Sonntag, 27. Februar 2011

Mein Computer und mein Gehirn

Was für ein erstaunliches Ding, so ein Computer. Ich sitze in Ingolstadt, da die Schauspieler unglaublich viele Vorstellungen spielen, habe ich nur gelegentlich Probe (Irrsinn!) und dieses mattsilberne Ding ermöglicht mir den Kontakt zur Welt außerhalb der bayrischen Provinz.
ABER, wenn er launisch ist, ärgerlich, eingeschnappt, was weiß ich, dann ist die Welt und die Hälfte meines Hirns, das auf meiner Festplatte lagert, einfach WEG! Lobotomie durch Entdigitalisierung. Es folgt Panik, vorsichtiges Herumexperimentieren mit Tasten und mehr Tasten, einmal musste ich 5 Tasten gleichzeitig drücken, und mein heftiges Verkrampfen ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass ich nie hätte Pianist werden können, und dann will das Ding doch nicht, oder wenn es will, begreife ich nicht, warum diesesmal und vorher nicht. Das Ganze funktioniert also genau wie mein biologisches Gehirn, sprunghaft, überraschend, gelegentlich beängstigend und nur scheinbar unter meiner Kontrolle. Jede Dummheit, die ich begehe, jeder Schwachsinn, den ich von mir gebe (und ich bin wirklich froh, dass Proben nicht mitgeschnitten werden, was rede ich nicht manchmal, um eine wirre Idee irgendwie nachvollziehbar zu machen!), aber auch die raren Geistesblitze, Querverbindungen kommt aus dem gleichen Gehirn mit der gleichen Zahl Neuronen, aber wo es da klickt, blitzt, Stromverbindungen koppeln oder reissen? Schon allein, was ich erinnere und was nicht, entzieht sich meiner Kontrolle. Dieser Blog ist sprechender Beweis. Was schießt mir wann durch den Kopf, warum lagern in den sogenannten Windungen unzählige Gedichte, irrelevante Details über entscheidende historische Ereignisse, deren Hauptzusammenhänge ich nur mit Mühe oder gar nicht rekonstruieren kann (oder mit Google) und bitte fragt niemals nach Jahreszahlen? Warum weiss ich was ein Haiku ist, kann mir aber ums Verrecken nicht merken, wann Shakespeare geboren wurde. Und sagt nicht, das liegt an der linken, rechten oder sonst einer Gehirnhälfte, denn auch in den diesen zugeordneten Aufgaben, kann ich bei meinen Denk-und Erinnerungvorgängen nur wenig Ordnung, Regel oder Zuverlässigkeit finden.
Allerdings ist man an das eigene verwirrte Denken gewohnt und solange nicht (Gott oder wer immer schütze uns!) Kalk, Schlaganfall oder andere Katastrophen die Festplatte löschen, lebt man meist ganz gut mit dem eigenen Chaos im Kopf. Nur anzunehmen, dass jemand anderes wirklich nachvollziehen kann, wie und warum ich zu bestimmten Entscheidungen und Einfällen gekommen bin, das fällt mir schwer. Und so leben wir in unseren individuellen Universen inclusive Schwarzer Löcher, Zeitkrümmung und Evolution und behaupten die Möglichkeit der Kommunikation.



Raoul Schrott / Arthur Jacobs: Gehirn und Gedicht - Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren Hanser 2011

Warum können wir uns beim Lesen so in ein Buch vertiefen, dass wir die Welt um uns vergessen? Warum gehen uns Reime ein Leben lang durch den Kopf, und warum schlagen Metaphern manchmal ein wie der Blitz? Raoul Schrott hat auf der Suche nach dem Geheimnis des Gedichts die neuesten Spuren der Biologie und Wissenschaft aufgenommen. Zusammen mit Arthur Jacobs zeigt er, wie sich in elementaren literarischen Stilmitteln neuronale Prozesse erkennen lassen. Anhand vieler Beispiele aus unterschiedlichsten Epochen führt er uns vor, wie wir denken, warum wir es so tun, wie wir es tun, und wie daraus Dichtung entsteht.

Samstag, 26. Februar 2011

Hamletmaschine


Gestern abend "Hamletmaschine" im kleinen Theater in Ingolstadt. Drei Schauspieler, ein Rollstuhl und Text. Shakespeare, Müller und das Viele, was da hineingewachsen ist. Gut zuzuhören, wie sich drei Leute mit diesen Texten herumschlagen. Gar nicht so sehr Inszenierung, mehr eine Konfrontation mit der Last der Worte. Worte, die, wenn du sie zu sprechen versuchst, sich wie ein Alb auf deine Schultern hocken und dir die Knie einknicken lassen.
Vor vielen Jahren im Deutschen Theater Ulli Mühe ganz hinten, oben im Bühnenbild der Müller-Inszenierung von "Hamlet", eine lange Pause, er rennt, stürzt ganz nach vorn, schmeißt sich hin und stößt, so schnell er kann, die gefürchteten Zeilen: "Sein oder Nicht Sein..." hervor, dann ein Ausatmen, gut das ist weg, jetzt kann ich weiterspielen. Das war für mich ein so wahrer Moment, dass ich laut aufgelacht habe, leider allein. Als ich Jahre später, das Stück (Hamlet) selber versucht habe, habe ich den Monolog ganz an den Anfang gesetzt, als Versuch Hamlets Ophelia zu beeindrucken. Es kann herrlich sein von einem Mann ins Bett geredet zu werden, oder? Viel später wird das Mädchen die Worte wiederholen, mißbraucht von jedem einzelnen Mann, werden sie ihr aus dem Mund fallen. Sie kommen ganz leicht:

Sein oder nicht sein, das ist die Frage –
Ob es von edlerm Geist ist, auszuhalten
Geschoß und Schleuder des wütenden Geschicks
Oder, in Waffen gegen eine See
Von Plagen, enden im Aufstand. Sterben, schlafen
Nicht mehr, und sagen mit dem Schlaf: vorbei
Das Herzweh und die tausend Qualen, unser
Fleischliches Erbteil. Das ist ein Schluß
Aufs innigste zu wünschen. Sterben, schlafen.
Schlafen, träumen vielleicht. Da ist der Haken.
Denn was im Todesschlaf für Träume kommen
Wenn abgestreift ist dieses Erdenwirrwarr.
Das hält uns auf - das ist die Furcht
Die macht, daß Elend derart lange lebt:      

Und ihre Antwort ist der Fluss.

Gestern abend haben die drei Spieler es erlaubt, dass ich ihre Neugier und ihre Überforderung mit ihnen teile und das hat den Abend spannend und wach werden lassen. Ich konnte folgen oder auch manchmal voranlaufen, abbiegen, kreuzen. Schön. Nur ganz am Ende, beim Elektra-Text: "Wenn sie mit Fleischermessern durch euer Schlafzimmer gehen, werdet ihr die Wahrheit wissen (ungefähres Zitat)", da wurde es bedeutungsschwer und ließ mich allein. Sind denn Hass, Verachtung, Rebellion und Tod, wirklich alles, das bleibt? Und wenn, warum sind wir dann nicht alle im Fluss, mit oder ohne Blumen im Haar. Was hält uns auf? Nur die Furcht?



To die, to sleep--
To sleep--perchance to dream: ay, there's the rub,

For in that sleep of death what dreams may come
When we have shuffled off this mortal coil,
Must give us pause. There's the respect
That makes calamity of so long life.
 
rub = die Reibestelle, da wo Reibung entsteht.
 

Freitag, 25. Februar 2011

Das Volkstheater Rostock 2011 Vorschlag

Geschrieben circa 2003:

Aus Desinteresse und Ignoranz zum Tode verurteilt:
In Antwort auf einen Artikel von Professor Staszak

Ein recht bekannter und mit mir verwandter Dichter hat ein Lied geschrieben, für einen der gehängt werden soll:

„Jetzt kommt und seht, wie es ihm dreckig geht
Jetzt ist er wirklich, was man pleite nennt.
Die ihr als oberste Autorität
Nur eure schmierigen Gelder anerkennt
Seht, daß er euch nicht in die Grube fährt!“

In den letzten Wochen mußte ich nahezu täglich die widersprüchlichsten Meldungen über den Ort an dem ich arbeite lesen. „ Besucherzahlen- und Einnahmesteigerungen“; „Theaterneubau“; „Theaterneubau, aber kein Theaterensemble“; „Theaterensemble schon, aber nur für musikalische Produktionen“; „Kein Ensemble, nur die Philharmonie“.
Da ich nun mal einer derjenigen bin, die da unentwegt und in beschwingtem Tone zum Tode verurteilt werden sollen, hier mein wütender Protest:
Im Juli habe ich mit vielleicht 2000 anderen eine wunderbare Sommernachtstraumaufführung  des Volkstheater - Schauspielensembles auf der Freilichtbühne der IGA gesehen. Ist es euch egal, wenn ihr Shakespeare künftig nur noch in Hollywoodfilmform oder als tourneekompatible Billigproduktion sehen werdet?
Im letzten Winter haben hunderte Kinder den „Gestiefelten Kater“ bejubelt. Ist es euch egal, wenn sie dann wieder doch nur Fernsehen gucken können?
Im „Raub der Sabinerinnen“ habe ich Besucher so lachen gesehen, daß ihnen die Tränen über das Gesicht liefen und sie hatten nach einem Abend, prallgefüllt mit Schauspiellust und Schauspielkunst beim Verlassen des Theaters, die beseelten und heiteren Gesichter von beglückten Menschen.  Ja, ja, ich weiß, daß ist nur Komödie, aber ist es euch egal, ob es diesen Ort gibt, an dem ihr gemeinsam mit anderen und nicht nur über andere lachen könnt?
200 sechzehnjährige Schüler im „Urfaust“: „ Man, das Ist aber eine blöde Sprache“, Gekicher, Geraune, Geflüster und dann: „Der Mephisto ist aber cool!“„ Das Unglück vom Gretchen über die verlorene Liebe und das tote Kind kann ich verstehen.“ Da sind sie ganz aufmerksam und begreifen ganz viel und gelegentlich fließt auch eine Träne. Ist es euch egal, ob eure Kinder schöne Sprache klug gesprochen nirgendwo mehr hören können?
Ihr alle habt euch als Kinder mühelos in Prinzessinnen, Piraten und Indianer verwandeln können. Später ist dafür keine Zeit und es kommt einem wie so manches andere Kostbare abhanden und leider werden oft auch die Träume vernünftiger und kleiner, „man muß ja realistisch bleiben“. Wir Spieler sind berufsmäßige Träumer und Albträumer, allerdings hart arbeitende und nicht gerade überbezahlt. Ich habe es satt, daß über uns gesprochen und geschrieben und leider auch entschieden wird von Leuten, die keinen Traum haben(, als den, kein Risiko einzugehen). Wir sind nötige und nützliche Mitglieder dieser Stadtgemeinschaft, darauf bestehe ich, was nicht heißt, daß wir nicht noch besser werden sollten und können. Und wer da aus Kurzsichtigkeit, oder Pragmatismus, oder blanker Dummheit über uns die Todesstrafe verhängt, der muß auch wissen, daß er etwas Wunderbares tötet. Ist es euch egal?
Man könnte auch hintenran ein weiteres Zitat des obengenannten Dichters setzten.
„Man schlage ihnen ihre Fressen
Mit schweren Eisenhämmern ein.
Im übrigen will ich vergessen
Und bitte sie mir zu verzeihn.“
Aber das ginge wohl zu weit. Mit Gruß von Johanna Schall (Schauspieldirektorin am Volkstheater Rostock) mit der Bitte um Meinungsäußerungen.

Donnerstag, 24. Februar 2011

Das Volkstheater Rostock 2011

Geschrieben 2003 für das Volkstheater Rostock: 

Saulus wurde zum Paulus nachdem ihm Jesus in Damaskus erschienen war.
Und so muß auch ich heute meinen Namen ändern. Ihr könnt Egon zu mir sagen.
Denn, Ehre sei der Stadt Rostock, insbesondere ihrem Oberbürgermeister und den Vertretern der Bürgerschaft: Wir können heute unser neues Theater eröffnen. Seid ehrlich, ihr hättet es auch nicht mehr geglaubt!
Aber wahrlich, ich sage Euch, selig sind, die reinen Herzens sind und Wunder erwarten, denn sie werden geschehen. Hier ist der Beweis!
Also Schande über die Wankelmütigen im Glauben, die behauptet haben: das wird nie was, die Stadt will gar kein neues Theater, das sind nur leere Worte, unverschämte Lügen und Beschwichtigungen. Sie stehen jetzt beschämt vor der Herrlichkeit dieses Neubaus.
Die Versprechen sind erfüllet und das neue Theater ist da. Tut Buße und glaubt an die Worte eurer Volksvertreter!
Und so wollen wir uns und hier und heute bedanken! Danken, für das unerschütterliche Bemühen der Stadtverwaltung, die Hürden auf dem steinigen Weg zu diesem neuen Theater zu überwinden. Danken, für die standhafte Unterstützung der Politiker aller Parteien, ungeachtet ihrer Fraktionszugehörigkeit, bei dieser gewaltigen Bemühung und auch für ihr unbeirrbares Interesse an unserer Arbeit.. Wenn alle Bürger dieser Stadt so häufig ins Theater kämen, wie sie, wer bräuchte noch das Paradies!
Wir werden spielen, wie die Teufel. Wir werden euch mit unserer Arbeit die Hölle heiß machen. So daß ihr mit reinem Gewissen auf das sehen werdet, was ihr ermöglicht habt und sagen werdet: Es ist sehr gut. Und dann von euren Werken ausruhen könnt.
Danke!

Vorgestern hat man das Große Haus auf unbestimmte Zeit geschlossen, ohne Ausweichspielstätte, ganz "plötzlich"! Mein Zynismus von damals ist eine Harmlosigkeit geworden.

Ein Haus ist ein Haus ist ein ...

The Secret Lives of Buildings oder Eine kurze Geschichte des Abendlandes in 12 Bauwerken: Vom Parthenon bis zur Berliner Mauer  
von Edward Hollis

Edward Hollis schreibt Liebesgeschichten. Über Häuser. 
Er beginnt mit dem "Traum des Architekten", 1838 Thomas Cole, ein Mann aus Lancashire, der den größten Teil seines Lebens in Amerika im Hudson Valley verbrachte, malte die dortigen Landschaften und füllte sie mit den Erinnerungen und Träumen von Bauwerken. Corinthische Rotunde, Pyramide, Gotik und römischer Aquädukt auf griechischer Kollonade, nah beieinander, eine trügerische, zuckrige Vision von 3000 Jahren europäischer Architekturgeschichte in der Landschaft der Neuen Welt. der Architekt ruht auf einer monumentalen Säule und träumt. Wovon?



Hollis schreibt Lebensgeschichten. Von Häusern. 

Der Parthenon (Jungfrauengemach), Sinnbild antiker Perfektion, selbst einen älteren Athena-Tempel ersetzend, von Christen zur Marien-Kirche umfunktioniert, die Bildhauerarbeiten entfernt oder gesichtslos geschlagen, nur zwei Frauenköpfe auf den Friesen überlebten, weil sie (uminterpretiert) Maria und ihre Mutter Anna darstellen konnten, der Altarraum umgedreht und fertig ist die Kirche, dann wurde es eine Moschee mit dazugebautem Minarett und dann ein Waffenlager und da wurde es kurz mal zusammengeschossen, die Munition explodierte, PENG! Lord Elgin hat dann, was noch herumlag und auch einiges, dass noch befestigt war, nach London ins Britische Museum geschleppt, übrigens für viel weniger Geld als er erwartet hatte. Was wir also sehen ist Geschichte, Veränderung, Umstürze, Destruktion und Umbau, Gebrauch halt. Das grandiose Bild klassischer Antike, perfekte Symmetrie, weiss schimmernd im ewigen mediterranen Sonnenglanz mag dies alles überlagern, aber das wahre Leben findet einfach trotzdem statt und macht das Haus reicher, auch kaputter in diesem Fall, aber wie bei Menschen ist auch bei einem Gebäude die Biographie ein Teil der Schönheit.


Die Leidenschaftlichkeit mit der Hollis sich in die verschlungenen, teilweise absurden Lebensläufe seiner 12 ausgewählten Bauwerke eingräbt, wie er mit ihnen leidet oder jubiliert, ist mitreißend.
Das letzte Kapitel gehört dem Har Habayit = Tempelberg oder Haram e-Sharif = The Noble Sanctuary oder der Klagemauer oder Westmauer. Schon die heiligen Namen umfangen eine unglaubliche Menge von Erinnerungen und Hoffnungen, die in diese Ansammlung von Steinen investiert wurde und wird. Traumata, Besitzansprüche und Glaubensgewissheiten treffen aufeinander, verschwimmen und formieren sich in hasserfülltes Haben-Wollen.
Diese zwölf Essays oder Kurzromane meandern, gründlich recherchiert und manchmal geradezu poetisch durch unser gemeinsames architektonisches Unterbewusstsein. Und neben der Unzahl von Informationen und Anekdoten, die man serviert bekommt, ist es einfach ein Vergnügen, Hollis in seinen zwölf Verliebtheiten zu folgen. Jede Geliebte anders, und er liebt sie, alt und jung, verramscht und aufgehübscht, kaum noch zu erkennen oder schönheitschirurgisch wiederhergestellt. Mögen die menschlichen Benutzer sie noch so misshandeln, die Würde dieser "Alten" besteht im Überleben.

Mittwoch, 23. Februar 2011

Sappho 4

Es gibt da ein sehr schönes Buch: Raoul Schrott Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren.  Frankfurt am Main: Eichborn 1998. Schrott hat auf etwa 500 Seiten versucht eine Anthologie der Dichtung der Welt herzustellen, meist abseits der allbekannten Standardlyrikbeispiele.
Wenn er über Poesie theoretisiert, mag ich ihm manchmal nicht folgen, aber wenn er recht rau und direkt Dichter aus dem Sumer des 24. Jahrhundert v. Chr., aus Wales im 14. Jahrhundert, Arabien, Irland und eben auch Sappho überträgt,  dann klingt oft eine Saite der Poesie, die ich bei herkömmlichen "Übersetzungen" alter Texte, selten habe klingen hören.

Ehrlich • ich wollte ich wäre tot
sie hat geweint

als sie mich verließ und zu mir
sagte: wirklich ich wollte ich
wäre tot – wie ungern verlasse
ich dich Sappho!

Und ich sagte zu ihr: sei nicht
traurig du weißt ja wie sehr ich
wie sehr wir dich liebten • traurig
ist nur was man

vergißt und ich weiß ja daß du
alles vergißt was man dir sagt
drum laß dich daran erinnern
wie es war als du

hier bei uns warst: weißt du
noch die kränze aus veilchen rosen
und krokus und jene
aus anis und dill?

Wie wir uns girlanden aus ginster
und gras flochten und sie uns
um den hals legten und wie sie
dich stachen?

Wie viele salben hast du immer
gebraucht – brentho und basileion
für deine haut damit sie glatt würde
wie für einen könig!

Was warst du doch für ein kindskopf
schliefst lang in den tag hinein und
träumtest von wasweißichwas -
wußte ich wem?

Bei keinem einzigen tanz aber hast
du gefehlt keinem einzigen opfer
keinem einzigen trank und es gab
keinen hain

wo wir uns nicht den frühling holten
und ihn mit unseren liedern wieder
vertrieben – du hast ja auch damals 
meist falsch gesungen!

Wirklich ich wollte ich wäre tot ich
habe dich weinen gesehen als du fort
von uns gingst und ich nichts richtig
zu sagen vermochte

Übertragung: Raoul Schrott

Und Eros verdreht mir den kopf
wie der wind wenn er vom berg
herab in die eichen fällt 

Übertragung: Raoul Schrott

Und untergegangen ist der mond mit den pleiaden – versunken mitten im dunkeln – aus der schale der nacht rinnt die zeit und nur ich – ich schlafe allein 

Übertragung: Raoul Schrott 


 Sappho Portrait von einer griechischen Vase aus dem 5. Jahrhundert v.Chr.

Für die Englischsprecher unter euch: Anne Carson If not, Winter. Fragments of Sappho, besser geht es nicht!!!!!
Deathless Aphrodite of the spangled mind,
child of Zeus, who twists lures, I beg you
do not break with hard pains,
O lady, my heart
but come here if ever before
you caught my voice far off
and listening left your father’s
golden house and came,
yoking your car. And find birds brought you,
quick sparrows over the black earth
whipping their wings down the sky
through midair–
they arrived. But you, O blessed one,
smiled in your deathless face
and asked what (now again) I have suffered and why
(now again) I am calling out
and what I want to happen most of all
in my crazy heart. Whom should I persuade (now again)
to lead you back into her love? Who, O
Sappho, is wronging you?
For if she flees, soon she will pursue.
If she refuses gifts, rather will she give them.
If she does not love, soon she will love
even unwilling.
Come to me now: loose me from hard
care and all my heart longs
to accomplish, accomplish. You
be my ally.

Dienstag, 22. Februar 2011

Sappho Geht zu Bett



Sappho geht zu Bett von Charles Gleyre
Vorgeschlagen von Burkhard Ritter

Sappho 3

Sapphos viertes Gedicht gefunden

Wenig ist über die antike griechische Dichterin Sappho bekannt. Vieles was wir wissen entspringt eher Legenden und Geschichten späterer Zeit, was eine Biografie schwierig macht. Ebenso ist es mit ihren Werken. Bislang waren lediglich drei ihrer Gedichte und einige Fragmente bekannt.

Jetzt ist ein viertes aufgetaucht. Es handelt vom Altern und der verlorenen Jugend. Die insgesamt 101 Worte wurden auf den Bandagen einer ägyptischen Mumie aus dem dritten Jahrhundert gefunden. Nichts ungewöhnliches, wurde Papyrus zur damaligen Zeit oft mehrfach verwendet. Auch der einzige komplette - und bislang unübersetzbare - Text in etruskischer Sprache wurde durch Zufall in den Resten einer Mumie gefunden.

Entdeckt wurde das Papyros von Dr. Robert Daniel und Dr. Michael Gronewald vom Institut für Altertumskunde der Universität zu Köln in den Universitätsarchiven. Es konnte Sappho zugeordnet werden, weil ein teil des Werkes bereits 1922 als Fragment aufgefunden wurde

“[You for] the fragrant-blossomed Muses’ lovely gifts
[be zealous,] girls, [and the] clear melodious lyre:

[but my once tender] body old age now
[has seized;] my hair’s turned [white] instead of dark;

my heart’s grown heavy, my knees will not support me,
that once on a time were fleet for the dance as fawns.

This state I oft bemoan; but what’s to do?
Not to grow old, being human, there’s no way.

Tithonus once, the tale was, rose-armed Dawn,
love-smitten, carried off to the world’s end,

handsome and young then, yet in time grey age
o’ertook him, husband of immortal wife.”

Die Übersetzung stammt von Martin West, Wissenschaftler am All Souls College der Oxford University.

 "(Ich bringe hier) der purpurgegürteten Muse schöne Gaben, Mädchen / (wieder ergreifend) die den Gesang liebende, helltönende Leier / (runzlig gemacht hat) die einst zarte Haut mir das Alter schon / (Furchen sind darin) Weiß geworden sind die Haare aus schwarzen / Das Herz ist mir schwer gemacht worden, die Kniee tragen nicht / die doch einst leicht waren zum Tanzen, jungen Rehen gleich / Ich seufze oft. Aber was kann ich machen? / Alterslos menschseiend kann ich nicht sein.
Denn einst sagte man auch über Thitonos aus Liebesverlangen / dass die rosenarmige Eos den Sonnenbecher bestiegen habe / ihn um die Erde tragend, schönseiend und jung /aber dennoch ergriff ihn mit der Zeit das graue Alter, habend die unsterbliche Gattin."
Michael Gronewald, Altphilologe an der Universität Köln

Tithonos ist in der ein Sohn des trojanischen Königs Laomedon.
Zusammen mit Eos, der Göttin der Morgenröte, hatte er den Sohn Memnon. Tithonos wurde von Eos so geliebt, dass sie für ihn von dem widerstrebenden Zeus das ewige Leben erbat. Dies wurde ihr gewährt. Da sie – anders als der verärgerte Zeus – jedoch übersehen hatte, zugleich ewige Jugend für Tithonos zu erbitten, wurde er älter und älter und schrumpfte (nach Ovid) zuletzt so zusammen, dass am Ende nur noch seine keifende schrille Stimme übrig blieb und er zur  Zikade ward.

Charles-August Mengin
Sappho, 1877. Manchester Art Gallery, UK
 

Sappho 2

. . .if not, winter
]no pain. . .

Translated by Anne Carson

Sappho 1

Sappho an Alkaïos

Und was hättest du mir denn zu sagen,
und was gehst du meine Seele an,
wenn sich deine Augen niederschlagen
vor dem nahen Nichtgesagten? Mann,

sieh, uns hat das Sagen dieser Dinge
hingerissen und bis in den Ruhm.
Wenn ich denke: unter euch verginge
dürftig unser süßes Mädchentum,

welches wir, ich Wissende und jene
mit mir Wissenden, vom Gott bewacht,
trugen unberührt, dass Mytilene
wie ein Apfelgarten in der Nacht
duftete vom Wachsen unsrer Brüste -.

Ja, auch dieser Brüste, die du nicht
wähltest wie zu Fruchtgewinden, freier
mit dem weggesenkten Angesicht.
Geh und lass mich, dass zu meiner Leier
komme, was du abhältst: alles steht.

Dieser Gott ist nicht der Beistand zweier,
aber wenn er durch den einen geht
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Fragment. 
Geschrieben Juli 1907 in Paris.
Rainer Maria Rilke