn begreifen konnte, und wo du, mein Freund, der du dich bei diesem Lesen erkennest und fühlst, und den ich vor seinem heiligen Bilde mehr als einmal umarmet, wo du noch den süßen und deiner würdigen Traum haben kannst, sein Denkmal aus unsern [320] Ritterzeiten in unsrer Sprache, unserm so weit abgearteten Vaterlande herzustellen. Ich beneide dir den Traum, und dein edles deutsches Würken laß nicht nach, bis der Kranz dort oben hange. Und solltest du als denn auch später sehen, wie unter deinem Gebäude der Boden wankt, und der Pöbel umher stillsteht und gafft, oder höhnt, und die daurende Pyramide nicht alten ägyptischen Geist wiederaufzuwecken vermag – dein Werk wird bleiben, und ein treuer Nachkomme dein Grab suchen, und mit andächtiger Hand dir schreiben, was das Leben fast aller Würdigen der Welt gewesen:
voluit! quiescit!
Goethe - Rede zum Schäkespears Tag
Johann Wolfgang Goethe
Rede zum Schäkespears Tag
(Johann Wolfgang Goethe, 1771, gedr. 1854)
Mir kommt vor, das sei die edelste von unsern Empfindungen, die Hoffnung, auch dann zu bleiben, wenn das Schicksal uns zur allgemeinen Nonexistenz zurückgeführt zu haben scheint. Dieses Leben, meine Herren, ist für unsre Seele viel zu kurz, Zeuge, daß jeder Mensch, der geringste wie der höchste, der unfähigste wie der würdigste, eher alles müd wird, als zu leben; und daß keiner sein Ziel erreicht, wornach er so sehnlich ausging - denn wenn es einem auf seinem Gange auch noch so lang glückt, fällt er doch endlich, und oft im Angesicht des gehofften Zwecks, in eine Grube, die ihm, Gott weiß wer, gegraben hat, und wird für nichts gerechnet.
Für nichts gerechnet! Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne! So ruft jeder, der sich fühlt, und macht große Schritte durch dieses Leben, eine Bereitung für den unendlichen Weg drüben. Freilich jeder nach seinem Maß. Macht der eine mit dem stärksten Wandrertrab sich auf, so hat der andre Siebenmeilenstiefel an, überschreitet ihn, und zwei Schritte des letzten bezeichnen die Tagreise des ersten. Dem sei wie ihm wolle, dieser embsige Wandrer bleibt unser Freund und unser Geselle, wenn wir die gigantischen Schritte jenes anstaunen und ehren, seinen Fußtapfen folgen, seine Schritte mit den unsrigen abmessen.
Auf die Reise, meine Herren! die Betrachtung so eines einzigen Tapfs macht unsre Seele feuriger und größer als das Angaffen eines tausendfüßigen königlichen Einzugs.
Wir ehren heute das Andenken des größten Wandrers und tun uns dadurch selbst eine Ehre an. Von Verdiensten, die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in uns.
Erwarten Sie nicht, daß ich viel und ordentlich schreibe, Ruhe der Seele ist kein Festtagskleid; und noch zur Zeit habe ich wenig über Schäkespearen gedacht; geahndet, empfunden, wenn's hoch kam, ist das Höchste, wohin ich's habe bringen können. Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich auf zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem ersten Stücke fertig war, stund ich wie ein Blindgeborner, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenkt. Ich erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert, alles war mir neu, unbekannt, und das ungewohnte Licht machte mir Augenschmerzen. Nach und nach lernt ich sehen, und, dank sei meinem erkenntlichen Genius, ich fühle noch immer lebhaft, was ich gewonnen habe.
Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße hatte. Und jetzo, da ich sahe, wieviel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wieviel freie Seelen noch drinne sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte ihre Türne zusammenzuschlagen.
Das griechische Theater, das die Franzosen zum Muster nahmen, war, nach innrer und äußerer Beschaffenheit, so, daß eher ein Marquis den Alkibiades nachahmen könnte, als es Corneillen dem Sophokles zu folgen möglich wär.
Erst Intermezzo des Gottesdiensts, dann feierlich politisch, zeigte das Trauerspiel einzelne große Handlungen der Väter dem Volk, mit der reinen Einfalt der Vollkommenheit, erregte ganze große Empfindungen in den Seelen, denn es war selbst ganz, und groß.
Und in was für Seelen!
Griechischen! Ich kann mich nicht erklären, was das heißt, aber ich fühl's, und berufe mich der Kürze halben auf Homer und Sophokles und Theokrit, die haben's mich fühlen gelehrt.
Nun sag ich geschwind hintendrein: Französchen, was willst du mit der griechischen Rüstung, sie ist dir zu groß und zu schwer.
Drum sind alle französche Trauerspiele Parodien von sich selbst.
Wie das so regelmäßig zugeht, und daß sie einander ähnlich sind wie Schuhe, und auch langweilig mitunter, besonders in genere im vierten Akt, das wissen die Herren leider aus der Erfahrung, und ich sage nichts davon.
Wer eigentlich zuerst drauf gekommen ist, die Haupt- und Staatsaktionen aufs Theater zu bringen, weiß ich nicht, es gibt Gelegenheit für den Liebhaber zu einer kritischen Abhandlung. Ob Schäkespearen die Ehre der Erfindung gehört, zweifl ich; genung, er brachte diese Art auf den Grad, der noch immer der höchste geschienen hat, da so wenig Augen hinaufreichen und also schwer zu hoffen ist, einer könne ihn übersehen oder gar übersteigen. Schäkespear, mein Freund, wenn du noch unter uns wärest, ich könnte nirgend leben als mit dir, wie gern wollt ich die Nebenrolle eines Pylades spielen, wenn du Orest wärst, lieber als die geehrwürdigte Person eines Oberpriesters im Tempel zu Delphos.
Ich will abbrechen, meine Herren, und morgen weiterschreiben, denn ich bin in einem Ton, der Ihnen vielleicht nicht so erbaulich ist, als er mir von Herzen geht.
Schäkespears Theater ist ein schöner Raritätenkasten, in dem die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt. Seine Plane sind, nach dem gemeinen Stil zu reden, keine Plane, aber seine Stücke drehen sich um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche unsres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt. Unser verdorbener Geschmack aber umnebelt dergestalt unsere Augen, daß wir fast eine neue Schöpfung nötig haben, uns aus dieser Finsternis zu entwickeln.
Alle Franzosen und angesteckte Deutsche, sogar Wieland, haben sich bei dieser Gelegenheit, wie bei mehreren, wenig Ehre gemacht. Voltaire, der von jeher Profession machte, alle Majestäten zu lästern, hat sich auch hier als ein echter Thersit bewiesen. Wäre ich Ulysses; er sollte seinen Rücken unter meinem Zepter verzerren.
Die meisten von diesen Herren stoßen auch besonders an seinen Charakteren an.
Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen!
Da hab ich sie alle überm Hals.
Laßt mir Luft, daß ich reden kann!
Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe; darin liegt's, daß wir unsre Brüder verkennen; und dann belebte er sie alle mit dem Hauch seines Geistes, er redet aus allen, und man erkennt ihre Verwandtschaft.
Und was will sich unser Jahrhundert unterstehen, von Natur zu urteilen. Wo sollten wir sie her kennen, die wir von Jugend auf alles geschnürt und geziert an uns fühlen und an andern sehen. Ich schäme mich oft vor Schakespearen, denn es kommt manchmal vor, daß ich beim ersten Blick denke, das hätt ich anders gemacht! Hintendrein erkenn ich, daß ich ein armer Sünder bin, daß aus Schakespearen die Natur weissagt und daß meine Menschen Seifenblassen sind, von Romanengrillen aufgetrieben.
Und nun zum Schluß, ob ich gleich noch nicht angefangen habe.
Das, was edle Philosophen von der Welt gesagt haben, gilt auch von Schakespearen, das, was wir bös nennen, ist nur die andre Seite vom Guten, die so notwendig zu seiner Existenz und das Ganze gehört, als Zona torrida brennen und Lappland einfrieren muß, daß es einen gemäßigten Himmelsstrich gebe.
Er führt uns durch die ganze Welt, aber wir verzärtelte unerfahrne Menschen schreien bei jeder fremden Heuschrecke, die uns begegnet: Herr, er will uns fressen.
Auf, meine Herren! trompeten Sie mir alle edle Seelen aus dem Elysium des sogenannten guten Geschmacks, wo sie schlaftrunken, in langweiliger Dämmerung halb sind, halb nicht sind, Leidenschaften im Herzen und kein Mark in den Knochen haben; und weil sie nicht müde genug, zu ruhen, und doch zu faul sind, um tätig zu sein, ihr Schattenleben zwischen Myrten und Lorbeergebüschen verschlendern und vergähnen.
Rede zum Schäkespears Tag
(Johann Wolfgang Goethe, 1771, gedr. 1854)
Mir kommt vor, das sei die edelste von unsern Empfindungen, die Hoffnung, auch dann zu bleiben, wenn das Schicksal uns zur allgemeinen Nonexistenz zurückgeführt zu haben scheint. Dieses Leben, meine Herren, ist für unsre Seele viel zu kurz, Zeuge, daß jeder Mensch, der geringste wie der höchste, der unfähigste wie der würdigste, eher alles müd wird, als zu leben; und daß keiner sein Ziel erreicht, wornach er so sehnlich ausging - denn wenn es einem auf seinem Gange auch noch so lang glückt, fällt er doch endlich, und oft im Angesicht des gehofften Zwecks, in eine Grube, die ihm, Gott weiß wer, gegraben hat, und wird für nichts gerechnet.
Für nichts gerechnet! Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne! So ruft jeder, der sich fühlt, und macht große Schritte durch dieses Leben, eine Bereitung für den unendlichen Weg drüben. Freilich jeder nach seinem Maß. Macht der eine mit dem stärksten Wandrertrab sich auf, so hat der andre Siebenmeilenstiefel an, überschreitet ihn, und zwei Schritte des letzten bezeichnen die Tagreise des ersten. Dem sei wie ihm wolle, dieser embsige Wandrer bleibt unser Freund und unser Geselle, wenn wir die gigantischen Schritte jenes anstaunen und ehren, seinen Fußtapfen folgen, seine Schritte mit den unsrigen abmessen.
Auf die Reise, meine Herren! die Betrachtung so eines einzigen Tapfs macht unsre Seele feuriger und größer als das Angaffen eines tausendfüßigen königlichen Einzugs.
Wir ehren heute das Andenken des größten Wandrers und tun uns dadurch selbst eine Ehre an. Von Verdiensten, die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in uns.
Erwarten Sie nicht, daß ich viel und ordentlich schreibe, Ruhe der Seele ist kein Festtagskleid; und noch zur Zeit habe ich wenig über Schäkespearen gedacht; geahndet, empfunden, wenn's hoch kam, ist das Höchste, wohin ich's habe bringen können. Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich auf zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem ersten Stücke fertig war, stund ich wie ein Blindgeborner, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenkt. Ich erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert, alles war mir neu, unbekannt, und das ungewohnte Licht machte mir Augenschmerzen. Nach und nach lernt ich sehen, und, dank sei meinem erkenntlichen Genius, ich fühle noch immer lebhaft, was ich gewonnen habe.
Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße hatte. Und jetzo, da ich sahe, wieviel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wieviel freie Seelen noch drinne sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte ihre Türne zusammenzuschlagen.
Das griechische Theater, das die Franzosen zum Muster nahmen, war, nach innrer und äußerer Beschaffenheit, so, daß eher ein Marquis den Alkibiades nachahmen könnte, als es Corneillen dem Sophokles zu folgen möglich wär.
Erst Intermezzo des Gottesdiensts, dann feierlich politisch, zeigte das Trauerspiel einzelne große Handlungen der Väter dem Volk, mit der reinen Einfalt der Vollkommenheit, erregte ganze große Empfindungen in den Seelen, denn es war selbst ganz, und groß.
Und in was für Seelen!
Griechischen! Ich kann mich nicht erklären, was das heißt, aber ich fühl's, und berufe mich der Kürze halben auf Homer und Sophokles und Theokrit, die haben's mich fühlen gelehrt.
Nun sag ich geschwind hintendrein: Französchen, was willst du mit der griechischen Rüstung, sie ist dir zu groß und zu schwer.
Drum sind alle französche Trauerspiele Parodien von sich selbst.
Wie das so regelmäßig zugeht, und daß sie einander ähnlich sind wie Schuhe, und auch langweilig mitunter, besonders in genere im vierten Akt, das wissen die Herren leider aus der Erfahrung, und ich sage nichts davon.
Wer eigentlich zuerst drauf gekommen ist, die Haupt- und Staatsaktionen aufs Theater zu bringen, weiß ich nicht, es gibt Gelegenheit für den Liebhaber zu einer kritischen Abhandlung. Ob Schäkespearen die Ehre der Erfindung gehört, zweifl ich; genung, er brachte diese Art auf den Grad, der noch immer der höchste geschienen hat, da so wenig Augen hinaufreichen und also schwer zu hoffen ist, einer könne ihn übersehen oder gar übersteigen. Schäkespear, mein Freund, wenn du noch unter uns wärest, ich könnte nirgend leben als mit dir, wie gern wollt ich die Nebenrolle eines Pylades spielen, wenn du Orest wärst, lieber als die geehrwürdigte Person eines Oberpriesters im Tempel zu Delphos.
Ich will abbrechen, meine Herren, und morgen weiterschreiben, denn ich bin in einem Ton, der Ihnen vielleicht nicht so erbaulich ist, als er mir von Herzen geht.
Schäkespears Theater ist ein schöner Raritätenkasten, in dem die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt. Seine Plane sind, nach dem gemeinen Stil zu reden, keine Plane, aber seine Stücke drehen sich um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche unsres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt. Unser verdorbener Geschmack aber umnebelt dergestalt unsere Augen, daß wir fast eine neue Schöpfung nötig haben, uns aus dieser Finsternis zu entwickeln.
Alle Franzosen und angesteckte Deutsche, sogar Wieland, haben sich bei dieser Gelegenheit, wie bei mehreren, wenig Ehre gemacht. Voltaire, der von jeher Profession machte, alle Majestäten zu lästern, hat sich auch hier als ein echter Thersit bewiesen. Wäre ich Ulysses; er sollte seinen Rücken unter meinem Zepter verzerren.
Die meisten von diesen Herren stoßen auch besonders an seinen Charakteren an.
Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen!
Da hab ich sie alle überm Hals.
Laßt mir Luft, daß ich reden kann!
Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe; darin liegt's, daß wir unsre Brüder verkennen; und dann belebte er sie alle mit dem Hauch seines Geistes, er redet aus allen, und man erkennt ihre Verwandtschaft.
Und was will sich unser Jahrhundert unterstehen, von Natur zu urteilen. Wo sollten wir sie her kennen, die wir von Jugend auf alles geschnürt und geziert an uns fühlen und an andern sehen. Ich schäme mich oft vor Schakespearen, denn es kommt manchmal vor, daß ich beim ersten Blick denke, das hätt ich anders gemacht! Hintendrein erkenn ich, daß ich ein armer Sünder bin, daß aus Schakespearen die Natur weissagt und daß meine Menschen Seifenblassen sind, von Romanengrillen aufgetrieben.
Und nun zum Schluß, ob ich gleich noch nicht angefangen habe.
Das, was edle Philosophen von der Welt gesagt haben, gilt auch von Schakespearen, das, was wir bös nennen, ist nur die andre Seite vom Guten, die so notwendig zu seiner Existenz und das Ganze gehört, als Zona torrida brennen und Lappland einfrieren muß, daß es einen gemäßigten Himmelsstrich gebe.
Er führt uns durch die ganze Welt, aber wir verzärtelte unerfahrne Menschen schreien bei jeder fremden Heuschrecke, die uns begegnet: Herr, er will uns fressen.
Auf, meine Herren! trompeten Sie mir alle edle Seelen aus dem Elysium des sogenannten guten Geschmacks, wo sie schlaftrunken, in langweiliger Dämmerung halb sind, halb nicht sind, Leidenschaften im Herzen und kein Mark in den Knochen haben; und weil sie nicht müde genug, zu ruhen, und doch zu faul sind, um tätig zu sein, ihr Schattenleben zwischen Myrten und Lorbeergebüschen verschlendern und vergähnen.
Junge mit Pfeife - Picasso
1905 gemalt, Picasso war 24. Als ich Kind war, hing das Bild lange, lange in meinem Schlafzimmer, oder genauer eine Kopie, das Original hat Sotheby's für $104,168,000 versteigert.
Dienstag, 8. März 2011
Frauentag
„Im Einvernehmen mit den klassenbewussten politischen und gewerkschaftlichen Organisationen des Proletariats in ihrem Lande veranstalten die sozialistischen Frauen aller Länder jedes Jahr einen Frauentag, der in erster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dient. […] Der Frauentag muß einen internationalen Charakter tragen und ist sorgfältig vorzubereiten.“ (aus dem Beschlussantrag der Zweiten Internationale Sozialistische Frauenkonferenz 27.8. 1910 in Kopenhagen)
Heute heisst dieser Tag offiziell: "Tag der Vereinten Nationen für die Rechte der Frau und den Weltfrieden". Schön, dass man uns mit dem Weltfrieden zusammenpackt, da fühle ich mich in guter Gesellschaft. Gott sei Dank gibt es mehr Frauen als Weltfrieden.
Der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen findet übrigens am 25.11. statt. Und nach dem Kollabieren der UdSSR wurde in Armenien der Frauentag abgeschafft und durch den 7. April, den "Tag der Schönheit und Mutterschaft" ersetzt.
22 Prozent beträgt der Unterschied der Bruttoeinkommen zwischen Männern und Frauen in Deutschland durchschnittlich. (Online-Umfrage der Internetseite www.frauenlohnspiegel.de. Die Internetseite, listet die Löhne und Gehälter in 130 Berufen auf. An der Umfrage beteiligten sich rund 68.000 Beschäftigte.)
Frauen in den USA verdienten im Jahr 2008 nur 77 Cents für jeden Dollar den ein Mann verdiente. Die Zahl sinkt auf 68% bei schwarzen Amerikanerinnen und auf 58% bei Latinos.
Im EU-Durchschnitt verdienen Frauen ca. 17.5 % weniger als Männer.
Aufgrund der niedrigeren Löhne und Gehälter beziehen Frauen im Ruhestand auch niedrigere Renten und haben ein größeres Armutsrisiko im Alter.
Um die Existenz des geschlechtsspezifischen Lohngefälles in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken, hat die Europäische Kommission den europaweiten Equal Pay Day (EEPD), am 15. April, ausgerufen, der ab jetzt jährlich stattfinden wird. (Europäische Komission für Beschäftigung, Soziales und Integration)
Da können wir ja fast täglich feiern, feiern dass wir Frauen sind, dass wir weniger verdienen, dass vielen von uns Gewalt angetan wird, dass es uns gibt. Weil, wenn es uns nicht gäbe, wäre gar niemand zum Feiern da! Ich gratuliere mir und allen anderen Frauen zu unsere Existenz!
Einer der vielen Gründe sich über das Verschwinden der DDR zu freuen, ist die Tatsache, dass es im März außer Nelken und Gerbera mit Draht im Stil, nun auch andere Blumen zu kaufen gibt.
http://www.unric.org/de/internationale-tage-und-jahre
Vorfrühling - Rilke
Vorfrühling
Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,
greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.
Aus: Die Gedichte 1922 bis 1926 (Muzot, etwa 20. Februar 1924)
Rainer Maria Rilke
Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,
greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.
Rainer Maria Rilke
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