Sonntag, 30. Oktober 2016

Schauspieler, die unbekannten Wesen

Schauspieler, zumindest die am Theater arbeitenden, verdienen schlecht, arbeiten äußerst hart und leben den unbequemsten vorstellbaren Alltag (Probe von 10 bis 14.00 Uhr und dann wieder ab 19.00 Uhr bis um 10 Uhr abends. Freie Tage sind nicht planbar.) und sie besitzen eine überaus zarte Elefantenhaut.
Schauspieler, Menschen. die aus Passion und für Geld spielen, während andere zuschauen.
Schauspieler haben aufgehört, zu rauchen, weil es zu teuer ist und schlecht für ihre ständig belasteten Stimmbänder. Sie trinken weniger als allgemein vermutet, weil sie es sich nicht leisten können, und am nächsten Morgen immer wieder Probe ist, und davor muß auch noch das Kind versorgt werden. 

Ich bin ausgebildete Schauspielerin mit Fachschulabschluß und nun arbeite ich schon seit vielen Jahren als unausgebildeter Regisseur mit Leuten, die den gleichen Beruf wie ich gelernt haben, die sich aber keineswegs ähneln. 
O, wie verschieden sie sind, und ich sicher auch! 

Einer braucht nur karge, praktische Hinweise, ein anderer Gespräche über Politik oder Parapsychologie. Einer mag abstruse Geschichten, eine andere verachtet meine Art anekdotisch auf die Welt und mein Sein in ihr zu blicken.
Eine erzählt mir in den Proben (jedenfalls scheinbar) ihre gesamte Biographie, bei einer anderen, könnte ich nicht einmal sagen, ob sie überhaupt eine Biographie hat. 
Ich mag das, ein Katalysator für so viele höchst unterschiedliche Persönlichkeiten zu sein, ihnen ein Umfeld zu schaffen, in dem sie kreativ & aktiv werden können. Sie öffnen sich unmäßig, sie lassen sich gehen, und gehen dabei ein gewaltiges Risiko ein. Sie sind mutig, wenn sie ein lohnenswertes Ziel geboten bekommen.

Und dann sind da die kraftzehrenden, unproduktiven, erschöpfenden Ausnahmen, die zutiefst Faulen, Egozentrischen, die, die nicht denken wollen, nicht lachen, nicht versagen, die, die ihre privaten Neurosen als passiv aggressive Waffe gegen jederlei überraschende Lebendigkeit einsetzen. Ich nenne sie Vampire. Sie saugen Kraft und geben nichts lebendig Verwendbares zurück. Sie interessieren sich ganz und gar und ausschließlich für sich selbst und ihre augenblickliche Lebenssituation, und gehen dabei über jede denkbare Leiche, um in der unbeschadeten Gewissheit der eigenen emotionalen Unfehlbarkeit, Besonderheit ans unklar erahnte, meist zutiefst sentimentale Ziel zu gelangen. 
"Ich kann mir das nicht merken.", "Ich lerne nicht Text im voraus.", "Das würde meine Figur nicht tun." und derlei simple Ausreden, durchschaubares Zeug, und alles, damit sie nicht aus ihrer selbstgerechten Gemütlichkeit herausgeraten.

Menschen, also auch Bühnenfiguren, sind vielerlei, ambivalent und widersprüchlich. Ihre Falllhöhen sind immens. Wer jetzt noch so dachte, erlebt, fühlt nun das genaue Gegenteil. Fallhöhe, ein gutes, hartes Wort. Ich glaube eins und will doch das andere. Ich bin ein Bühnen-Mensch, keine gefällige, sentimentale Bühnenfigur. Ich bin von dialektischer, widersprüchlicher Einzigartigkeit.


Max Beckmann Ballettprobe 1950

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