Dienstag, 8. März 2011

Frauentag


„Im Einvernehmen mit den klassenbewussten politischen und gewerkschaftlichen Organisationen des Proletariats in ihrem Lande veranstalten die sozialistischen Frauen aller Länder jedes Jahr einen Frauentag, der in erster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dient. […] Der Frauentag muß einen internationalen Charakter tragen und ist sorgfältig vorzubereiten.“ (aus dem Beschlussantrag der Zweiten Internationale Sozialistische Frauenkonferenz 27.8. 1910 in Kopenhagen)

Heute heisst dieser Tag offiziell: "Tag der Vereinten Nationen für die Rechte der Frau und den Weltfrieden". Schön, dass man uns mit dem Weltfrieden zusammenpackt, da fühle ich mich in guter Gesellschaft. Gott sei Dank gibt es mehr Frauen als Weltfrieden.

Der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen findet übrigens am 25.11. statt. Und nach dem Kollabieren der UdSSR wurde in Armenien der Frauentag abgeschafft und durch den 7. April, den "Tag der Schönheit und Mutterschaft" ersetzt.

22 Prozent beträgt der Unterschied der Bruttoeinkommen zwischen Männern und Frauen in Deutschland durchschnittlich. (Online-Umfrage der Internetseite www.frauenlohnspiegel.de. Die Internetseite, listet die Löhne und Gehälter in 130 Berufen auf. An der Umfrage beteiligten sich rund 68.000 Beschäftigte.)

Frauen in den USA verdienten im Jahr 2008 nur 77 Cents für jeden Dollar den ein Mann verdiente. Die Zahl sinkt auf 68% bei schwarzen Amerikanerinnen und auf  58% bei Latinos.

Im EU-Durchschnitt verdienen Frauen ca. 17.5 % weniger als Männer.

Aufgrund der niedrigeren Löhne und Gehälter beziehen Frauen im Ruhestand auch niedrigere Renten und haben ein größeres Armutsrisiko im Alter.

Um die Existenz des geschlechtsspezifischen Lohngefälles in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken, hat die Europäische Kommission den europaweiten Equal Pay Day (EEPD), am 15. April, ausgerufen, der ab jetzt jährlich stattfinden wird. (Europäische Komission für Beschäftigung, Soziales und Integration)

Da können wir ja fast täglich feiern, feiern dass wir Frauen sind, dass wir weniger verdienen, dass vielen von uns Gewalt angetan wird, dass es uns gibt. Weil, wenn es uns nicht gäbe, wäre gar niemand zum Feiern da! Ich gratuliere mir und allen anderen Frauen zu unsere Existenz!
Einer der vielen Gründe sich über das Verschwinden der DDR zu freuen, ist die Tatsache, dass es im März außer Nelken und Gerbera mit Draht im Stil, nun auch andere Blumen zu kaufen gibt.



http://www.unric.org/de/internationale-tage-und-jahre

Vorfrühling - Rilke

Vorfrühling

Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,

greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.

Aus: Die Gedichte 1922 bis 1926 (Muzot, etwa 20. Februar 1924)
Rainer Maria Rilke

Sonntag, 6. März 2011

Die Theaterwohnung 1


Mit Ausnahme von 5 Jahren in Rostock, lebe ich seit 1995 meist in Theaterwohnungen. Das heisst, elf Jahre die Farbe braun, umgangssprachlich kackbraun genannt. Ich vermute, dass die deutsche Theaterlandschaft, unterbewusst, mehr als vorstellbar, von dieser Farbe bestimmt wird. 
Ich bin gern allein, nicht gern einsam, aber wirklich gern allein. Aber diese Unterkünfte sind hart, die kosten Kraft, Augen zu, Nase zu, und für "Nester" wie mich ist das anstrengend. Also fokussiert man. 6, 7 oder 8 Wochen: Probe - hoffentlich gibt es ein gutes Cafe - Wohnung - Probe - Kantine/Kneipe - Wohnung. Das Kneipegehen nimmt mit den Jahren ab, also mehr Wohnung. Die Wochenenden sind ein ganz eigenes Thema! 
Was mögen das für Leute sein, die diese kastenförmigen Holzersatzmöbel erdenken? Haben die auch mal Mies Van Der Rohe und Corbusier studiert, ich meine, selbst Ikea ist besser! Werden sie aus Erfolglosigkeit dann zu bitteren Sadisten: Sollen sie doch alle leiden, ausgesetzt dieser Augen-und Körperpest!
Ist schon ein Widerspruch, man denkt, brütet, grübelt über Inhalte und Ästhetik während man im Augenwinkel von den monströsen Ausgeburten des Billig-Konsumerismus attackiert wird. 
Also organisiert man sich Ablenkung. 
Hier in Ingolstadt kann ich viel seltener probieren als ich möchte, da hier alle Spieler 6 bis 7 Mal die Woche Vorstellung haben und ich ein Ensemble-Stück probiere. Ergo viel Freizeit! Was soll ich damit? Glaubt mir, es gibt einen Punkt, an dem man nicht mehr lesen, schreiben oder Musik hören kann! Die hiesigen Theaterproduktionen habe ich nahezu alle gesehen, mit Ausnahme von "Rocky Horror Show" und einer Bühnenfassung von "Harry und Sally" -  es gibt Grenzen, nicht wahr?
Einen Großteil meiner mosaikartigen Bildung verdanke ich also deutschen kleinstädtischen Theaterwohnungen und meiner Unfähigkeit regelmäßig fernzusehen.  (Man soll doch immer das Gute im Schlechten sehen.)
Genug gejammert, draußen ist Frühling, es gibt ein wirklich gutes Cafe mit Internetzugang, das Ensemble ist erschöpft, aber neugierig und probenlustig, das Stück ist ein dicker, fetter Bissen und bis auf den Intendanten, sind die Leute im Theater prima. Lieber eine miese Wohnung, als ein mieses Theater!
Und doch, manchmal kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht Spätschäden geben könnte. Im Alter, das Gedächtnis vergeht langsam und die letzten Bilder: braunes Laminat, orangene Kunststoffgardinen und das unvermeidliche Blumen-Aquarell................



Mal' innen deine Zimmer...
Mal' innen deine Zimmer aus,
Dass sich daran dein Aug' erquicke;
Lass außen ungeschmückt dein Haus,
Dass es nicht reize Feindesblicke.

Friedrich Rückert (1788-1866)

Samstag, 5. März 2011

Mode


Arte füllt ein "Fashion Wochenende" mit hochinteressanten Dokumentationen über Designer und Mode. Das ist spannend, ist Theater.
Karl Lagerfeld, durchinszeniert bis in die Zehenspitzen, unablässig tätig, scheinbar ohne Pause schwatzend und mittendrin sein überraschend ordinärer deutscher Humor. Vivienne Westwood, die ich verehre, auf dem Fahrrad in London auf dem Weg zum Gesangsunterricht, wo sie wie ein kleines Mädchen mit ihrer dünnen süßen Kinderstimme von dem lehrenden Tenor niedergesungen wird. Dann zeigt sie an einer Kleiderpuppe, wie man "ganz leicht" Stoff zu einem Kleid drapieren kann. Die Frau hat mit Malcolm McLaren als Punk begonnen, die Sex Pisols kostümiert, ist Spezialistin für historische Schnitttechniken und ging zur Royal Garden Party ohne Höschen, jetzt ist sie 70 und nimmt Operngesangs-Unterricht . Die muss man doch lieben, oder?
Das sind hochprofessionelle Verrückte. Lagerfeld hatte nahezu immer ein Buch in der Hand und unter dem Gequatsche, spürt man, dass er enorm viel weiss und sehr harte, aber keineswegs dumme Meinungen hat.
Dann - Schuhe. die wenigsten Frauen sind frei von Schuhträumen. Wenn ich nicht so sagenhaft faul wäre, würde ich nur Stöckelschuhe tragen. Man läuft anders, das Selbstwertgefühl steigt und die faulen deutschen Hüften müssen schwingen.
Schade, ich habe immer noch das Gefühl, dass Modelust hierzulande etwas leicht Peinliches, Belächeltes ist. Warum eigentlich? Wieder unsere Verachtung für Entertainment/Unterhaltung. Mangel an Ernsthaftgkeit durch Interesse für Äußerlichkeit? Schwachsinn. Kein Mensch kann mein Innerstes sehen, die meisten interessiert es auch gar nicht, aber das Äußere kann ich nicht dauerhaft verbergen. Also, will ich kommunizieren, muss ich mit dem Draußen beginnen, oder? Ist Mode der Feind der Seele, der Intelligenz oder nur ein anderer Spielplatz für beide? Wie schon der kleine Maulwurf aus der Zeichentrickserie immer sagte: "Ich will blaue Hosen mit großen Tasche für mein Spielzeug!" Ich meine mit Mode nicht die Widerspiegelung irgendwelcher gerade ausgerufener Trends und auch nicht die externe Sichtbarmachung der jeweiligen finanziellen Situation, sondern etwas höchst individuelles, basierend auf dem eigenen wirklichen Körper (nicht auf dem der uns eingeredet und vorgeworben wird) und mit Lust und Humor das Selbst hebend oder dekorierend und, wenn man sich mal nicht so fühlt, auch verbergend. Ein Spaß! Das gilt übrigens auch für Männer, ihr Armen, so viel eingeschränkter als wir. Aber es gibt Möglichkeiten außerhalb von Jeans und ollen T-Shirts, wirklich. Männer-Hintern können etwas hinreißendes sein, aber man muß sie sehen können, hm?


Freitag, 4. März 2011

Adams Äpfel - Hiob in Dänemark

Ein dänischer Film von 2005. Anders Thomas Jensen hat das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. Mads Mikkelsen ist Ivan oder eigentlich Hiob, Ulrich Thomson als Adam der sympathischste Nazi aller Zeiten oder Satan, und jeder Schauspieler, der mitspielt ist großartig, oder zumindestens großartig besetzt.
Ivan ist lutheranischer Pfarrer und leitet ein kleines Resozialisierungsprojekt für Verbrecher auf Bewährung, Adam ist der Neuankömmling. Ein Kampf von grandiosem Ausmaß und irrwitziger Komik entbrennt zwischen den beiden und reißt alle Anwesenden in seinen Strudel. Adam testet die Güte und Demut des Pfarrers mit zunehmend aggressiver Verbissenheit, Ivan widersteht, bis, ja bis er die Realität, die grauenhaft ist, akzeptiert und zusammenbricht, bzw. von Adam in den Kopf geschossen wird. Ohne seine schier unglaubliche Kraft, die aus der Selbstverblendung wuchs, ist er handlungsunfähig und Adam muss seine Aufgabe übernehmen.

Es gibt viele Bibelverfilmungen, und bis auf die "Matthäus Passion" von Pasolini und "Jesus Christ Superstar", sind alle, die ich gesehen habe, gräßlich gewesen. Pompös und/oder zuckrig-sentimental oder, wie im Fall von Mel Gibsons Passions-Machwerk von ekelerregender Unmenschlichkeit, so als könne man Gottes Taten und Untaten, nur durch völlige Verachtung des Menschen preisen.

Hier ist es anders. Jensen ist Humanist, das größte Kompliment, das ich in der Lage bin, jemandem zu machen. Die Unerträglichkeit der Welt und die Ungerechtigkeit des, nennen wir es aus Mangel an genaueren Worten mal, Schicksals, anerkennt er, aber wir haben keine andere Welt, und das anerkennt er auch, mit Humor und Trauer und Zärtlichkeit.
Zum Beispiel der Nazi, der unter seinem hilflosen Hass auf, ja auf was, auf alles, fast explodiert - wie das gespielt und ausgereizt wird, herrlich. Außerdem gibt es wunderbare, pathetische Bilder, die aber nie völlig die Realität abdecken wollen.
Bitte ansehen. Mit Mads Mikkelsen kann man gar nicht falsch liegen!

Merkwürdig

Über Nacht hat sich mein Layout selbstständig verändert. Hoffentlich nur für kurze Zeit. Falls ihr eine Störung bemerkt, gebt Nachricht, bitte.

Donnerstag, 3. März 2011

Heimat? - Matthias Claudius

Immer noch zum Thema "Heimat". Warum ist dieses Lied für mich, die ich wahrlich keine Christin und nicht einmal eine grosse Naturliebhaberin bin, so sehr wie Heimat (ein Wort dass ich bisher übrigens selten benutzt habe)? Wie ein Pawlowscher Hund auf bestimmte Reizungen hin speichelt, bekomme ich beim Anhören dieses Liedes sofort Tränen in die Augen. Inhaltlich hätte ich mehr als eine Frage zum Text, das ist es nicht. Aber der Klang und der weiche Rhythmus und die einzelnen Wörter und manche Formulierung und ????? Tja, verflixt, ich habe keine Antwort. Und als ich in Toronto nach der zweihundertsten Bemerkung über die Harschheit der deutschen Sprache den Hals voll hatte und einen deutsche Gedichteabend organisierte, war dieses Gedicht das erste auf meiner Liste.

Abendlied

Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar;
der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille
und in der Dämmrung Hülle
so traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt.

Sehr ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.

Wir stolze Menschenkinder
sind eitel arme Sünder
und wissen gar nicht viel;
wir spinnen Luftgespinste
und suchen viele Künste
und kommen weiter von dem Ziel.

Gott, laß uns Dein Heil schauen,
auf nichts Vergänglichs trauen,
nicht Eitelkeit uns freun!
Laß uns einfältig werden
und vor Dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein!

Wollst endlich sonder Grämen
aus dieser Welt uns nehmen
durch einen sanften Tod,
und wenn Du uns genommen,
laß uns in Himmel kommen,
Du, unser Herr und unser Gott!

So legt euch denn, ihr Brüder,
in Gottes Namen nieder!
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott, mit Strafen;
und laß uns ruhig schlafen
d unsern kranken Nachbar auch!
Matthias Claudius 1771



Das folgende ist wohl die Vorlage für Claudius gewesen:

O Welt ich muß dich lassen.

1.
Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Städt und Felder,
Es schläfft die gantze Welt:
Ihr aber meine Sinnen
Auf, auf ihr solt beginnen,
Was eurem Schöpffer wolgefällt.
2.
Wo bist du Sonne blieben?
Die Nacht hat dich vertrieben,
Die Nacht des Tages Feind:
Fahr hin, ein andre Sonne
Mein Jesus, meine Wonne,
Gar hell in meinem Hertzen scheint.
3.
Der Tag ist nun vergangen:
Die güldnen Sternlein prangen
Am blauen Himmels-Saal
So, so werd ich auch stehen,
Wann mich wird heissen gehen
Mein Gott aus diesem Jammerthal.
4.
Der Leib, der eilt zur Ruhe
Legt ab das Kleid und Schuhe
Das Bild der Sterbligkeit:
Die zieh ich aus dargegen
wird Christus mir an legen
Den Rock der Ehr und Herrligkeit.
5.
Das Häupt die Füß und Hände,
Sind froh daß nun zum Ende
Die Arbeit kommen sey:
Hertz, freu dich: du solst werden
Vom Elend dieser Erden
Und von der Sünden Arbeit frey.
6.
Nun geht ihr matten Glieder,
Geht, geht und legt euch nieder,
Der Betten ihr begehrt:
Es kommen Stund und Zeiten,
Da man euch wird bereiten
Zur Ruh ein Bettlein in der Erd.
7.
Mein Augen stehn verdrossen,
Im huy sind sie verschlossen,
Wo bleibt denn Leib und Seel?
Nim sie zu deinen Gnaden,
Sey gut vor allen Schaden,
Du Aug und Wächter Israel.
8.
Breit aus die Flügel beide,
O Jesu meine Freude,
Und nim dein Küchlein ein:
Will Satan mich verschlingen,
686
So laß die Englein singen
Diß Kind sol unverletzet seyn.
9.
Auch euch ihr meine Lieben
Sol heute nicht betrüben
Kein Unfall noch Gefahr:
Gott laß euch ruhig schlaffen
Stell euch die güldnen Waffen
Umbs Bett, und seiner Helden Schaar.
Paul Gerhardt 1653

Die schöne Melodie zu diesem Lied ist erborgt; ursprünglich wurde sie zu dem weltlichen Liede: "Insbruck ich muß dich lassen" von Heinrich Isaac, um 1500 komponiert

Mittwoch, 2. März 2011

Heimat

Ein Facebook-Freund hat mich auf die nachlässige Verwendung eines Wortes aufmerksam gemacht. HEIMAT. Ein Wort umstellt von Verdächtigungen und vollgestopft mit vagen Gerüchen und Geschmackserinnerungen (Meine Mutter erinnert nichts so gut wie genossene Speisen und ich, bzw. meine Zunge, haben da da auch eine grosse Sammlung.), patriotischem Gelaber, Landschaften, Narben, Farben, ersten Lieben und Sprachfetzen. Was ist Heimat?
Ich bin deutsche Jüdin ohne Religion, Kind eines arisch-anhaltinischen Spätkommunisten, aufgewachsen in der DDR, privilegiert, also früher als andere reisend, Berliner, mit starken Bindungen zur märkischen Schweiz, meine Sprache ist Deutsch, bin aber auch Anglomane und ich liebe Mischbrot mit Leberwurst. Ich bin "am" Theater.
Wikipedia: Das Wort Heimat verweist zumeist auf eine Beziehung zwischen Menschen und Raum. Das Wort kann sich auf eine Gegend oder Landschaft, aber auch auf Dorf, Stadt, Land, Nation, Vaterland, Sprache oder Religion beziehen. Mit dem Wort „Heimat“ können somit nicht nur konkrete Orte, sondern ganz allgemein auch reale oder vorgestellte Objekte und Menschen bezeichnet werden, mit denen Menschen sich identifizieren und die sie positiv bewerten. Heimat ist die Gesamtheit der Lebensumstände, in denen ein Mensch aufwächst. 
Warum nenne ich also Theater Heimat? Warum?
Egal wo ich in ein Theater komme, der Geruch ist immer derselbe. Vielleicht nebensächlich, aber ich habe eine empfindliche Nase. 
Theater kommt nicht ohne Sprache aus, selbst wenn es schweigt, ist das eine ausdrückliche Verweigerung von Sprache. Wenn Menschen ins Theater gehen, um zu spielen oder zu schauen, setzen sie sich Sprache aus. Wenn ich laufe, im Cafe sitze, lausche, Fernsehen gucke, facebook lese spüre ich, wie Sprache zerfällt. xoxoxo heisst Küsse und Umarmungen, LOL = laughing out loud (laut lachen), geil ist ohne sexuelle Konnotationen. Sätze mit mehr als fünf Wörtern fallen selten. Coolness ist erstrebenswert, nicht weil weniger gelitten wird, sondern weil Leidenschaften den eiligen, auf Ziele gerichteten Lebensablauf stören und so verflixt irrational bleiben, trotz aller leichtverdaulichen Psycho-Beratungsbücher und Cosmopolitan-Artikel. Wo nimmt man sich Zeit zum Untersuchen des Leidens? Im Theater.
Ich bin nicht der einzige Mensch mit diesen idiotischen Gedanken, Gefühlen, Ängsten? Da sind andere, die genauso blöd, panisch, schwach, wie ich sind? Ja. Heimat. Heimat, heisst nicht allein zu sein. Das gleiche Koordinatensystem, wie jemand anderes zu haben. Heimat ist Verständigung ohne jede Versprechung auf Ewigkeit.
Länder lösen sich auf, Theater werden geschlossen, Sprachen sterben aus.

Thomas Brasch 2

Ich liebe diese Übersetzung, Adaption, Zuerfindung.
 
Aus "Romeo und Julia oder Liebe Macht Tod"

Nicht Narr, nicht Clown, nicht Trottel, nicht Idiot.
Ihr Zuschaukünstler habt für mich kein Wort.
Ich komm aus England. Daher kommt der Tod.
Ich bin der Sterbewitz. Ich bin der Mord-
Versuch, jaja, ich weiß. Auch der macht Spaß
Weil er sich reimt und ist nicht so gemeint,
denkt ihr. Ihr denkt? Sieh an, seit wann denkt Aas.
Ich bin mein eignes Volk. Ihr seid vereint.
In dem Verein, der richtet und der henkt.
Ich will, dass ihr euch hier zu Tode lacht,
voll faulem Mitgefühl das Herz verrenkt,
ersauft in Tränen mitten in der Nacht.
Ihr seid das Volk. Ich bins, der euch verhetzt.
Ich heiß: The Fool. Das wird nicht übersetzt.

und noch Mercutio über Mab:

Ja, Mab, die Kinderfee, wie wunderbar,
            besuchte dich, ich merks, die Amme aller Feen,
            sie wird gezogen – klein wie ein Achat
            vom Zeigefinger eines hohen Herrn –
            von winzigen Atomen im Gespann
            über des Menschen Nasenloch im Schlaf.
            Ihr Kampfwagen ist eine Haselnuss,
            vom alten Tischler Eichhörnchen gebaut,
            die Räderspeichen sind aus Spinnenbein,
            Heuschreckenflügel sind das Wagendach,
            die Zügel sind aus feinstem Spinngeweb,
            das Quergeholz ist aus dem Mondscheinstrahl,
            aus Grillenknochen ist der Peitschenknauf,
            die kleine Mücke mit dem Mantel, grau,
            sitzt auf dem Kutschbock, halb so groß wien Wurm,
            gezogen aus dem Finger einer Magd.
            So aufgemacht verreist Mab Nacht für Nacht
            von Liebestraum zu Liebestraum und dann
            zum Knie des Knechts, der träumt vom Kniefall schwer,
            zum Finger eines Anwalts, der träumt von Geld,
            zum Lippentraum der Damen, der träumt Kuss
            und Mab sticht wütend Blasen oft hinein
            in solche Lippen, weil ihr Süßes stinkt.
            Oft galoppiert sie über Dienernasen,
            die schnuppern träumend nach Bestechungsgeld.
            Oft kitzelt sie mit einem Schweineschwanz
            die Nase eines Pfaffen, der träumt schwer
            die schöne Melodie vom Kirchenzehnt.
Ach, dass er bald schon Minister wär.
            Den Hals eines Soldaten fährt sie ab,
            der träumt von einem abgeschlagnen Kopf,
            sehr ausländisch, von Breschen, Hinterhalt,
            von Sauferei und Siegen, worauf Mab
            aufs Ohr ihm trommelt, bis er hart erwacht,
            erschreckt und betet, bis er wieder schläft.
            Sie ist die Hexe, die ein Mädchen lehrt,
            wenns auf dem Rücken liegt, dich auszustehn.
            Mit Grazie und Gegenkraft zugleich.
Ja, das ist Mab, die Pferdemähnen nachts
            verknotet und Elfenhaar zusammenbackt.
            Und beides heißt: Ein großes Unglück droht.
            Sie ist die Krankheit, doch die Nachricht auch.
            Sie tötet und tut sich allen kund.
            Ja, ihre Reise geht von Mund zu Mund
            Und fühlst du dich auch heut noch gesund,
            wart ab, denn Morgenstund hat Mab im Mund,
            erst Abenstund zeigt dir den tiefen Grund.

Dienstag, 1. März 2011

Thomas Brasch

Hamlet gegen Shakespeare

Das andere Wort hinter dem Wort.
Der andere Tod hinter dem Mord.
Das Unvereinbare in ein Gedicht:
Die Ordnung. Und der Riß, der sie zerbricht.
 
 
 
Meine Großmutter

Auf einem alten Foto ist sie eine schöne Frau
auf einem Berg: Am Rand.
Verächtlich sieht sie in die Kamera:
Schließlich ist mein Vater Fabrikant.
 
Ihr erster Mann erschoß sich mit 29. Den zweiten
verließ sie in München für den dritten und
wurde katholisch wie er. Als
die Nazis sie holten, rief sie: Was
wollt ihr von mir: Ich bin keine Jüdin mehr.
 
Im Konzentrationslager schrieb sie Gedichte. Die
steckte sie in den Ofen, bevor sie entlassen wurde
in die Irrenanstalt. In der Zelle schrieb sie 
einen Roman
über die Auswanderung eines Ameisenstaates von
Deutschland nach Amerika nach Afrika 
nach Deutschland.
 
Ich liebe Lissy, sagte ihr Mann, als
sie zurückkehrte in die Wohnung. Hier
ist dein Zimmer neben der Küche. Sie sagte:
Ich lasse mich scheiden. Und nahm ihren 
zerbeutelten Hut. Dann
bist du nicht mehr katholisch, sagte er, und 
gehst wieder
ins Lager. Sie legte den Hut aus der Hand: 
Zu euren Diensten:
eure Ameise will ich sein. Und schloß sich in ihr 
neues Zimmer ein.
 
Nach dem Krieg lebte sie zur Untermiete und
war angestellt bei der englischen Postzensur: Tag
für Tag schnitt sie faschistische Zeilen aus
deutschen Briefen. Als das Postgeheimnis wieder 
Gesetz war,
zog sie von München nach Potsdam,
zeigte mir ihren Gott, den ich nicht sah, kratzte
unter alten Frauen Scheiße
aus den Laken, sagte zu ihrem Sohn: Warum
gehst du nicht auf den Hof
spielen und fiel tot neben den Küchenherd.
 
Die Rätsel sind gelöst:
ihr Hirn sprang über.
Sie wollte nicht Heimat sagen:
Sie hatte kein Dach darüber.
 
Aus Thomas Brasch Was ich mir wünsche. Gedichte
 
Gibt es kein Wort in meiner Sprache,
dass sie in Rausch versetzt wie Wein?
Das ihren Willen gänzlich taumeln lässt
und ganz verschwinden dann?
Das sie in meine Arme sinken läßt - betrunken?
Gib mir das Wort, dass ich's ins Ohr ihr träufle
gegen ihre Krankheit!
Vernunft heisst diese Krankheit.
Doch wie heisst das Mittel gegen sie -
wie heisst das Zauberwort?
 
Aus: Der Papierflieger


Was ich habe, will ich nicht verlieren,
aber wo ich bin, will ich nicht bleiben,
aber die ich liebe, will ich nicht verlassen,
aber die ich kenne, will ich nicht mehr sehen,
aber wo ich lebe, da will ich nicht sterben,
aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.