Freitag, 4. März 2011

Adams Äpfel - Hiob in Dänemark

Ein dänischer Film von 2005. Anders Thomas Jensen hat das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. Mads Mikkelsen ist Ivan oder eigentlich Hiob, Ulrich Thomson als Adam der sympathischste Nazi aller Zeiten oder Satan, und jeder Schauspieler, der mitspielt ist großartig, oder zumindestens großartig besetzt.
Ivan ist lutheranischer Pfarrer und leitet ein kleines Resozialisierungsprojekt für Verbrecher auf Bewährung, Adam ist der Neuankömmling. Ein Kampf von grandiosem Ausmaß und irrwitziger Komik entbrennt zwischen den beiden und reißt alle Anwesenden in seinen Strudel. Adam testet die Güte und Demut des Pfarrers mit zunehmend aggressiver Verbissenheit, Ivan widersteht, bis, ja bis er die Realität, die grauenhaft ist, akzeptiert und zusammenbricht, bzw. von Adam in den Kopf geschossen wird. Ohne seine schier unglaubliche Kraft, die aus der Selbstverblendung wuchs, ist er handlungsunfähig und Adam muss seine Aufgabe übernehmen.

Es gibt viele Bibelverfilmungen, und bis auf die "Matthäus Passion" von Pasolini und "Jesus Christ Superstar", sind alle, die ich gesehen habe, gräßlich gewesen. Pompös und/oder zuckrig-sentimental oder, wie im Fall von Mel Gibsons Passions-Machwerk von ekelerregender Unmenschlichkeit, so als könne man Gottes Taten und Untaten, nur durch völlige Verachtung des Menschen preisen.

Hier ist es anders. Jensen ist Humanist, das größte Kompliment, das ich in der Lage bin, jemandem zu machen. Die Unerträglichkeit der Welt und die Ungerechtigkeit des, nennen wir es aus Mangel an genaueren Worten mal, Schicksals, anerkennt er, aber wir haben keine andere Welt, und das anerkennt er auch, mit Humor und Trauer und Zärtlichkeit.
Zum Beispiel der Nazi, der unter seinem hilflosen Hass auf, ja auf was, auf alles, fast explodiert - wie das gespielt und ausgereizt wird, herrlich. Außerdem gibt es wunderbare, pathetische Bilder, die aber nie völlig die Realität abdecken wollen.
Bitte ansehen. Mit Mads Mikkelsen kann man gar nicht falsch liegen!

Merkwürdig

Über Nacht hat sich mein Layout selbstständig verändert. Hoffentlich nur für kurze Zeit. Falls ihr eine Störung bemerkt, gebt Nachricht, bitte.

Donnerstag, 3. März 2011

Heimat? - Matthias Claudius

Immer noch zum Thema "Heimat". Warum ist dieses Lied für mich, die ich wahrlich keine Christin und nicht einmal eine grosse Naturliebhaberin bin, so sehr wie Heimat (ein Wort dass ich bisher übrigens selten benutzt habe)? Wie ein Pawlowscher Hund auf bestimmte Reizungen hin speichelt, bekomme ich beim Anhören dieses Liedes sofort Tränen in die Augen. Inhaltlich hätte ich mehr als eine Frage zum Text, das ist es nicht. Aber der Klang und der weiche Rhythmus und die einzelnen Wörter und manche Formulierung und ????? Tja, verflixt, ich habe keine Antwort. Und als ich in Toronto nach der zweihundertsten Bemerkung über die Harschheit der deutschen Sprache den Hals voll hatte und einen deutsche Gedichteabend organisierte, war dieses Gedicht das erste auf meiner Liste.

Abendlied

Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar;
der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille
und in der Dämmrung Hülle
so traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt.

Sehr ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.

Wir stolze Menschenkinder
sind eitel arme Sünder
und wissen gar nicht viel;
wir spinnen Luftgespinste
und suchen viele Künste
und kommen weiter von dem Ziel.

Gott, laß uns Dein Heil schauen,
auf nichts Vergänglichs trauen,
nicht Eitelkeit uns freun!
Laß uns einfältig werden
und vor Dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein!

Wollst endlich sonder Grämen
aus dieser Welt uns nehmen
durch einen sanften Tod,
und wenn Du uns genommen,
laß uns in Himmel kommen,
Du, unser Herr und unser Gott!

So legt euch denn, ihr Brüder,
in Gottes Namen nieder!
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott, mit Strafen;
und laß uns ruhig schlafen
d unsern kranken Nachbar auch!
Matthias Claudius 1771



Das folgende ist wohl die Vorlage für Claudius gewesen:

O Welt ich muß dich lassen.

1.
Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Städt und Felder,
Es schläfft die gantze Welt:
Ihr aber meine Sinnen
Auf, auf ihr solt beginnen,
Was eurem Schöpffer wolgefällt.
2.
Wo bist du Sonne blieben?
Die Nacht hat dich vertrieben,
Die Nacht des Tages Feind:
Fahr hin, ein andre Sonne
Mein Jesus, meine Wonne,
Gar hell in meinem Hertzen scheint.
3.
Der Tag ist nun vergangen:
Die güldnen Sternlein prangen
Am blauen Himmels-Saal
So, so werd ich auch stehen,
Wann mich wird heissen gehen
Mein Gott aus diesem Jammerthal.
4.
Der Leib, der eilt zur Ruhe
Legt ab das Kleid und Schuhe
Das Bild der Sterbligkeit:
Die zieh ich aus dargegen
wird Christus mir an legen
Den Rock der Ehr und Herrligkeit.
5.
Das Häupt die Füß und Hände,
Sind froh daß nun zum Ende
Die Arbeit kommen sey:
Hertz, freu dich: du solst werden
Vom Elend dieser Erden
Und von der Sünden Arbeit frey.
6.
Nun geht ihr matten Glieder,
Geht, geht und legt euch nieder,
Der Betten ihr begehrt:
Es kommen Stund und Zeiten,
Da man euch wird bereiten
Zur Ruh ein Bettlein in der Erd.
7.
Mein Augen stehn verdrossen,
Im huy sind sie verschlossen,
Wo bleibt denn Leib und Seel?
Nim sie zu deinen Gnaden,
Sey gut vor allen Schaden,
Du Aug und Wächter Israel.
8.
Breit aus die Flügel beide,
O Jesu meine Freude,
Und nim dein Küchlein ein:
Will Satan mich verschlingen,
686
So laß die Englein singen
Diß Kind sol unverletzet seyn.
9.
Auch euch ihr meine Lieben
Sol heute nicht betrüben
Kein Unfall noch Gefahr:
Gott laß euch ruhig schlaffen
Stell euch die güldnen Waffen
Umbs Bett, und seiner Helden Schaar.
Paul Gerhardt 1653

Die schöne Melodie zu diesem Lied ist erborgt; ursprünglich wurde sie zu dem weltlichen Liede: "Insbruck ich muß dich lassen" von Heinrich Isaac, um 1500 komponiert

Mittwoch, 2. März 2011

Heimat

Ein Facebook-Freund hat mich auf die nachlässige Verwendung eines Wortes aufmerksam gemacht. HEIMAT. Ein Wort umstellt von Verdächtigungen und vollgestopft mit vagen Gerüchen und Geschmackserinnerungen (Meine Mutter erinnert nichts so gut wie genossene Speisen und ich, bzw. meine Zunge, haben da da auch eine grosse Sammlung.), patriotischem Gelaber, Landschaften, Narben, Farben, ersten Lieben und Sprachfetzen. Was ist Heimat?
Ich bin deutsche Jüdin ohne Religion, Kind eines arisch-anhaltinischen Spätkommunisten, aufgewachsen in der DDR, privilegiert, also früher als andere reisend, Berliner, mit starken Bindungen zur märkischen Schweiz, meine Sprache ist Deutsch, bin aber auch Anglomane und ich liebe Mischbrot mit Leberwurst. Ich bin "am" Theater.
Wikipedia: Das Wort Heimat verweist zumeist auf eine Beziehung zwischen Menschen und Raum. Das Wort kann sich auf eine Gegend oder Landschaft, aber auch auf Dorf, Stadt, Land, Nation, Vaterland, Sprache oder Religion beziehen. Mit dem Wort „Heimat“ können somit nicht nur konkrete Orte, sondern ganz allgemein auch reale oder vorgestellte Objekte und Menschen bezeichnet werden, mit denen Menschen sich identifizieren und die sie positiv bewerten. Heimat ist die Gesamtheit der Lebensumstände, in denen ein Mensch aufwächst. 
Warum nenne ich also Theater Heimat? Warum?
Egal wo ich in ein Theater komme, der Geruch ist immer derselbe. Vielleicht nebensächlich, aber ich habe eine empfindliche Nase. 
Theater kommt nicht ohne Sprache aus, selbst wenn es schweigt, ist das eine ausdrückliche Verweigerung von Sprache. Wenn Menschen ins Theater gehen, um zu spielen oder zu schauen, setzen sie sich Sprache aus. Wenn ich laufe, im Cafe sitze, lausche, Fernsehen gucke, facebook lese spüre ich, wie Sprache zerfällt. xoxoxo heisst Küsse und Umarmungen, LOL = laughing out loud (laut lachen), geil ist ohne sexuelle Konnotationen. Sätze mit mehr als fünf Wörtern fallen selten. Coolness ist erstrebenswert, nicht weil weniger gelitten wird, sondern weil Leidenschaften den eiligen, auf Ziele gerichteten Lebensablauf stören und so verflixt irrational bleiben, trotz aller leichtverdaulichen Psycho-Beratungsbücher und Cosmopolitan-Artikel. Wo nimmt man sich Zeit zum Untersuchen des Leidens? Im Theater.
Ich bin nicht der einzige Mensch mit diesen idiotischen Gedanken, Gefühlen, Ängsten? Da sind andere, die genauso blöd, panisch, schwach, wie ich sind? Ja. Heimat. Heimat, heisst nicht allein zu sein. Das gleiche Koordinatensystem, wie jemand anderes zu haben. Heimat ist Verständigung ohne jede Versprechung auf Ewigkeit.
Länder lösen sich auf, Theater werden geschlossen, Sprachen sterben aus.

Thomas Brasch 2

Ich liebe diese Übersetzung, Adaption, Zuerfindung.
 
Aus "Romeo und Julia oder Liebe Macht Tod"

Nicht Narr, nicht Clown, nicht Trottel, nicht Idiot.
Ihr Zuschaukünstler habt für mich kein Wort.
Ich komm aus England. Daher kommt der Tod.
Ich bin der Sterbewitz. Ich bin der Mord-
Versuch, jaja, ich weiß. Auch der macht Spaß
Weil er sich reimt und ist nicht so gemeint,
denkt ihr. Ihr denkt? Sieh an, seit wann denkt Aas.
Ich bin mein eignes Volk. Ihr seid vereint.
In dem Verein, der richtet und der henkt.
Ich will, dass ihr euch hier zu Tode lacht,
voll faulem Mitgefühl das Herz verrenkt,
ersauft in Tränen mitten in der Nacht.
Ihr seid das Volk. Ich bins, der euch verhetzt.
Ich heiß: The Fool. Das wird nicht übersetzt.

und noch Mercutio über Mab:

Ja, Mab, die Kinderfee, wie wunderbar,
            besuchte dich, ich merks, die Amme aller Feen,
            sie wird gezogen – klein wie ein Achat
            vom Zeigefinger eines hohen Herrn –
            von winzigen Atomen im Gespann
            über des Menschen Nasenloch im Schlaf.
            Ihr Kampfwagen ist eine Haselnuss,
            vom alten Tischler Eichhörnchen gebaut,
            die Räderspeichen sind aus Spinnenbein,
            Heuschreckenflügel sind das Wagendach,
            die Zügel sind aus feinstem Spinngeweb,
            das Quergeholz ist aus dem Mondscheinstrahl,
            aus Grillenknochen ist der Peitschenknauf,
            die kleine Mücke mit dem Mantel, grau,
            sitzt auf dem Kutschbock, halb so groß wien Wurm,
            gezogen aus dem Finger einer Magd.
            So aufgemacht verreist Mab Nacht für Nacht
            von Liebestraum zu Liebestraum und dann
            zum Knie des Knechts, der träumt vom Kniefall schwer,
            zum Finger eines Anwalts, der träumt von Geld,
            zum Lippentraum der Damen, der träumt Kuss
            und Mab sticht wütend Blasen oft hinein
            in solche Lippen, weil ihr Süßes stinkt.
            Oft galoppiert sie über Dienernasen,
            die schnuppern träumend nach Bestechungsgeld.
            Oft kitzelt sie mit einem Schweineschwanz
            die Nase eines Pfaffen, der träumt schwer
            die schöne Melodie vom Kirchenzehnt.
Ach, dass er bald schon Minister wär.
            Den Hals eines Soldaten fährt sie ab,
            der träumt von einem abgeschlagnen Kopf,
            sehr ausländisch, von Breschen, Hinterhalt,
            von Sauferei und Siegen, worauf Mab
            aufs Ohr ihm trommelt, bis er hart erwacht,
            erschreckt und betet, bis er wieder schläft.
            Sie ist die Hexe, die ein Mädchen lehrt,
            wenns auf dem Rücken liegt, dich auszustehn.
            Mit Grazie und Gegenkraft zugleich.
Ja, das ist Mab, die Pferdemähnen nachts
            verknotet und Elfenhaar zusammenbackt.
            Und beides heißt: Ein großes Unglück droht.
            Sie ist die Krankheit, doch die Nachricht auch.
            Sie tötet und tut sich allen kund.
            Ja, ihre Reise geht von Mund zu Mund
            Und fühlst du dich auch heut noch gesund,
            wart ab, denn Morgenstund hat Mab im Mund,
            erst Abenstund zeigt dir den tiefen Grund.

Dienstag, 1. März 2011

Thomas Brasch

Hamlet gegen Shakespeare

Das andere Wort hinter dem Wort.
Der andere Tod hinter dem Mord.
Das Unvereinbare in ein Gedicht:
Die Ordnung. Und der Riß, der sie zerbricht.
 
 
 
Meine Großmutter

Auf einem alten Foto ist sie eine schöne Frau
auf einem Berg: Am Rand.
Verächtlich sieht sie in die Kamera:
Schließlich ist mein Vater Fabrikant.
 
Ihr erster Mann erschoß sich mit 29. Den zweiten
verließ sie in München für den dritten und
wurde katholisch wie er. Als
die Nazis sie holten, rief sie: Was
wollt ihr von mir: Ich bin keine Jüdin mehr.
 
Im Konzentrationslager schrieb sie Gedichte. Die
steckte sie in den Ofen, bevor sie entlassen wurde
in die Irrenanstalt. In der Zelle schrieb sie 
einen Roman
über die Auswanderung eines Ameisenstaates von
Deutschland nach Amerika nach Afrika 
nach Deutschland.
 
Ich liebe Lissy, sagte ihr Mann, als
sie zurückkehrte in die Wohnung. Hier
ist dein Zimmer neben der Küche. Sie sagte:
Ich lasse mich scheiden. Und nahm ihren 
zerbeutelten Hut. Dann
bist du nicht mehr katholisch, sagte er, und 
gehst wieder
ins Lager. Sie legte den Hut aus der Hand: 
Zu euren Diensten:
eure Ameise will ich sein. Und schloß sich in ihr 
neues Zimmer ein.
 
Nach dem Krieg lebte sie zur Untermiete und
war angestellt bei der englischen Postzensur: Tag
für Tag schnitt sie faschistische Zeilen aus
deutschen Briefen. Als das Postgeheimnis wieder 
Gesetz war,
zog sie von München nach Potsdam,
zeigte mir ihren Gott, den ich nicht sah, kratzte
unter alten Frauen Scheiße
aus den Laken, sagte zu ihrem Sohn: Warum
gehst du nicht auf den Hof
spielen und fiel tot neben den Küchenherd.
 
Die Rätsel sind gelöst:
ihr Hirn sprang über.
Sie wollte nicht Heimat sagen:
Sie hatte kein Dach darüber.
 
Aus Thomas Brasch Was ich mir wünsche. Gedichte
 
Gibt es kein Wort in meiner Sprache,
dass sie in Rausch versetzt wie Wein?
Das ihren Willen gänzlich taumeln lässt
und ganz verschwinden dann?
Das sie in meine Arme sinken läßt - betrunken?
Gib mir das Wort, dass ich's ins Ohr ihr träufle
gegen ihre Krankheit!
Vernunft heisst diese Krankheit.
Doch wie heisst das Mittel gegen sie -
wie heisst das Zauberwort?
 
Aus: Der Papierflieger


Was ich habe, will ich nicht verlieren,
aber wo ich bin, will ich nicht bleiben,
aber die ich liebe, will ich nicht verlassen,
aber die ich kenne, will ich nicht mehr sehen,
aber wo ich lebe, da will ich nicht sterben,
aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.

Theater ist Heimat

Das Volkstheater Rostock ist häßlich. Ich meine das Haus. Nachdem das ehemalige, den Bildern nach, sehr schöne neoklassizistische Gebäude am Steintor, 1942, von Bomben zerstört worden war, zog das Theater in ein eigentlich nicht als Theater gedachtes Gebäude und dort befand es sich noch bis vor wenigen Tagen, und seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts spricht, palavert, streitet man über einen Neubau.

Wie gesagt, das Gebäude ist häßlich.

Was gibt es denn noch so? Eine Stadthalle, riesig und ebenfalls häßlich. Das Theater am Stadthafen, eigentlich wunderbar, nur hat man beim Bau einige theatereigene Forderungen einfach außer Acht gelassen. Wenn es regnet, schlagen die Tropfen hart auf das nichtisolierte Dach, aber warum muß man denn verstehen was der Mitspieler sagt? Ach ja, Bühnenbildteile dürfen nicht breiter als einen Meter sein, sonst kriegt man sie nicht auf die Bühne. Das alte "Kleine Haus" in der Innenstadt zu renovieren wäre nicht teurer gewesen, aber irgendwer hätte dann nicht genug verdient. Die Bühne 602, klein und sehr tapfer, aber durch den Druck sich zu erhalten, in der Programmauswahl stark eingeschränkt. Ein Literaturclub am Kuhtor. Ein oder zwei Studentenclubs im DDR-Neubaustil, die kleine Komödie in Warnemünde - darf unter Strafandrohung nicht durch Hinweisschilder findbar gemacht werden und ist winzig, und, warum auch immer, hellblau angestrichen, für einen Theaterraum die ideale Farbe (reflektiert schön!). Was habe ich vergessen? Das LiWu, ein Programmkino, gibt es das noch?  Ich hoffe, aber es stand praktisch jedes Jahr unter Geldentzugsandrohung, also weiß ich es nicht. Zwei Riesenkinos, einige gute Buchhandlungen und außer im Kaufhaus, keinen Plattenladen.

Rostock hat circa 200 000 Einwohner.

Kultur (zu lat. cultura, „Bearbeitung“, „Pflege“, „Ackerbau“, von colere, „wohnen“, „pflegen“, „den Acker bestellen“) ist im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt, im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht veränderten Natur.

Rostock liegt an der Ostsee.

Kunst bezeichnet im weitesten Sinne jede entwickelte Tätigkeit, die auf Wissen, Übung Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gegründet ist. Im engeren Sinne werden damit Ergebnisse gezielter menschlicher Tätigkeit benannt, die nicht eindeutig durch Funktionen festgelegt sind.

Rostock steckt in enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

Was also nun? Theater zu. Neubau zu teuer.
Es geht hier gar nicht "nur" um die Bedürfnisbefriedigung einiger theaterbesessner Egomanen! Es geht um Heimat für Kultur. Möglichkeit für gesellige Kunst. Heimat im gesellschaftlichen Sinne. Gemeinsame Orte, um uns zu treffen und auszutauschen.

Theater (von altgr. τό θέατρον théatron „Schaustätte, Theater“; von θεάομαι theaomai „anschauen“) ist die Bezeichnung für eine szenische Darstellung eines inneren und äußeren Geschehens als künstlerische Kommunikation zwischen Akteuren (Darstellern) und dem Publikum.

Ehemaliges Rostocker Theater.


(Alle Definitionen aus "Wikipedia")

Sankt Sebastian

Tempera auf Holz um 1473 Alessandro di Mariano Filipepi Botticelli

Sebastian, Hauptmann der Prätorianergarde am kaiserlichen Hof, konvertierte öffentlich zum Christentum, woraufhin Kaiser Diokletian ihn zum Tode verurteilte und von Bogenschützen erschießen ließ. In dem Glauben, er sei tot, ließ man ihn danach liegen. Sebastian war jedoch nicht tot und wurde von einer frommen Witwe mit dem Namen Irene wieder gesund gepflegt. Nach seiner Genesung kehrte er zu Diokletian zurück und bekannte sich erneut zum Christentum. Diokletian befahl daraufhin, ihn mit Keulen im Circus zu erschlagen.

Ein herrliches Bild, cooler kann man mit 6 Pfeilen im Körper nicht auf die Welt schauen. Und schön ist er.

Montag, 28. Februar 2011

Nicht winkend sondern ertrinkend


NOT WAVING BUT DROWNING


Nobody heard him, the dead man,
But still he lay moaning:
I was much further out than you thought
And not waving but drowning.

Poor chap, he always loved larking
And now he's dead
It must have been too cold for him his heart gave way,
They said.

Oh, no no no, it was too cold always
(Still the dead one lay moaning)
I was much too far out all my life
And not waving but drowning.


Sinngemäße Übersetzung

NICHT WINKEND SONDERN ERTRINKEND

Niemand hörte ihn, den toten Mann,
Aber noch lag er stöhnend:
Ich war viel weiter draußen, als ihr dachtet
Und nicht winkend sondern ertrinkend.

Armer Kerl, immer zum Scherzen aufgelegt
Und nun ist er tot
Es muß zu kalt für ihn gewesen sein, sein Herz gab auf
Sagten sie.

O, nein nein nein, es war immer zu kalt
(Immer noch lag der Tote stöhnend)
Ich war mein Leben lang zu weit draußen
Und nicht winkend sondern ertrinkend. 

Stevie Smith, 1957

Stevie Smith, eigentlich Florence Margaret Smith, lebte von 1902 bis 1971 in in London, davon 66 Jahre im Haus ihrer Tante. Sie schrieb.


Sonntag, 27. Februar 2011

Franny and Zooey by Jerome David Salinger

Ich lese gerade nochmal den "Fänger im Roggen" und meine Begeisterung hält sich in Grenzen. 60 Jahre alt, 1951 erschienen und es ist nicht lang genug her, um klassisch, und doch schon zu lang, um modern zu wirken. Erinnere mich, wie aufgeregt ich war, als ich es, ich weiss nicht mehr auf welchen Wegen, endlich in der Hand hatte. Kurz davor hatte ich Kerouac gelesen und wir (alle so um die 14, 15) machten zynische Witze darüber, wie wir als Rentner, also im Reisealter, durch die USA trampen würden.
Und dann gab mir meine Mutter zwei dünne Bände, "9 Erzählungen oder Ein guter Tag für Bananenfisch" und "Franny und Zooey", beide von Salinger und beide mit Helden aus der Familie Glass, einer bunten Ansammlung von Wunderkindern inclusive schräger Eltern aus New York, die von Kindesbeinen an in einer Radioshow auftraten und die wunderlichsten Dinge von sich gaben. Man bedenke, ich 14, DDR, frühreif und erstaunlich ignorant, und zu dem Zeitpunkt nur mit mittelguten Kenntnissen der englische Sprache ausgestattet.
Es wurde ein einschneidendes Leseerlebnis. Zum Beispiel meine Zuneigung zu Sappho wurzelt im Titel der letzten der neun Erzählungen: Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute.

Raise high the roof-beams!
Sing the Hymeneal!
Raise it high, O carpenter men!
Sing the Hymeneal!
The bridegroom enters, like to Ares,
by far bigger than a big man.

Hebt den Dachbalken hoch!
Singt das Hochzeitslied!
Hebt ihn hoch, o Zimmerleute!
Singt das Hochzeitslied!
Der Bräutigam tritt ein, Ares gleich,
Viel größer als ein großer Mann.

Ich liebe die Vorstellung, dass man in Vorfreude auf das Eintreffen des Geliebten, das Dach vom Haus heben möchte. Und dann war da Seymor, der älteste der Glass-Kinder, der sich auf der Hochzeitsreise umbringt an einem guten Tag für Bananenfisch. Und, da war die fette Dame. Wer ist sie? Ich habe die Zitate nur im Original gefunden, aber es geht etwa so:

"Seymor hat mir gesagt, dass ich meine Schuhe putzen soll, gerade als ich mit Waker zur Tür raus wollte. ich war wütend. Das Studiopublikum bestand nur aus Idioten, der Ansager war ein Idiot, die Sponsoren waren Idioten, und ich würde verdammt nochmal nicht meine Schuhe für sie putzen. Das habe ich Seymor gesagt. Ich sagte, dass sie könnten sie sowieso nicht sehen, da wo wir saßen. Er sagte, ich solle sie für die Fette Dame putzen. Ich hatte keine Ahnung wovon er zum Teufel redete, aber er hatte diesen Seymor-Ausdruck im Gesicht, und da habe ich es gemacht. Er hat mir nie gesagt, wer die Fette Dame war, aber ich habe meine Schuhe für die Fette Dame geputzt, jedesmal wenn ich wieder auf Sendung ging - all die Jahre, die du und ich zusammen in dem Programm waren, wenn du dich erinnerst. Ich glaube, ich habe es höchstens zweimal verpasst. Dieses schrecklich klare, klare Bild der Fetten Dame entstand in meinem Kopf. Ich sah sie, wie sie den ganzen Tag auf dieser Veranda saß, Fliegen wegwedelte, mit dem Radio auf voller Lautstärke vom Morgen bis in die Nacht. Ich vermutete, die Hitze war furchtbar, und sie hatte wahrscheinlich Krebs, und - ich weiß nicht. Jedenfalls, es schien verdammt klar, warum Seymor wollte, dass ich meine Schuhe putze, wenn ich auf Sendung ging. Es machte Sinn."
"Es ist mir egal wo ein Schauspieler spielt, es kann im Freilichttheater, es kann im Radio sein, es kann im Fernsehen sein, es kann in einem gottverdammten Broadway Theater sein, komplett mit dem modischsten, bestgenährtesten, sonengebräuntestem Publikum, das man sich vorstellen kann. Aber ich werde dir ein schreckliches Geheimnis verraten - hörst du mir zu? Es gibt da draußen keinen, der nicht Seymors Fette Dame ist. Es gibt nirgends niemanden der nicht Seymors Fette Dame ist. Weisst du das nicht? Kennst du das verdammte Geheimnis noch immer nicht? Und weisst du nicht - hör mir jetzt zu - und weisst du nicht, wer diese Fette Dame wirklich ist?...Ah, Kumpel. Ah, Kumpel. Es ist Christus. Christus, Kumpel."
 
"Seymour'd told me to shine my shoes just as I was going out the door with Waker. I was furious. The studio audience were all morons, the announcer was a moron, the sponsors were morons, and I just damn well wasn't going to shine my shoes for them, I told Seymour. I said they couldn't see them anyway, where we sat. He said to shine them anyway. He said to shine them for the Fat Lady. I didn't know what the hell he was talking about, but he had a very Seymour look on his face, and so I did it. He never did tell me who the Fat Lady was, but I shined my shoes for the Fat Lady every time I ever went on the air again — all the years you and I were on the program together, if you remember. I don't think I missed more than just a couple of times. This terribly clear, clear picture of the Fat Lady formed in my mind. I had her sitting on this porch all day, swatting flies, with her radio going full-blast from morning till night. I figured the heat was terrible, and she probably had cancer, and — I don't know. Anyway, it seemed goddam clear why Seymour wanted me to shine my shoes when I went on the air. It made sense."
...
"I don't care where an actor acts. It can be in summer stock, it can be over a radio, it can be over television, it can be in a goddam Broadway theatre, complete with the most fashionable, most well-fed, most sunburned-looking audience you can imagine. But I'll tell you a terrible secret — Are you listening to me? There isn't anyone out there who isn't Seymour's Fat Lady. ...  There isn't anyone anywhere that isn't Seymour's Fat Lady. Don't you know that? Don't you know that goddam secret yet? And don't you know — listen to me, now — don't you know who that Fat Lady really is? . . . Ah, buddy. Ah, buddy. It's Christ Himself. Christ Himself, buddy."