DER KAISER UND DIE NACHTIGALL
In China, weißt du ja wohl, ist der
Kaiser ein Chinese, und alle, die er um sich hat, sind Chinesen. Es sind
nun viele Jahre her, aber gerade deshalb ist es wert, die Geschichte zu
hören, ehe sie vergessen wird. Des Kaisers Schloß war das prächtigste
der Welt, ganz und gar von feinem Porzellan, so kostbar, aber so spröde,
so mißlich daran zu rühren, daß man sich ordentlich in acht nehmen
mußte. Im Garten sah man die wunderbarsten Blumen, und an die
allerprächtigsten waren Silberglocken gebunden, die erklangen, damit man
nicht vorbeigehen möchte, ohne die Blumen zu bemerken. Ja, alles war in
des Kaisers Garten fein ausgedacht, und er erstreckte sich so weit, daß
der Gärtner selbst das Ende nicht kannte; ging man immer weiter, so kam
man in den herrlichsten Wald mit hohen Bäumen und tiefen Seen. Der Wald
ging gerade hinunter bis zum Meere, das blau und tief war. Große
Schiffe konnten unter den Zweigen hinsegeln, und in diesen wohnte eine
Nachtigall, die so herrlich sang, daß selbst der arme Fischer, der
soviel anderes zu tun hatte, stillhielt und horchte, wenn er nachts
ausgefahren war, um das Fischnetz aufzuziehen. "Ach Gott, wie ist das
schön!" sagte er, aber dann mußte er auf sein Netz achtgeben und vergaß
den Vogel; doch wenn dieser in der nächsten Nacht wieder sang und der
Fischer dorthin kam, sagte er wieder: "Ach Gott, wie ist das doch
schön!"
Von allen Ländern kamen Reisende nach der Stadt des Kaisers und
bewunderten sie, das Schloß und den Garten; doch wenn sie die Nachtigall
zu hören bekamen, sagten sie alle: "Das ist doch das Beste!"
Die Reisenden erzählten davon, wenn sie nach Hause kamen, und die
Gelehrten schrieben viele Bücher über die Stadt, das Schloß und den
Garten, aber die Nachtigall vergaßen sie nicht, sie wurde am höchsten
gestellt, und die, welche dichten konnten, schrieben die herrlichsten
Gedichte über die Nachtigall im Walde bei dem tiefen See.
Die Bücher durchliefen die Welt, und einige kamen dann auch einmal zum
Kaiser. Er saß in seinem goldenen Stuhl, las und las, jeden Augenblick
nickte er mit dem Kopfe, denn er freute sich über die prächtigen
Beschreibungen der Stadt, des Schlosses und des Gartens. "Aber die
Nachtigall ist doch das Allerbeste!" stand da geschrieben.
"Was ist das?" fragte der Kaiser. "Die Nachtigall kenne ich ja gar
nicht! Ist ein solcher Vogel hier in meinem Kaiserreiche und sogar in
meinem Garten? Das habe ich nie gehört; so etwas soll man erst aus
Büchern erfahren?"
Da rief er seinen Haushofmeister. Der war so vornehm, daß, wenn jemand,
der geringer war als er, mit ihm zu sprechen oder ihn um etwas zu fragen
wagte, er weiter nichts erwiderte als: "P!" Und das hat nichts zu
bedeuten.
"Hier soll ja ein höchst merkwürdiger Vogel sein, der Nachtigall genannt
wird!" sagte der Kaiser. "Man spricht, dies sei das Allerbeste in
meinem großen Reiche; weshalb hat man mir nie etwas davon gesagt?"
"Ich habe ihn früher nie nennen hören", sagte der Haushofmeister. "Er ist nie bei Hofe vorgestellt worden!"
"Ich will, daß er heute abend herkomme und vor mir singe!" sagte der
Kaiser. "Die ganze Welt weiß, was ich habe, und ich weiß es nicht!"
"Ich habe ihn früher nie nennen hören!" sagte der Haushofmeister. "Ich werde ihn suchen, ich werde ihn finden!"
Aber wo war er zu finden? Der Haushofmeister lief alle Treppen auf und
nieder, durch Säle und Gänge, keiner von allen denen, auf die er traf,
hatte von der Nachtigall sprechen hören. Und der Haushofmeister lief
wieder zum Kaiser und sagte, daß es sicher eine Fabel von denen sei, die
da Bücher schreiben. "Dero Kaiserliche Majestät können gar nicht
glauben, was da alles geschrieben wird; das sind Erdichtungen und etwas,
was man die schwarze Kunst nennt!"
"Aber das Buch, in dem ich dieses gelesen habe", sagte der Kaiser, "ist
mir von dem großmächtigen Kaiser von Japan gesandt, also kann es keine
Unwahrheit sein. Ich will die Nachtigall hören; sie muß heute abend hier
sein! Sie hat meine höchste Gnade! Und kommt sie nicht, so soll dem
ganzen Hof auf den Leib getrampelt werden, wenn er Abendbrot gegessen
hat!"
"Tsing-pe!" sagte der Haushofmeister und lief wieder alle Treppen auf
und nieder, durch alle Säle und Gänge; und der halbe Hof lief mit, denn
sie wollten nicht gern auf den Leib getrampelt werden. Da gab es ein
Fragen nach der merkwürdigen Nachtigall, die von aller Welt gekannt war,
nur von niemand bei Hofe.
Endlich trafen sie ein kleines, armes Mädchen in der Küche. Sie sagte:
"O Gott, die Nachtigall, die kenne ich gut, ja, wie kann die singen!
Jeden Abend habe ich die Erlaubnis, meiner armen, kranken Mutter einige
Überbleibsel vom Tische mit nach Hause zu bringen. Sie wohnt unten am
Strande, wenn ich dann zurückgehe, müde bin und im Walde ausruhe, höre
ich Nachtigall singen. Es kommt mir dabei das Wasser in die Augen, und
es ist gerade, als ob meine Mutter mich küßte!"
"Kleine Köchin", sagte der Haushofmeister, "ich werde dir eine feste
Anstellung in der Küche und die Erlaubnis, den Kaiser speisen zu sehen,
verschaffen, wenn du uns zur Nachtigall führen kannst; denn sie ist zu
heute abend angesagt."
So zogen sie allesamt hinaus in den Wald, wo die Nachtigall zu singen
pflegte; der halbe Hof war mit. Als sie im besten Zuge waren, fing eine
Kuh zu brüllen an.
"Oh!" sagten die Hofjunker, "nun haben wir sie; das ist doch eine
merkwürdige Kraft in einem so kleinen Tiere! Die habe ich sicher schon
früher gehört!"
"Nein, das sind Kühe, die brüllen!" sagte die kleine Köchin. "Wir sind noch weit von dem Orte entfernt!"
Nun quakten die Frösche im Sumpfe.
"Herrlich!" sagte der chinesische Schloßpropst. "Nun höre ich sie, es klingt gerade wie kleine Tempelglocken."
"Nein, das sind Frösche!" sagte die kleine Köchin. "Aber nun, denke ich werden wir sie bald hören!"
Da begann die Nachtigall zu singen.
"Das ist sie", sagte das kleine Mädchen. "Hört, hört! Und da sitzt sie!"
Sie zeigte nach einem kleinen, grauen Vogel oben in den Zweigen.
"Ist es möglich?" sagte der Haushofmeister. "So hätte ich sie mir nimmer
gedacht; wie einfach sie aussieht! Sie hat sicher ihre Farbe darüber
verloren, daß sie so viele vornehme Menschen um sich erblickt!"
"Kleine Nachtigall", rief die kleine Köchin ganz laut, "unser gnädigste Kaiser will, daß Sie vor ihm singen möchten!"
"Mit dem größten Vergnügen", sagte die Nachtigall und sang dann, daß es eine Lust war.
"Es ist gerade wie Glasglocken!" sagte der Haushofmeister. "Und seht die
kleine Kehle, wie sie arbeitet! Es ist merkwürdig, daß wir sie früher
nie gesehen haben; sie wird großes Aufsehen bei Hofe machen!"
"Soll ich noch einmal vor dem Kaiser singen?" fragte die Nachtigall, die glaubte, der Kaiser sei auch da.
"Meine vortreffliche, kleine Nachtigall", sagte der Haushofmeister, "ich
habe die große Freude, Sie zu einem Hoffeste heute abend einzuladen, wo
Sie dero hohe Kaiserliche Gnaden mit Ihrem prächtigen Gesange bezaubern
werden!"
"Der nimmt sich am besten im Grünen aus!" sagte die Nachtigall, aber sie
kam doch gern mit, als sie hörte, daß der Kaiser es wünschte.
Auf dem Schlosse war alles aufgeputzt. Wände und Fußboden, die von
Porzellan waren, glänzten im Strahle vieler tausend goldener Lampen, und
die prächtigsten Blumen, die recht klingeln konnten, waren in den
Gängen aufgestellt. Da war ein Laufen und ein Zugwind, aber alle Glocken
klingelten so, daß man sein eigenes Wort nicht hören konnte.
Mitten in dem großen Saal, wo der Kaiser saß, war ein goldener Stab
hingestellt, auf dem sollte die Nachtigall sitzen. Der ganze Hof war da,
und die kleine Köchin hatte die Erlaubnis erhalten, hinter der Tür zu
stehen, da sie nun den Titel einer wirklichen Hofköchin bekommen hatte.
Alle waren in ihrem größten Staate, und alle sahen nach dem kleinen,
grauen Vogel, dem der Kaiser zunickte.
Die Nachtigall sang so herrlich, daß dem Kaiser die Tränen in die Augen
traten, die Tränen liefen ihm über die Wa:ngen hernieder, und da sang
die Nachtigall noch schöner; das ging recht zu Herzen. Der Kaiser war
sehr erfreut und sagte, daß die Nachtigall einen goldenen Pantoffel um
den Hals tragen solle. Aber die Nachtigall dankte, sie habe schon
Belohnung genug erhalten.
"Ich habe Tränen in des Kaisers Augen gesehen, das ist mir der reichste
Schatz! Gott weiß es, ich bin genug belohnt!" Und darauf sang sie wieder
mit ihrer süßen, herrlichen Stimme.
"Das ist die liebenswürdigste Stimme, die wir kennen!" sagten die Damen
ringsherum, und dann nahmen sie Wasser in den Mund, um zu klucken, wenn
jemand mit ihnen spräche; sie glaubten, dann auch Nachtigallen zu sein.
Ja, die Diener und Kammermädchen ließen melden, daß auch sie zufrieden
seien, und das will viel sagen, denn sie sind am schwierigsten zu
befriedigen. Ja, die Nachtigall machte wahrlich Glück.
Sie sollte nun bei Hofe bleiben, ihren eigenen Käfig haben, samt der
Freiheit, zweimal des Tages und einmal des Nachts herauszuspazieren. Sie
bekam zwölf Diener mit, die ihr ein Seidenband um das Bein geschlungen
hatten, woran sie sie festhielten. Es war durchaus kein Vergnügen bei
solchem Ausflug.
Die ganze Stadt sprach von dem merkwürdigen Vogel, und begegneten sich
zwei, dann seufzten sie und verstanden einander: Ja, elf Hökerkinder
wurden nach ihr benannt, aber nicht eins von ihnen hatte einen Ton in
der Kehle.
Eines Tages erhielt der Kaiser eine Kiste, auf der geschrieben stand: "Die Nachtigall."
"Da haben wir nun ein neues Buch über unseren berühmten Vogel!" sagte
der Kaiser; aber es war kein Buch, es war ein Kunststück, das in einer
Schachtel lag, eine künstliche Nachtigall, die der lebenden gleichen
sollte, aber überall mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzt war.
Sobald man den künstlichen Vogel aufzog, konnte er eins der Stücke, die
der wirkliche sang, singen, und dann bewegte sich der Schweif auf und
nieder und glänzte von Silber und Gold. Um den Hals hing ein kleines
Band, und darauf stand geschrieben: "Des Kaisers von Japan Nachtigall
ist arm gegen die des Kaisers von China."
"Das ist herrlich!" sagten alle, und der Mann, der den künstlichen Vogel
gebracht hatte, erhielt sogleich den Titel: Kaiserlicher
Oberhofnachtigallbringer.
"Nun müssen sie zusammen singen! Was wird das für ein Genuß werden!"
Sie mußten zusammen singen, aber es wollte nicht recht gehen, denn die
wirkliche Nachtigall sang auf ihre Weise, und der Kunstvogel ging auf
Walzen. "Der hat keine Schuld", sagte der Spielmeister; "der ist
besonders taktfest und ganz nach meiner Schule!" Nun sollte der
Kunstvogel allein singen. Er machte ebenso viel Glück wie der wirkliche,
und dann war er viel niedlicher anzusehen; er glänzte wie Armbänder und
Brustnadeln.
Dreiunddreißigmal sang er ein und dasselbe Stück und war doch nicht
müde; die Leute hätten ihn gern wieder von vorn gehört, aber der Kaiser
meinte, daß nun auch die lebendige Nachtigall etwas singen solle. Aber
wo war die? Niemand hatte bemerkt, daß sie aus dem offenen Fenster fort
zu ihren grünen Wäldern geflogen war.
"Aber was ist denn das?" fragte der Kaiser; und alle Hofleute schalten
und meinten, daß die Nachtigall ein höchst undankbares Tier sei. "Den
besten Vogel haben wir doch!" sagten sie, und so mußte der Kunstvogel
wieder singen, und das war das vierunddreißigste Mal, daß sie dasselbe
Stück zu hören bekamen, aber sie konnten es noch nicht ganz auswendig,
denn es war sehr schwer. Der Spielmeister lobte den Vogel
außerordentlich, ja, er versicherte, daß er besser als die wirkliche
Nachtigall sei, nicht nur was die Kleider und die vielen herrlichen
Diamanten betreffe, sondern auch innerlich.
"Denn sehen Sie, meine Herrschaften, der Kaiser vor allen! Bei der
wirklichen Nachtigall kann man nie berechnen, was da kommen wird, aber
bei dem Kunstvogel ist alles bestimmt; man kann es erklären, man kann
ihn aufmachen und das menschliche Denken zeigen, wie die Walzen liegen,
wie sie gehen und wie das eine aus dem andern folgt!"
"Das sind ganz unsere Gedanken!" sagten sie alle, und der Spielmeister
erhielt die Erlaubnis, am nächsten Sonntag den Vogel dem Volke
vorzuzeigen. Es sollte ihn auch singen hören, befahl der Kaiser, und es
hörte ihn, und es wurde so vergnügt, als ob es sich im Tee berauscht
hätte, denn das ist ganz chinesisch; und da sagten alle: "Oh!" und
hielten den Zeigefinger in die Höhe und nickten dazu. Aber die armen
Fischer, welche die wirkliche Nachtigall gehört hatten, sagten: "Es
klingt hübsch, die Melodien gleichen sich auch, aber es fehlt etwas, wir
wissen nicht was!"
Die wirkliche Nachtigall ward aus dem Lande und Reiche verwiesen.
Der Kunstvogel hatte seinen Platz auf einem seidenen Kissen dicht bei
des Kaisers Bett; alle Geschenke, die er erhalten, Gold und Edelsteine,
lagen rings um ihn her, und im Titel war er zu einem 'Hochkaiserlichen
Nachttischsänger' gestiegen, im Range Numero eins zur linken Seite, denn
der Kaiser rechnete die Seite für die vornehmste, auf der das Herz saß,
und das Herz sitzt auch bei einem Kaiser links. Und der Spielmeister
schrieb ein Werk von fünfundzwanzig Bänden über den Kunstvogel; das war
so gelehrt und lang, voll von den allerschwersten chinesischen Wörtern,
daß alle Leute sagten, sie haben es gelesen und verstanden, denn sonst
wären sie ja dumm gewesen und auf den Leib getrampelt worden.
So ging es ein ganzes Jahr; der Kaiser, der Hof und alle die übrigen
Chinesen konnten jeden kleinen Kluck in des Kunstvogels Gesang
auswendig, aber gerade deshalb gefiel er ihnen jetzt am allerbesten; sie
konnten selbst mitsingen, und das taten sie. Die Straßenbuben sangen
"Ziziiz! Kluckkluckkluck!" und der Kaiser sang es. Ja, das war gewiß
prächtig!
Aber eines Abends, als der Kunstvogel am besten sang und der Kaiser im
Bette lag und darauf hörte, sagte es "Schwupp" inwendig im Vogel; da
sprang etwas. "Schnurrrr!" Alle Räder liefen herum, und dann stand die
Musik still.
Der Kaiser sprang gleich aus dem Bette und ließ seinen Leibarzt rufen.
Aber was konnte der helfen? Dann ließen sie den Uhrmacher holen, und
nach vielem Sprechen und Nachsehen brachte er den Vogel etwas in
Ordnung, aber er sagte, daß er sehr geschont werden müsse, denn die
Zapfen seien abgenutzt, und es sei unmöglich, neue so einzusetzen, daß
die Musik sicher gehe. Das war nun eine große Trauer! Nur einmal des
Jahres durfte man den Kunstvogel singen lassen, und das war fast schon
zuviel, aber dann hielt der Spielmeister eine kleine Rede mit schweren
Worten und sagte, daß es ebensogut wie früher sei, und dann war es
ebensogut wie früher.
Nun waren fünf Jahre vergangen, und das ganze Land bekam eine wirkliche,
große Trauer. Die Chinesen hielten im Grunde allesamt große Stücke auf
ihren Kaiser, und jetzt war er krank und konnte nicht länger leben.
Schon war ein neuer Kaiser gewählt, und das Volk stand draußen auf der
Straße und fragte den Haushofmeister, wie es seinem alten Kaiser gehe.
"P!" sagte er und schüttelte mit dem Kopfe.
Kalt und bleich lag der Kaiser in seinem großen, prächtigen Bett. Der
ganze Hof glaubte ihn tot, und ein jeder lief, den neuen Kaiser zu
begrüßen, die Kammerdiener liefen hinaus, um darüber zu sprechen, und
die Kammermädchen hatten große Kaffeegesellschaft. Ringsumher in allen
Sälen und Gängen war Tuch gelegt, damit man niemand gehen höre, und
deshalb war es sehr still. Aber der Kaiser war noch nicht tot; steif und
bleich lag er in dem prächtigen Bette mit den langen Samtvorhängen und
den schweren Goldquasten, hoch oben stand ein Fenster auf, und der Mond
schien herein auf den Kaiser und den Kunstvogel.
Der arme Kaiser konnte kaum atmen, es war gerade, als ob etwas auf
seiner Brust säße. Er schlug die Augen auf, und da sah er, daß es der
Tod war. Er hatte sich eine goldene Krone aufgesetzt und hielt in der
einen Hand des Kaisers goldenen Säbel, in der andern seine prächtige
Fahne. Ringsumher aus den Falten der großen Samtbettvorhänge sahen
allerlei wunderliche Köpfe hervor, einige ganz häßlich, andere lieblich
und mild; das waren des Kaisers gute und böse Taten, die ihn anblickten,
jetzt, da der Tod ihm auf dem Herzen saß.
"Entsinnst du dich dessen?" Und dann erzählten sie ihm so viel, daß ihm der Schweiß von der Stirne rann.
"Das habe ich nie gewußt!" sagte der Kaiser. "Musik, Musik, die große
chinesische Trommel", rief er, "damit ich nicht alles zu hören brauche,
was sie sagen!"
Aber sie fuhren fort, und der Tod nickte wie ein Chinese zu allem, was
gesagt wurde. "Musik, Musik!" schrie der Kaiser. "Du kleiner herrlicher
Goldvogel, singe doch, singe! Ich habe dir Gold und Kostbarkeiten
gegeben, ich habe dir selbst meinen goldenen Pantoffel um den Hals
gehängt, singe doch, singe!"
Aber der Vogel stand still, es war niemand da, um ihn aufzuziehen, sonst
sang er nicht, und der Tod fuhr fort, den Kaiser mit seinen großen,
leeren Augenhöhlen anzustarren, und es war still, erschrecklich still.
Da klang auf einmal vom Fenster her der herrlichste Gesang. Es war die
kleine, lebendige Nachtigall, die auf einem Zweige draußen saß. Sie
hatte von der Not ihres Kaisers gehört und war deshalb gekommen, ihm
Trost und Hoffnung zu singen; und so wie sie sang, wurden die Gespenster
bleicher und bleicher, das Blut kam immer rascher und rascher in des
Kaisers schwachen Gliedern in Bewegung, und selbst der Tod horchte und
sagte: "Fahre fort, kleine Nachtigall! Fahre fort!"
"Ja, willst du mir den prächtigen, goldenen Säbel geben? Willst du mir
die reiche Fahne geben? Willst du mir des Kaisers Krone geben?"
Der Tod gab jedes Kleinod für einen Gesang, und die Nachtigall fuhr fort
zu singen. Sie sang von dem stillen Gottesacker, wo die weißen Rosen
wachsen, wo der Flieder duftet und wo das frische Gras von den Tränen
der Überlebenden befeuchtet wird. Da bekam der Tod Sehnsucht nach seinem
Garten und schwebte wie ein kalter, weißer Nebel aus dem Fenster.
"Dank, Dank!" sagte der Kaiser, "du himmlischer, kleiner Vogel, ich
kenne dich wohl! Dich habe ich aus meinem Lande und Reich gejagt, und
doch hast du die bösen Geister von meinem Bette weggesungen, den Tod von
meinem Herzen weggeschafft! Wie kann ich dir lohnen?"
"Du hast mich belohnt!" sagte die Nachtigall. "Ich habe deinen Augen
Tränen entlockt, als ich das erstemal sang, das vergesse ich nie; das
sind die Juwelen, die ein Sängerherz erfreuen. Aber schlafe nun und
werde stark, ich werde dir vorsingen!"
Sie sang, und der Kaiser fiel in süßen Schlummer; mild und wohltuend war der Schlaf!
Die Sonne schien durch das Fenster herein, als er gestärkt und gesund
erwachte. Keiner von seinen Dienern war noch zurückgekehrt; denn sie
glaubten, er sei tot; aber die Nachtigall saß noch und sang.
"Immer mußt du bei mir bleiben!" sagte der Kaiser. "Du sollst nur
singen, wenn du selbst willst, und den Kunstvogel schlage ich in tausend
Stücke."
"Tue das nicht", sagte die Nachtigall, "der hat ja das Gute getan,
solange er konnte, behalte ihn wie bisher. Ich kann nicht nisten und
wohnen im Schlosse, aber laß mich kommen, wenn ich selbst Lust habe, da
will ich des Abends dort beim Fenster sitzen und dir vorsingen, damit du
froh werden kannst und gedankenvoll zugleich. Ich werde von den
Glücklichen singen und von denen, die da leiden; ich werde vom Bösen und
Guten singen, was rings um dich her dir verborgen bleibt. Der kleine
Singvogel fliegt weit herum zu dem armen Fischer, zu des Landmanns Dach,
zu jedem, der weit von dir und deinem Hofe entfernt ist. Ich liebe dein
Herz mehr als deine Krone, und doch hat die Krone einen Duft von etwas
Heiligem um sich. Ich komme und singe dir vor! Aber eins mußt du mir
versprechen!"
"Alles!" sagte der Kaiser und stand da in seiner kaiserlichen Tracht,
die er angelegt hatte, und drückte den Säbel, der schwer von Gold war,
an sein Herz. "Um eins bitte ich dich; erzähle niemand, daß du einen
kleinen Vogel hast, der dir alles sagt, dann wird es noch besser gehen!"
So flog die Nachtigall fort.
Die Diener kamen herein, um nach ihrem toten Kaiser zu sehen; ja, da standen sie, und der Kaiser sagte: "Guten Morgen!"
Hans Christian Andersen
Horst Janssen
Vogelkäfig, Holzschnitt 1958
Ein Vogel singt nicht, weil er eine Antwort hat, er singt, weil er ein Lied hat. M. Angelou
Ich weiss, warum der im Käfig gefangene Vogel singt
Der freie Vogel springt
auf den Rücken des Winds
und schwimmt abwärts
bis die Strömung endet -
und tunkt seine Schwingen
in die orangeglühenden Sonnenstrahlen
und nennt den Himmel sein eigen.
Aber ein Vogel der
seinen engen Käfig abmisst,
kann selten durch
das Gitter seiner Wut blicken.
Seine Flügel sind geknickt,
seine Füsse gebunden -
so öffnet er seine Kehle und singt.
Der gefangene Vogel
singt in furchtsamem Ton
von unbekannten Dingen,
nach denen er sich sehnt.
Und seine Weise wird gehört
auf fernem Hügel;
denn der gefangene Vogel
singt von der Freiheit.
Der freie Vogel lebt in einer anderen Brise
und der Wind weht sanft durch die seufzenden Bäume.
Auf dem grünen Rasen die fetten Würmer warten
und sein ist die Weite des Himmels.
Aber der gefangene Vogel steht auf seiner Träume Grab -
sein Schatten schreit im Albtraum.
Seine Schwingen sind gebrochen, seine Füsse gebunden,
so öffnet er seine Kehle und singt.
Der gefangene Vogel singt
in furchtsamem Ton
von unbekannten Dingen,
nach denen er sich sehnt.
Und seine Weise wird gehört
auf fernem Hügel;
denn der gefangene Vogel
singt von der Freiheit.
Maya Angelou
Übersetzung Siraganda
The Caged Bird
A free bird leaps
on the back of the wind
and floats downstream
till the current ends
and dips his wing
in the orange sun rays
and dares to claim the sky.
But a bird that stalks
down his narrow cage
can seldom see through
his bars of rage
his wings are clipped and
his feet are tied
so he opens his throat to sing.
The caged bird sings
with a fearful trill
of things unknown
but longed for still
and his tune is heard
on the distant hill
for the caged bird
sings of freedom.
The free bird thinks of another breeze
and the trade winds soft through the sighing trees
and the fat worms waiting on a dawn bright lawn
and he names the sky his own
But a caged bird stands on the grave of dreams
his shadow shouts on a nightmare scream
his wings are clipped and his feet are tied
so he opens his throat to sing.
The caged bird sings
with a fearful trill
of things unknown
but longed for still
and his tune is heard
on the distant hill
for the caged bird
sings of freedom.