Mittwoch, 19. April 2023

Ein Maler schreibt ein Gedicht

Gefunden in

Paris Magnétique

einer Ausstellung über jüdische Künstler in Paris 1905 bis 1940

im Jüdischen Museum Berlin

 

Den ermordeten Künstlern


Ob ich sie alle gekannt habe? Ob ich in ihrem Atelier gewesen bin?

Ob ich ihre Kunst von nah und fern gesehen habe?

Und jetzt trete ich aus mir heraus, aus meinen Jahren,

und gehe an ihr unbekanntes Grab.

Sie rufen mich, sie ziehen mich in ihre Grube – mich

Den Unschuldigen, den Schuldigen.

Sie fragen mich: Wo bist Du gewesen?

- Ich bin entflohen ...

Sie hat man zu den Todes-Duschen geführt,

wo sie ihren Schweiß schmeckten.

Da sahen sie das Licht

Ihrer ungemalten Bilder.

Sie haben die ungelebten Jahre nicht gezählt,

welche sie gespart und aufbewahrt hatten,

für die Erfüllung ihrer Träume

schlaflose, verschlafene.

Sie haben in ihrem Kopf jenen Kindheitswinkel –

gesucht, in dem der sternumkränzte Mond

ihnen eine helle Zukunft versprach.

Die junge Liebe im finsteren Zimmer, im Gras

Auf Bergen und Tälern, die aufgeschnittene Frucht,

mit Milch begossen, mit Blumen bedeckt,

verkündete ihnen ein Paradies.

Die Hände ihrer Mutter, ihre Augen,

begleiteten sie zur Bahn,

zu fernem Ruhm.

Ich sehe: Da schleppen sie sich nun – in Lumpen

barfuß, auf stummen Wegen.

Die Brüder von Israëls, Pissaro und Modigliano, unsere Brüder.

Es führen sie in Stricken, die Brüder von Dürer, Cranach und

Holbein – zum Tode in die Krematorien.

Wie kann ich, wie soll ich Tränen vergießen.

...

Marc Chagall


 

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