Mittwoch, 11. Februar 2015

Thomas Brasch - Halts Maul, Kassandra




Nur 13 Jahre trennen uns. 1945 & 1958. Der große verfluchte Krieg endete und er wurde geboren. Er starb schon 2001, wie unfaßbar schade.

Ich, Mitglied einer sogenannten "Familie", bin in DDR-Zusammenhängen mit den Mitgliedern anderer "Familien" zusammengetroffen, den Goldsteins und den Braschs, hauptsächlich mit den Söhnen. 
Ihre Väter - der eine Emigrant und der andere Ausschwitz & Buchenwald-Überlebender, wurden in Folge rechtens Vertreter der DDR-Macht. Und die Söhne wuchsen auf unter der harten Knute der immer stärker verunstalteten Utopie ihrer Väter. 
Der eine Vater erzählte, wie er, aus Buchenwald befreit, auf dem von der Bürgern der Stadt Weimar gesäumten Strasse in die Freiheit, den Satz "Die wollten mich alle töten" nicht aus dem Hirn bekam. Der andere bestrafte, so scheint es, seine Söhne, für die eigene unverschuldete Nichtteilnahme am Widerstandskampf.
Schreckliche Endrechnung: Vor den Vätern starben die Söhne. 
Klaus, Peter, Kurt, Thomas, die ich kannte und auf unterschiedlichste Weise liebte, starben früh. Früher als nötig.
Klaus, der Clown und Zartbeseelte, Peter, der Dichter ohne Schutz, Kurt der wunderbare Liebhaber und Thomas der Zornige. 

http://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Goldstein_%28Journalist%29

http://de.wikipedia.org/wiki/Horst_Brasch

WIE VIELE SIND WIR EIGENTLICH NOCH.
Der dort an der Kreuzung stand,
war das nicht von uns einer.
Jetzt trägt er eine Brille ohne Rand.
Wir hätten ihn fast nicht erkannt.
Wie viele sind wir eigentlich noch.
War das nicht der mit der Jimi-Hendrix-Platte.
Jetzt soll er Ingenieur sein.
Jetzt trägt er einen Anzug und Krawatte.
Wir sind die Aufgeregten. Er ist der Satte.
Wer sind wir eigentlich noch.
Wollen wir gehen. Was wollen wir finden.
Welchen Namen hat dieses Loch,
In dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.


UND DER SÄNGER DYLAN IN DER DEUTSCHLANDHALLE
Ausgepfiffen angeschrien mit Wasserbeuteln beworfen
von seinen Bewunderern, als er die Hymnen
ihrer Studentenzeit sang im Walzertakt und tanzen ließ
die schwarzen Puppen, sah staunend in die Gesichter
der Architekten mit Haarausfall und 5000 Mark im Monat,
die ihm jetzt zuschrien die Höhe der Gage und
sein ausbleibendes Engagement gegen das Elend der Welt. So sah
ich die brüllende Meute. Die Arme ausgestreckt im Dunkeln neben
ihren dürren Studentinnen mit dem Elend aller Trödelmärkte
der Welt in den Augen, betrogen um ihren Krieg,
zurückgestoßen in den Zuschauerraum
der Halle, die den Namen ihres Landes trägt, endlich
verwandt ihren blökenden Vätern, aber anders als die
betrogen um den, den sie brauchen: den führenden Hammel.
Die Wetter schlagen um:
sie werden kälter.
Wer vorgestern noch Aufstand rief,
ist heute zwei Tage älter.
 


FRIEDE DEN WÄCHTERN
An den Wänden die Drähte,
auf dem gebohnerten Fußboden Teppiche gegen
den harten Schritt der Stiefel
in deinem Rücken. Tür an Tür die Einzelzellen
der neuen Gesellschaft. Wessen Straße ist die Straße.

Die Stille ist die Schwester des Wahnsinns.
Zwischen Hocker und Tür fünf Schritte und
der Herzschlag zwischen den Schläfen.
Die Posen:
Widerstand/Härtetest/Selbstmitleid/Jammer/Gelächter
sind verbraucht: Leitartikel im eigenen Zentralorgan.

Schreie im Flur nach zehn Wochen oder zwölf: Ihr
Verbrecher. Das hastige Tappen der Füße über
den Teppich. Dein Ohr an der Tür.
No man is an island. Friede den Wächtern.
Der Schädel ist ein keimfreies Schlachthaus.

 
KRANICH
Du hast den Kranich gesehn
hoch oben
mit weiten Schwingen,
frei,
unendlich frei.
Doch tröste dich:
auch er muß sterben,
vielleicht bald.
 
Alle diese Gedichte sind von Thomas Brasch

Thomas Brasch nimmt einen Preis von Franz Josef Strauß entgegen.
https://www.youtube.com/watch?v=bYX-tY_pnu0 

 
Die Generation der heute Dreißigjährigen in der DDR hat den Sozialismus nicht als Hoffnung auf das Andere erfahren, sondern als deformierte Realität. Nicht das Drama des Zweiten Weltkriegs, sondern die Farce der Stellvertreterkriege (gegen Jazz und Lyrik, Haare und Bärte, Jeans und Beat, Ringelsocken und Guevara-Poster, Brecht und Dialektik). […] Ich entschuldige mich nicht dafür, daß ich den 32. Versuch von Thomas Brasch, Auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen, nicht einfach als Literatur lesen und rezensieren konnte. Er geht mich zu viel an, und ich hoffe, daß ihm auch der 33. Versuch mißlingt. Er ist immer noch in seiner Haut der Beste, und Schiffsuntergänge sind kein Alibi für Selbstmord. Gerade die Spuren und Narben seiner DDR-Biographie zeichnen seine Texte aus der Masse der westdeutschen Literaturproduktion, die mich im ganzen herzlich langweilt. Ich weiß nicht, was sie dort für Folgen haben werden, in der DDR wird nach dem Erscheinen seiner Bücher Vor den Vätern sterben die Söhne und Kargo niemand mehr so schreiben können, als ob er sie nicht geschrieben hätte. Wie es ist, bleibt es nicht. Heiner Müller in Der Spiegel, 12.9.1977

Kurt und Thomas wurden von ihren Vätern in diese Institution geschickt:
http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?Kadettenanstalt_Naumburg 
 

Montag, 9. Februar 2015

Tracht & Eintracht & Zwietracht & Niedertracht & trachten




Wer Zwietracht sät, arbeitet für des Teufels Scheuer

Ich spreche und quatsche und rede so vor mich hin und höre auch vielen zu und manchmal begegne ich mittendrin einem Wort, nicht unbekannt, aber doch nie bedacht verwendet, und das Wort lungert dann so herum und will, dass ich es ausprobiere, in Sätze einbaue, genauer drüber nachdenke. So ein Stocker-Wort kann wie eine kleine Gräte im Hals stecken, ohrwurmartig Schleifen bilden oder nur kurz in der Sicht auftauchen und schnell wieder verblassen. Und manchmal bemerke ich so ein Wort in einem bestimmten Zusammenhang und dann scheint es in ganz anderen Konstellationen aus jeder zweiten Ecke zu schnipsen. Seltsam.

Meine Beschreibungen:
Eintracht - friedlich & harmonisch, mit der Gefahr öde und stagnierend zu werden, wenn sie um jeden Preis bewahrt werden soll.
Zwietracht - Unfrieden und Neid, nicht Uneinigsein, sondern gegeneinander, sich nicht mehr wahrnehmend, aber verurteilend.
Niedertracht - wenn man ihr begegnet, auch in sich selbst, reißt sie einem die Beine weg.
Tracht Prügel - dazu interessant zu lesen: http://www.welt.de/print/wams/kultur/article136989914/Es-muss-weh-tun.html

Aber dieses ganze Mahagonny
Ist nur, weil alles so schlecht ist
Weil keine Ruhe herrscht 
Und keine Eintracht
und weil es nichts gibt
Woran man sich halten kann
b.b. 

Tracht
eine Tracht Prügel - umgangssprachlich: Schläge: eine Tracht Prügel/(auch:) eine Tracht bekommen, kriegen; jemandem eine [gehörige] Tracht Prügel verpassen; zu »Tracht« in der älteren Bedeutung»aufgetragene Speise«; Prügel, die man jemandem verabreicht, wurden früher oft mit Gerichten, die man jemandem serviert, verglichen
Duden 
dazu Tracht - dracht: das, was getragen wird

Staatskunst ist die kluge Anwendung persönlicher Niedertracht für das Allgemeinwohl. 
Abraham Lincoln

Zwietracht
aus mittelhochdeutsch zwitraht, abgeleitet von enzwei tragen, „sich entzweien, uneinig sein
Wiktionary

Meint ihr, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht. Denn von nun an werden fünf in einem Hause uneins sein, drei gegen zwei und zwei gegen drei. Es wird der Vater gegen den Sohn sein und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter, die Schwiegermutter gegen die Schwiegertochter und die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter.
Jesus in Lukas 12, Vers 51 bis 53

Eintracht
mittelhochdeutsch eintraht „Übereinkunft, Absprache, Vertrag“, abgeleitet von mittelhochdeutsch über ein tragen „übereinkommen, -stimmen, sich vertragen, beschließen, vereinbaren“; vergleiche frühneuhochdeutsch übereintragen. Das Wort ist seit dem 14. Jahrhundert belegt.
Wiktionary
Zustand der Einmütigkeit, der Harmonie mit anderen
Universal Lexikon

Wo Zwietracht, laß mich Eintracht bringen 
F. von Assisi

Niedertracht - bewusst gemeine, hinterhältige, boshafte Gesinnung
niederträchtig
Das Adjektiv gehört seit dem 15. Jahrhundert zum Standardwortschatz und leitet sich vom mittelhochdeutschen nidertrehtic, nidertrechtic herablassend, zu mittelhochdeutsch sich tragen, sich benehmen (also sich nach unten benehmend) ab. Im 16. Jahrhundert kommt auch hochträchtig im Sinne von hochfahrend dazu. Im 18. Jahrhundert verschlechtert sich die Bedeutung zu sittlich gemein und gering geschätzt, verächtlich. Hierzu entsteht dann die Rückbildung als Substantiv Niedertracht.
Wiktionary

Eintracht ernährt, Zwietracht verzehrt

traktieren mittelhochdeutsch trahten, althochdeutsch trahtōn < lateinisch tractare, traktieren - etwas Bestimmtes zu erreichen versuchen, 
Wiktionary
tractare - bearbeiten, berühren, schleppen, untersuchen, verhandeln, verwalten, behandeln, benehmen, besprechen, herumzerren
herumziehen, leiten, sich beschäftigen, verarbeiten, überdenken
Wörterbuch Deutsch-Latein


Psychomachia of Prudentius London
British Library MS Cotton Cleopatra C. VIII, Canterbury, Christ Church, 
Illuminierte Handschrift des 8. Jh.s n. Chr. 
Die Eintracht wird von der Zwietracht leicht verwundet.

 
Die Zwietracht schlingt mit Schlangenarmen
Die Todesfackel ohn' Erbarmen
Und würgt mit Wut in einem Augenblick,
Der göttlichen Vernunft zur Schande,
Die ganze Hoffnung ganzer Lande
Und mancher Jahre schönes Glück.
J.G. Seume


Die Masken der Niedertracht 

Seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann
Marie-France Hirigoyen
Taschenbuch
http://www.amazon.de/Die-Masken-Niedertracht-Seelische-dagegen/dp/342336288X/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1423514852&sr=8-1&keywords=die+masken+der+niedertracht

Samstag, 7. Februar 2015

Spielen! Spielen! - Der Glücksgott


Heute habe ich nach acht Jahren mal wieder auf einer Bühne gestanden und selbst gespielt.
Das war schön. Adrenalin und Klarheit und Konzentration und Spaß.

"Die Reisen des Glücksgotts", ein Fragment zu einer Oper von Bertolt Brecht.

Ich bin der Glücksgott, sammelnd um mich Ketzer
auf Glück bedacht in diesem Jammertal!
bin Agitator, Schmutzaufwirbler, Hetzer
und hiemit - macht die Tür zu - illegal.

b.b. für Fritz Lang 1941
 
Der japanische Glücksgott Hotei (Netsuke)

„In Chinatown einen kleinen chinesischen Glücksgott gekauft. Überlegte ein Stück Die Reisen des Glücksgotts. Der Gott derer, die glücklich zu sein wünschen, bereist den Kontinent. Hinter ihm her eine Furche von Exzessen und Totschlag. Bald werden die Behörden aufmerksam auf ihn, den Anstifter und Mitwisser mancher Verbrechen. Er muß sich verborgen halten, wird illegal. Schließlich denunziert, verhaftet, im Prozeß überführt, soll er getötet werden. Er erweist sich als unsterblich. Lachend sitzt er gemütlich zurückgelehnt im elektrischen Stuhl, schmatzt, wenn er Gift trinkt usw. Völlig erschöpft ziehen die verstörten Henker, Richter, Pfaffen usw. ab, während die Menge vor dem Totenhaus, die von Furcht erfüllt zur Exekution gekommen war, von neuer Hoffnung erfüllt, weggeht …" b.b.

Donnerstag, 5. Februar 2015

Ich arbeite zu viel.


Das ist neu für mich. 
Ich arbeite gern. Sehr gern. Arbeite gern viel, sehr viel und werde schnell unruhig, wenn ich einige Zeit nicht arbeite. 
Aber gerade jetzt arbeite ich zu viel. Eindeutig zu viel. 
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Dies geschieht durchaus freiwillig, ist Ergebnis eigener Entscheidungen. Ich muß es eingestehen, die "Schuld" liegt bei mir. (Obwohl Ereignisse außerhalb meines Einflußbereiches auch ein paar gewichtige Beiträge leisten.)

Freischaffende haben ein eigenartiges Verhältnis zur Arbeit.
Sie sind genauso so faul wie die meisten Menschen.
Aber Angebote abzulehnen scheint immer riskant. 
Sind es zu viele? Wie wähle ich die richtigen aus? Wird vielleicht nie wieder eins kommen? 
Unsere zarte Selbstgewissheit schwingt zwischen diesen extremen Polen. Und selbst durch jahrelange Erfahrung bestätigte Gewißheit des Gewolltseins hilft nur zeitweise über völlig irrationale Panikattacken hinweg.
Und so geht ein "Nein" uns nur mühselig über die Lippen. Auch wenn es vernünftig wäre,
Ach ja, und Spaß macht es auch meist, selbst im Halbschlaf.

© Pete W.

Morgen eine kleine Premiere, am Samstag beginnt eine Woche ohne Proben.
"Schlafen, schlafen, vielleicht träumen...."
Und dann zwei Wochen Endproben für die "Mahagonny" in Rostock.
Schlaf wird überbewertet. 

Müde bin ich

Müde bin ich, geh' zur Ruh',
Schließe beide Äuglein zu;
Vater, laß die Augen dein
Über meinem Bette sein!

Hab' ich Unrecht heut' gethan,
Sieh' es, lieber Gott, nicht an!
Deine Gnad' und Jesu Blut
Macht ja allen Schaden gut.


Alle, die mir sind verwandt,
Gott, laß ruhn in deiner Hand!
Alle Menschen, groß und klein,
Sollen dir befohlen sein.

Kranken Herzen sende Ruh',
Nasse Augen schließe zu;
Laß den Mond am Himmel stehn
Und die stille Welt besehn!

Luise Hensel 
1798 - 1876
 

Samstag, 24. Januar 2015

Margit Bendokat - Ein Ereignis

MARJITT


Bei einer meiner ersten Arbeiten am Deutschen Theater, es war "Der Sommernachtstraum" in der Inszenierung von Alex Lang, traf ich auf Margit, die schöne Frau mit dem fast noch schöneren Berliner Dialekt. Ich war blutige Anfängerin, sie wahrlich nicht. Sie stammt, glaube ich aus Bohnsdorf, ich aus Mitte. (Echtes Berlinern macht mir, besonders wenn ich lange weg war, schwache Knie.) 

Sie spielte damals die Helena und ich vereinfache nur wenig, wenn ich ihren Untertext für die gesamte Rolle in einem Wort zusammenfasse: "Scheiße!". Scheiße, was die Liebe mit ihr anstellt, Scheiße, wie sehr sie schmerzt, Scheiße, zu was sie sie hinreißt, treibt, zwingt. So eine zornige und über den eigenen Zorn verzweifelnde Verliebte hatte ich noch nie gesehen. 
Wir teilten eine Garderobe und (wer einmal unsicherer Anfänger an einem großen Theater war, wird verstehen, was ich meine) sie war ein Geschenk. Uneitel, sachlich, konzentriert, trocken auf den Punkt und trotzder regelmäßigen Anwesenheit von Macholdt's Inhalator - einem Helfer der Menschheit - ganz und gar geerdet, es gab ein Leben außerhalb des Theaters! Gut, als ehrgeiziger Neuling daran erinnert zu werden.



Dann kam "Stella" - "Er ist wieder da!", ganz hochdeutsch natürlich, ihr fassungsloser Jubel riß die Zuschauer in hysterisch verschämtes Gelächter, war doch das Gefühl so tief, dass sie eigentlich nicht hätte lachen sollen und kamen doch nicht dagegen an. Die Marion im "Danton", die strenge Konsumverkäuferin im "Lohndrücker" und Frau Peachum und andere, und viele andere Rollen. 

Ihre fabelhafte Fähigkeit ganz sauber einen halben Ton daneben zu singen, die immense Konzentration bevor sie punktgenau zu früh ein Triangel anschlägt - hinreißend. Wenn Margit versucht, einen Witz zu erzählen, ist das ein Vorgang von epischer Dimension. Komisch, da sie gar nicht versucht, komisch zu sein.

In Gotscheffs "Die Perser" - Margit, allein, ganz hinten, gegen die Hinterbühnenwand als Chor der Alten und Weisen. So als würde sie mir die Worte einzeln hart ins Ohr ätzen - wir, ich im Publikum und sie einsam oben, müssen eine gewaltige Anstrengung aufbringen, um diesen Text zu begreifen, aber "wir" bringen sie gemeinsam auf und es gelingt.
(Wir dürfen auch ihre Stimme als Yvonne in "Der Olsenbande" nicht vergessen!)
 

Sie ist weise in bescheidenster Art.

Demnächst wird sie in endlich wieder in einem Film mitspielen, aber nur, wenn die Truppe das Geld dafür zusammenbekommt -
www.startnext.com/weiber-der-film - wer mag, sollte sich die Seite mal anschauen und, wenn sie gefällt, auch etwas Geld locker machen?
Der Regisseur Pierre Sanoussi-Bliss hat vor einiger Zeit "Zurück auf los!" gedreht, geschrieben, inszeniert & mitgespielt, ich hab den Film sehr gemocht, und das obwohl mein Verhältnis zu deutschen Filmkomödien ein äußerst schwieriges ist.


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2010

Margit im Original-Text. großartig!

http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=4344&catid=441&Itemid=1

Der untenstehende Text ist von www.nachtkritik:

Margit Bendokat bekommt den Berliner Theaterpreis


Mädchen aus Ostberlin

Esther Slevogt
Berlin, 9. Mai 2010. 

Dimiter Gotscheff sagt es mit Jimmy Hendrix: "Der Ton muss im Raum hängen bleiben." Und das tut er definitiv, wenn diese Schauspielerin spricht, die heute im Deutschen Theater in Berlin mit dem Theaterpreis der Stiftung Preußische Seehandlung ausgezeichnet wurde: Margit Bendokat, eine der markantesten Schauspielerinnen des deutschsprachigen Theaters, lange verkannt, manchmal fast schon vergessen. Und bei jedem Comeback, wie man so was heutzutage nennt, auf absoluter Augenhöhe mit der Gegenwart.

bendokat
Probenfoto "Die heilige Johanna der Schlachthöfe"
©Arno Declair
Heiner Müller hätte sich seine Texte gern von Margit Bendokat vorlesen lassen, weil er sie so selbst erst verstanden hatte, kolportiert Nicolas Stemann als Laudator, um dann noch einmal die Besonderheiten dieser Schauspielerin hervorzuheben, die Energiezentren von Texten aufzuspüren, Welten zu öffnen und darzustellen verstehe mit einer ganz eigenen Lakonie.
Heutzutage, sagte Stemann, gebe es einen Hunger nach Authentizität auf der Bühne, weshalb manche nun echte Hartz-IV-Empfänger oder irgendwelche Spezialisten auf die Bühne holten. Natürlich verlören die dort sofort jegliche Authentizität, schließlich sei das Theater ein eigener Raum. Wer aber Margit Bendokat habe, dem könne das niemals passieren. Denn ihre Authentizität komme aus der Tiefe, sozusagen dem Innern des Theaters selbst, in das sie dann die Welt von außerhalb zu holen verstehe und umgekehrt.
Am Ende setzte sich der 1968 in Hamburg geborene Regisseur ans Klavier, um Margit Bendokat mit zartem Schmelz Udo Lindenbergs Vor-Wende-Ballade "Mädchen aus Ostberlin" zu Füßen zu legen, was manch politisch Korrektem im Saal kurz den Schweiß auf die Stirne trieb, es aber so direkt gefühlt und liebenswürdig in die Veranstaltung sich fügte, das bald doch allgemeine Rührung überwog.
  (Nicolas Stemann singt und spielt Udo Lindenberg)

Deutsche Negerin mit asiatischem Grinsen
Dimiter Gotscheffs Ausführungen, der Margit Bendokat als deutsche Negerin mit asiatischem Grinsen feierte (ein etwas unglücklich müllerndes Kompliment), fielen gewiss auch nicht ins allgemein verständliche Repertoire üblicher Lobesfloskeln. Gotscheff brachte aber dieser Schauspielerin (und unsereins im Publikum) gleich zwei wunderbare Geschenke mit: einmal eine Beschreibung einer Szene aus einer berühmten Tartuffe-Inszenierung von Benno Besson aus dem Jahr 1963, wo Margit Bendokat als Dienstmädchen nicht nur einen einzigen Satz zu sagen, sondern auch Kirschen zu essen hatte, und dies in geradezu naturereignishafter Form getan haben muss, wenn man Gotscheffs Schilderungen glaubt, der dies als Hospitant erlebte. Und was sie (und überhaupt das Erzählen mit dem Körper) von Bessons damaliger Assistentin, der Pantomimin (und späteren Regisseurin) Brigitte Soubeyran gelernt hat, wie die Bendokat dann später erzählt - Soubeyran, die (inzwischen fast achtzigjährig) ebenfalls unter den Gästen im Deutschen Theater war.
Das zweite Geschenk war eine Variation des berühmten Drehbühnenwandkampfs zwischen Samuel Finzi und Wolfram Koch aus Gotscheffs Perser-Inszenierung 2006 am Deutschen Theater, der nun dahingehend abgewandelt wurde, dass die ganze Schlacht, die Aischylos' Drama verhandelt, nur darum geht, welche Partei nun zuerst Margit Bendokat ihre Huldigung darbringen darf ... Finzi oder Koch, die heftig in einem aberwitzigen Slapstick miteinander (und Mark Lammerts Bühnenbild-Wand) darum ringen.
Auch viel Theatergeschichte wehte durch die Veranstaltung. Namen wie der des legendären DT-Nachkriegsintendanten Wolfgang Langhoff, mit dem Margit Bendokat 1964 in Carl Sternheims "1913" auf der Bühne stand - ihre erste "richtige" Rolle am Deutschen Theater und Langhoffs letzte. Namen von Regisseuren wie Adolf Dresen, Alexander Lang, Frank Castorf, Einar Schleef, Heiner Müller, Konstanze Lauterbach oder eben nun Dimiter Gotscheff und Nicolas Stemann pflastern ihren Weg. Die große Käthe Reichel war ihre Lehrerin. Fast ein halbes Jahrhundert Theatergeschichte ist in diesem Körper aufgehoben, den Dimiter Gotscheff mit einer archaischen Landschaft verglich. Der aber dabei höchst gegenwärtig bleibt, möchte man leise hinzufügen, immer greifbar auch in der unsentimentalen Lakonie dieser Schauspielerin, die seit über fünfundvierzig Jahren auf der Bühne des Deutschen Theaters steht, dieses Theater und seine Geschichte verkörpert wie keine andere Schauspielerin des Ensembles. Und die erst jetzt überhaupt zum ersten Mal einen Preis bekam. Am Ende viele gerührte Gesichter und Standing Ovations.




Rollenfach: Welt


Nicolas Stemann
Berlin, 9. Mai 2010

Liebe Margit, verehrte Damen und Herren,
die Jury hat mit der Entscheidung, den diesjährigen Berliner Theaterpreis an Margit Bendokat zu verleihen, eine großartige Wahl getroffen.
Wer sonst sollte diesen Preis bekommen?
Wer, wenn nicht eine so tolle Schauspielerin wie Margit Bendokat, die das Theater der letzten Jahre und Jahrzehnte auf so zentrale Art mitgestaltet hat? Und wenn man sich ihre Vita anguckt, all die wichtigen Rollen, Inszenierungen und die schier endlose Liste von Namen legendärer Theaterkünstler, mit denen sie beruflich und zum Teil auch privat verbunden war, dann gewinnt man den Eindruck, sie habe als Schauspielerin die Umsetzung der wichtigsten Theatervisionen der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht nur geprägt, sondern geradezu ermöglicht.
Dafür kann man durchaus schon mal einen Preis springen lassen.
Es scheint nicht sehr schwer zu sein, Margit ein Loblied zu singen. Über sie zu sprechen und von ihr zu schwärmen ist eins. Nun ist Margit aber auf eine so entwaffnende Art bescheiden und berlinerisch unsentimental, dass ich davor zurückschrecke, allzu sehr ins Schwärmen zu geraten auch wenn sich Anlass hierfür genug findet.
Aber wird man ihr und dem, was sie als Schauspielerin ausmacht, damit wirklich
gerecht?

Ich habe keine wirkliche Ahnung, wie sie das macht und muss es auch nicht wirklich wissen. Das, was die Größe und Einzigartigkeit eines Schauspielers ausmacht, ist ein Geheimnis, oft sogar für den Schauspieler selbst.

Eine Welt erschaffen
Ich weiß nur so viel: Scheinbar ohne Aufwand, scheinbar mit ihrer bloßen Anwesenheit auf einer Bühne, erschafft Margit Bendokat eine Welt. Man hat dabei den Eindruck, als würde sie gar nicht viel tun, als würde sie bloß Texte aufsagen, oder sie rufen, als würde sie einfach nur stehen, wenn sie steht, gucken, wenn sie guckt. Und dennoch ist sie eine Welt.
Dabei ist nicht unbedingt dezent. Ihr Spiel ist ja alles andere als naturalistisch (obwohl sie das sicher auch kann). In großer Form wird Text Richtung Publikum deklamiert, alles ist ohne Scham übertrieben, jede Bewertung, jeder Schritt scheinen überartikuliert, dabei aber nie hohl oder manieriert.
Auf Proben wird einem schon mal der Kopf weggeblasen, wenn Margit sich einfach so in irgendein Geschehen hineinwirft und loslegt - auch ganz ohne die Absicherung durch irgendeine Figur oder eine definierte Situation. Nicht viele Schauspieler können das mit einem solchen Mut, einer solchen Lust am Risiko: Etwas spielen, ohne vorher zu wissen, wo es herkommt oder worauf es hinausläuft - und dabei dennoch klar zu bleiben. Und immer mit dem Herzen dabei. Genau - ohne dogmatisch zu sein. Menschlich ohne zu menscheln. Gefühlvoll ohne in Sentimentalität zu ertrinken. Und das Ganze auch gerne laut. Man soll sich von Margits zarter Erscheinung, ihrem Ausdruck zwischen mädchenhafter Schüchternheit und mütterlicher Güte nicht täuschen lassen. Wenn man sie so anschaut kann man sich kaum vorstellen, mit welcher Unverwüstlichkeit und welcher Ausdauer sie Text brüllen kann.
Wie auch immer sie das tut, was sie da tut: Es entsteht eine Welt. Das, was schnell wie ein abgegriffenes Klischee klingen mag – "wenn sie spielt entsteht eine Welt", entspricht in Margits Fall einfach der Wahrheit und ist ganz konkret wahrnehmbar:
Wenn sie in einer Inszenierung, in einem Bühnenbild, in einem Stück, auf einer Bühne steht - dann steht da nicht einfach eine Schauspielerin, die sich als weitere Figur in diese ganzen Elemente einfügt, nein, dann steht da eine Wirklichkeit, etwas, das von jenseits des Theaters
zu kommen scheint, von jenseits des Stückes, von jenseits der Inszenierung. Etwas, das es aus irgendeinem Grund geschafft hat, diese hermetischen Kunst- und Theatermauern zu durchbrechen, und das durch sein bloßes Auftreten alles in Frage stellt, was bisher dort stattgefunden hat.

Und so habe ich Margit bisher denn auch immer besetzt: nicht als eine Figur, nicht als die Darstellerin eines Menschen, sondern als die Darstellerin einer Welt, eines ganzen Kosmos.
Seit einiger Zeit ist es Mode im Theater, Dinge, Menschen auf Bühnen zu stellen, die nicht aus dem Theaterkontext stammen: Tiere oder Eisenbahnschaffner oder echte Hartz-IV-Empfänger, die man dann als das Authentische bestaunt und dabei oft die eigentliche Pointe gar nicht mitkriegt, dass nämlich die Theatralisierung des Theaterfernen diesem die angestrebte Authentizität geradezu austreibt, und sich diese Abkürzung in die Wirklichkeit im Theater schnell als große Lüge entlarvt. So nachvollziehbar die Sehnsucht nach Schaffnern, Kinder, Haftentlassenen im Theater auch ist - all das ist gar nicht nötig, wenn man Margit hat!
Dabei kommt sie nicht von außen, sie entstammt ja als Schauspielerin dem Zentrum des Theaters. Und sprengt dennoch Raum und Rahmen.

Die Welten, die Margit bislang in meinen Inszenierungen spielte, waren immer jeweils denen entgegengesetzt, die die Inszenierung bis dahin behauptet hatte. Das hatte den (beabsichtigten) Effekt, dass alles, was bisher hergestellt wurde: vom Text, von den anderen Spielern, von der Inszenierung, von mir selber - in ein völlig neues Licht geriet, relativiert oder in sein Gegenteil verkehrt wurde. Toll genug, dass so etwas im Theater möglich ist - kaum zu glauben, dass eine einzige Schauspielerin mit ihrem bloßen Auftritt dazu in der Lage ist. Margit kann das.
Meine Inszenierungen mit Margit lassen sich tatsächlich in zwei Teile einteilen: in den Teil vor ihrem Auftritt, und den danach.

Vor Margit und nach ihr
In der "Heiligen Johanna" etwa findet der erste Teil im Innern des Theaters statt, alles ist Kunst, Show, Unterhaltung, über das Außen wird zwar geredet, doch kommt es nur als Zitat vor, als Zeichen, als Abwesendes - wie ja oft im Theater. Im zweiten Teil wird all dies dann allein durch Margits Auftritt von einem gesellschaftlichen oder historischen Außen konterkariert. Da weht auf einmal etwas durch den Raum, das die verlogene Bequemlichkeit ganzer Theatergenerationen spürbar macht. Margit hat es hergestellt.
Bei "Über Tiere" ist es glaube ich genau andersrum: hier entfaltet sich zunächst ein (Geschlechter-)Diskurs, der dann durch Margits Darstellung einer alternden und sterbenden Frau so massiv mit Welt konfrontiert wird, dass alle einfachen Gewissheiten in einer Explosion weggefegt werden. Und am Ende bleibt nur der Wunsch nach Liebe und Erlösung, und das in einem Stück von Elfriede Jelinek. Auch das hat Margit geschafft.
Wer sich nicht einlassen kann auf eine solche dialektische Schwebung - sprich: wer nicht denken will - fliegt an diesen Stellen raus. So ging etwa ein Berliner Kritiker dem Kampf Margit versus Inszenierung so sehr auf den Leim, dass er schrieb, ich würde in der "Heiligen Johanna" tatsächlich Margit Bendokat ermorden wollen oder zumindest dazu aufrufen!
Natürlich habe ich nicht dazu aufrufen wollen, liebe Margit. (Das wollte ich hier nur noch mal richtig stellen).

(Margits Kommentar hierzu lautete übrigens: Ach weeste, ick les dat ja sowieso gar
nich erst).

Der Kritiker war wohl von Margits Auftritt so irritiert, dass ihm in panischer Suche nach Halt jenseits vom Selber-Denken-Müssen die ganze Dialektik ihres Auftritts entgangen war. Das Politische daran. An Margit lag das sicher nicht.

Der Mensch in Beziehung zur Realität
Soweit ich es überblicken kann, war Margits Haupt-Betätigungsfeld als Schauspielerin nie ein Theater, dem es wesentlich um die feine Auslotung sensibler bürgerlicher Seelenpein ging - sondern immer eines, das sich experimentell, existentiell und mutig in Gesellschaft, Politik und Geschichte geworfen hat.
Sich im Theater mit Politik und gesellschaftlichen Realitäten zu beschäftigen ist ja, wie wir wissen, nicht ganz einfach und bedeutet immer eine besondere Aufgabe für einen Schauspieler, der als Mensch auf der Bühne zunächst ja keine abstrakten Dinge sondern Menschen darstellt. Das bürgerliche psychologische Theater lässt den Menschen nach innen klappen und hermetisch einschnappen. In einem Theater, das sich politisch orientiert und positioniert, geht es, wenn wir es nicht mit bloßen Parolen zu tun haben wollen, natürlich auch um den Menschen, aber anders: es geht um den Menschen in Beziehung zur ihn umgebenden gesellschaftlichen Realität, das heißt, es geht darum, die Schnittstelle auszuloten zwischen diesem subjektiven Innen und einem gesellschaftlichen politischen Außen, die Spannungen zwischen diesen beiden Polen, die durch den einzelnen Menschen hindurchgehen, ihn belasten und zerreißen.
Diese Schnittstelle transportiert Margit auf eine ganz besondere Art, es ist, als dächte sie immer beides mit, Innen und Außen, als spielten ihr Körper, ihre Stimme nie nur eines der beiden.
Und so ist es vielleicht kein Zufall, dass Margit dieser Preis gerade jetzt zuerkannt wird, zu einer Zeit, da die Theater aus einem langen Schlaf der Innenschau zu erwachen scheinen und sich wieder ein wenig offensiver - wenn vielleicht auch viel zu spät, zu leise oder zu hilflos - für gesellschaftliche Realitäten zu interessieren beginnen. Denn ein Theater, das sich für die sie umgebende Welt interessiert, braucht Schauspielerinnen wie Margit. Wenn sie auftritt, dann gibt es nicht einfach eine weitere Figur mit Seelenpein und sensiblen Gefühlen - dann ist das politisch!
Mag sein, dass das noch von ihrer Zusammenarbeit mit Heiner Müller komme.
Oder von Gosch.
Oder von - die Liste ist wie gesagt lang.

Denn in Margit begegnet uns erlebte Geschichte, und das heißt in ihrem Falle immer
auch: Theatergeschichte!


Diese ganze geballte Ladung Theatergeschichte
Und so ist sie neben all dem, von dem ich bislang gesprochen habe, auch noch ein
wertvoller Erinnerungsschatz für das heutige Theater. Ihr Spiel ist ein lebendes, lebendiges Gedächtnis der Theateravantgarden der letzten Jahrzehnte, ein vitaler Setzkasten historischer Theaterformen.

In dem wir natürlich Brecht finden, dem sie persönlich zwar gar nicht mehr begegnet ist, erstaunlicherweise auch nur wenige seiner Stücke gespielt hat, der sie aber doch sehr geprägt haben muss. Viele Brecht-Vertraute waren ihre Lehrer, Käthe Reichel zum Beispiel, sie bewegte sich von Anfang an in einer von Brecht geprägten Theaterlandschaft. Und das merkt man. Zum Glück.
Dann natürlich Heiner Müller - und hier weiß ich gar nicht, ebenso wie bei Einar Schleef, wer da eigentlich wen beeinflusst hat. Hat Margit wirklich bei Schleef das zärtlich-differenzierte Brüllen und Rufen gelernt? Oder ist das etwas, was aus Schleefs Form geworden ist dadurch, dass er mit Margit gearbeitet hat? Heiner Müller, so erzählt man, ließ sich seine Texte immer gerne von Margit vorlesen, weil er sie erst dann wirklich verstand. Das glaube ich sofort. Wenn sie Texte spricht oder brüllt oder deklamiert, dann versucht sie die Energiezentren dieser Texte auszuloten - da gibt es kein Irgendwie, da gibt es nur klare, vielleicht warme, aber brutale Eindeutigkeit.
Gerade Texten, deren Eindeutigkeit in ihrer Mehrdeutigkeit liegt, wie etwa die Texte Elfriede Jelineks, tut das unglaublich gut.
Die Liste der lebendigen Theatergeschichte, die Margit umweht, ist freilich noch um ein Vielfaches länger: B.K. Tragelehn, Benno Besson, Alexander Lang, Frank Castorf, Jürgen Gosch, (wir nähern uns allmählich der Gegenwart) Konstanze Lauterbach, Dimiter Gottscheff... kaum ein wirklich interessanter Theatermacher, der in ihrer Vita fehlt, und es sind die Experimentatoren, die Suchenden, die "Verrückten" wie Margit selber sagt, die diese Vita prägen. (Die Konventionshüter, die Bewahrer des Status quo, die Beschützer des Mittelmaßes und des Publikums-Konsens gehören auffälliger- und sympathischerweise nicht zu den prägenden Persönlichkeiten ihres Lebenslaufs.)
Wenn Margit heute in einer Inszenierungen also scheinbar "nur" rumsteht und es wieder einmal schafft, eine Welt zu sein, dann steht diese ganze geballte Ladung Theatergeschichte dort mit herum. Was kann es größeres für einen Regisseur geben! Und trotzdem steht sie auf ihren Füßen, und die sind auf der Erde, trotzdem ist sie unglaublich nett und so unkompliziert, dass es einem gar nichts nützen würde, in Ehrfurcht zu erstarren - im Gegenteil käme sicher sofort ein Spruch um die Ecke berlinert, der alles wieder erden und den Erstarrenden beschämen würde ob des lächerlichen Pathos seiner Ehrfurcht.
Wenn man sich all dies vor Augen führt, mutet es ausgesprochen absurd an, dass der heutige Theaterpreis tatsächlich die erste wichtige Auszeichnung ist, die Margit Bendokat als Schauspielerin in ihrem ganzen Leben verliehen wird. Das ist eigentlich ein Skandal und kaum zu glauben.
Um so mehr, liebe Margit, gratuliere ich Dir von ganzem Herzen zu Deinem ersten
Theaterpreis. Mögen noch viele folgen!

Vielen Dank.

Sonntag, 18. Januar 2015

Kurze Pause


Liebe Leser!

Ich stecke gerade in einer wunderbar aufregenden, aber auch anstrengenden Arbeit, deshalb macht dieser Blog eine kleine Pause, bis etwa Anfang Februar. Tut mir leid,
aber mein Gehirn ist auf beste Art überlastet.

Bis gleich! 
Johanna

Sonntag, 11. Januar 2015

DER KAISER UND DIE NACHTIGALL





 Brassai
DER KAISER UND DIE NACHTIGALL

In China, weißt du ja wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle, die er um sich hat, sind Chinesen. Es sind nun viele Jahre her, aber gerade deshalb ist es wert, die Geschichte zu hören, ehe sie vergessen wird. Des Kaisers Schloß war das prächtigste der Welt, ganz und gar von feinem Porzellan, so kostbar, aber so spröde, so mißlich daran zu rühren, daß man sich ordentlich in acht nehmen mußte. Im Garten sah man die wunderbarsten Blumen, und an die allerprächtigsten waren Silberglocken gebunden, die erklangen, damit man nicht vorbeigehen möchte, ohne die Blumen zu bemerken. Ja, alles war in des Kaisers Garten fein ausgedacht, und er erstreckte sich so weit, daß der Gärtner selbst das Ende nicht kannte; ging man immer weiter, so kam man in den herrlichsten Wald mit hohen Bäumen und tiefen Seen. Der Wald ging gerade hinunter bis zum Meere, das blau und tief war. Große Schiffe konnten unter den Zweigen hinsegeln, und in diesen wohnte eine Nachtigall, die so herrlich sang, daß selbst der arme Fischer, der soviel anderes zu tun hatte, stillhielt und horchte, wenn er nachts ausgefahren war, um das Fischnetz aufzuziehen. "Ach Gott, wie ist das schön!" sagte er, aber dann mußte er auf sein Netz achtgeben und vergaß den Vogel; doch wenn dieser in der nächsten Nacht wieder sang und der Fischer dorthin kam, sagte er wieder: "Ach Gott, wie ist das doch schön!"

Von allen Ländern kamen Reisende nach der Stadt des Kaisers und bewunderten sie, das Schloß und den Garten; doch wenn sie die Nachtigall zu hören bekamen, sagten sie alle: "Das ist doch das Beste!"

Die Reisenden erzählten davon, wenn sie nach Hause kamen, und die Gelehrten schrieben viele Bücher über die Stadt, das Schloß und den Garten, aber die Nachtigall vergaßen sie nicht, sie wurde am höchsten gestellt, und die, welche dichten konnten, schrieben die herrlichsten Gedichte über die Nachtigall im Walde bei dem tiefen See.

Die Bücher durchliefen die Welt, und einige kamen dann auch einmal zum Kaiser. Er saß in seinem goldenen Stuhl, las und las, jeden Augenblick nickte er mit dem Kopfe, denn er freute sich über die prächtigen Beschreibungen der Stadt, des Schlosses und des Gartens. "Aber die Nachtigall ist doch das Allerbeste!" stand da geschrieben.

"Was ist das?" fragte der Kaiser. "Die Nachtigall kenne ich ja gar nicht! Ist ein solcher Vogel hier in meinem Kaiserreiche und sogar in meinem Garten? Das habe ich nie gehört; so etwas soll man erst aus Büchern erfahren?"

Da rief er seinen Haushofmeister. Der war so vornehm, daß, wenn jemand, der geringer war als er, mit ihm zu sprechen oder ihn um etwas zu fragen wagte, er weiter nichts erwiderte als: "P!" Und das hat nichts zu bedeuten.

"Hier soll ja ein höchst merkwürdiger Vogel sein, der Nachtigall genannt wird!" sagte der Kaiser. "Man spricht, dies sei das Allerbeste in meinem großen Reiche; weshalb hat man mir nie etwas davon gesagt?"

"Ich habe ihn früher nie nennen hören", sagte der Haushofmeister. "Er ist nie bei Hofe vorgestellt worden!"

"Ich will, daß er heute abend herkomme und vor mir singe!" sagte der Kaiser. "Die ganze Welt weiß, was ich habe, und ich weiß es nicht!"

"Ich habe ihn früher nie nennen hören!" sagte der Haushofmeister. "Ich werde ihn suchen, ich werde ihn finden!"

Aber wo war er zu finden? Der Haushofmeister lief alle Treppen auf und nieder, durch Säle und Gänge, keiner von allen denen, auf die er traf, hatte von der Nachtigall sprechen hören. Und der Haushofmeister lief wieder zum Kaiser und sagte, daß es sicher eine Fabel von denen sei, die da Bücher schreiben. "Dero Kaiserliche Majestät können gar nicht glauben, was da alles geschrieben wird; das sind Erdichtungen und etwas, was man die schwarze Kunst nennt!"

"Aber das Buch, in dem ich dieses gelesen habe", sagte der Kaiser, "ist mir von dem großmächtigen Kaiser von Japan gesandt, also kann es keine Unwahrheit sein. Ich will die Nachtigall hören; sie muß heute abend hier sein! Sie hat meine höchste Gnade! Und kommt sie nicht, so soll dem ganzen Hof auf den Leib getrampelt werden, wenn er Abendbrot gegessen hat!"

"Tsing-pe!" sagte der Haushofmeister und lief wieder alle Treppen auf und nieder, durch alle Säle und Gänge; und der halbe Hof lief mit, denn sie wollten nicht gern auf den Leib getrampelt werden. Da gab es ein Fragen nach der merkwürdigen Nachtigall, die von aller Welt gekannt war, nur von niemand bei Hofe.

Endlich trafen sie ein kleines, armes Mädchen in der Küche. Sie sagte: "O Gott, die Nachtigall, die kenne ich gut, ja, wie kann die singen! Jeden Abend habe ich die Erlaubnis, meiner armen, kranken Mutter einige Überbleibsel vom Tische mit nach Hause zu bringen. Sie wohnt unten am Strande, wenn ich dann zurückgehe, müde bin und im Walde ausruhe, höre ich Nachtigall singen. Es kommt mir dabei das Wasser in die Augen, und es ist gerade, als ob meine Mutter mich küßte!"

"Kleine Köchin", sagte der Haushofmeister, "ich werde dir eine feste Anstellung in der Küche und die Erlaubnis, den Kaiser speisen zu sehen, verschaffen, wenn du uns zur Nachtigall führen kannst; denn sie ist zu heute abend angesagt."

So zogen sie allesamt hinaus in den Wald, wo die Nachtigall zu singen pflegte; der halbe Hof war mit. Als sie im besten Zuge waren, fing eine Kuh zu brüllen an.

"Oh!" sagten die Hofjunker, "nun haben wir sie; das ist doch eine merkwürdige Kraft in einem so kleinen Tiere! Die habe ich sicher schon früher gehört!"

"Nein, das sind Kühe, die brüllen!" sagte die kleine Köchin. "Wir sind noch weit von dem Orte entfernt!"

Nun quakten die Frösche im Sumpfe.

"Herrlich!" sagte der chinesische Schloßpropst. "Nun höre ich sie, es klingt gerade wie kleine Tempelglocken."

"Nein, das sind Frösche!" sagte die kleine Köchin. "Aber nun, denke ich werden wir sie bald hören!"

Da begann die Nachtigall zu singen.

"Das ist sie", sagte das kleine Mädchen. "Hört, hört! Und da sitzt sie!" Sie zeigte nach einem kleinen, grauen Vogel oben in den Zweigen.

"Ist es möglich?" sagte der Haushofmeister. "So hätte ich sie mir nimmer gedacht; wie einfach sie aussieht! Sie hat sicher ihre Farbe darüber verloren, daß sie so viele vornehme Menschen um sich erblickt!"

"Kleine Nachtigall", rief die kleine Köchin ganz laut, "unser gnädigste Kaiser will, daß Sie vor ihm singen möchten!"

"Mit dem größten Vergnügen", sagte die Nachtigall und sang dann, daß es eine Lust war.

"Es ist gerade wie Glasglocken!" sagte der Haushofmeister. "Und seht die kleine Kehle, wie sie arbeitet! Es ist merkwürdig, daß wir sie früher nie gesehen haben; sie wird großes Aufsehen bei Hofe machen!"

"Soll ich noch einmal vor dem Kaiser singen?" fragte die Nachtigall, die glaubte, der Kaiser sei auch da.

"Meine vortreffliche, kleine Nachtigall", sagte der Haushofmeister, "ich habe die große Freude, Sie zu einem Hoffeste heute abend einzuladen, wo Sie dero hohe Kaiserliche Gnaden mit Ihrem prächtigen Gesange bezaubern werden!"

"Der nimmt sich am besten im Grünen aus!" sagte die Nachtigall, aber sie kam doch gern mit, als sie hörte, daß der Kaiser es wünschte.

Auf dem Schlosse war alles aufgeputzt. Wände und Fußboden, die von Porzellan waren, glänzten im Strahle vieler tausend goldener Lampen, und die prächtigsten Blumen, die recht klingeln konnten, waren in den Gängen aufgestellt. Da war ein Laufen und ein Zugwind, aber alle Glocken klingelten so, daß man sein eigenes Wort nicht hören konnte.

Mitten in dem großen Saal, wo der Kaiser saß, war ein goldener Stab hingestellt, auf dem sollte die Nachtigall sitzen. Der ganze Hof war da, und die kleine Köchin hatte die Erlaubnis erhalten, hinter der Tür zu stehen, da sie nun den Titel einer wirklichen Hofköchin bekommen hatte. Alle waren in ihrem größten Staate, und alle sahen nach dem kleinen, grauen Vogel, dem der Kaiser zunickte.

Die Nachtigall sang so herrlich, daß dem Kaiser die Tränen in die Augen traten, die Tränen liefen ihm über die Wa:ngen hernieder, und da sang die Nachtigall noch schöner; das ging recht zu Herzen. Der Kaiser war sehr erfreut und sagte, daß die Nachtigall einen goldenen Pantoffel um den Hals tragen solle. Aber die Nachtigall dankte, sie habe schon Belohnung genug erhalten.

"Ich habe Tränen in des Kaisers Augen gesehen, das ist mir der reichste Schatz! Gott weiß es, ich bin genug belohnt!" Und darauf sang sie wieder mit ihrer süßen, herrlichen Stimme.

"Das ist die liebenswürdigste Stimme, die wir kennen!" sagten die Damen ringsherum, und dann nahmen sie Wasser in den Mund, um zu klucken, wenn jemand mit ihnen spräche; sie glaubten, dann auch Nachtigallen zu sein. Ja, die Diener und Kammermädchen ließen melden, daß auch sie zufrieden seien, und das will viel sagen, denn sie sind am schwierigsten zu befriedigen. Ja, die Nachtigall machte wahrlich Glück.

Sie sollte nun bei Hofe bleiben, ihren eigenen Käfig haben, samt der Freiheit, zweimal des Tages und einmal des Nachts herauszuspazieren. Sie bekam zwölf Diener mit, die ihr ein Seidenband um das Bein geschlungen hatten, woran sie sie festhielten. Es war durchaus kein Vergnügen bei solchem Ausflug.

Die ganze Stadt sprach von dem merkwürdigen Vogel, und begegneten sich zwei, dann seufzten sie und verstanden einander: Ja, elf Hökerkinder wurden nach ihr benannt, aber nicht eins von ihnen hatte einen Ton in der Kehle.

Eines Tages erhielt der Kaiser eine Kiste, auf der geschrieben stand: "Die Nachtigall."

"Da haben wir nun ein neues Buch über unseren berühmten Vogel!" sagte der Kaiser; aber es war kein Buch, es war ein Kunststück, das in einer Schachtel lag, eine künstliche Nachtigall, die der lebenden gleichen sollte, aber überall mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzt war. Sobald man den künstlichen Vogel aufzog, konnte er eins der Stücke, die der wirkliche sang, singen, und dann bewegte sich der Schweif auf und nieder und glänzte von Silber und Gold. Um den Hals hing ein kleines Band, und darauf stand geschrieben: "Des Kaisers von Japan Nachtigall ist arm gegen die des Kaisers von China."

"Das ist herrlich!" sagten alle, und der Mann, der den künstlichen Vogel gebracht hatte, erhielt sogleich den Titel: Kaiserlicher Oberhofnachtigallbringer.

"Nun müssen sie zusammen singen! Was wird das für ein Genuß werden!"

Sie mußten zusammen singen, aber es wollte nicht recht gehen, denn die wirkliche Nachtigall sang auf ihre Weise, und der Kunstvogel ging auf Walzen. "Der hat keine Schuld", sagte der Spielmeister; "der ist besonders taktfest und ganz nach meiner Schule!" Nun sollte der Kunstvogel allein singen. Er machte ebenso viel Glück wie der wirkliche, und dann war er viel niedlicher anzusehen; er glänzte wie Armbänder und Brustnadeln.

Dreiunddreißigmal sang er ein und dasselbe Stück und war doch nicht müde; die Leute hätten ihn gern wieder von vorn gehört, aber der Kaiser meinte, daß nun auch die lebendige Nachtigall etwas singen solle. Aber wo war die? Niemand hatte bemerkt, daß sie aus dem offenen Fenster fort zu ihren grünen Wäldern geflogen war.

"Aber was ist denn das?" fragte der Kaiser; und alle Hofleute schalten und meinten, daß die Nachtigall ein höchst undankbares Tier sei. "Den besten Vogel haben wir doch!" sagten sie, und so mußte der Kunstvogel wieder singen, und das war das vierunddreißigste Mal, daß sie dasselbe Stück zu hören bekamen, aber sie konnten es noch nicht ganz auswendig, denn es war sehr schwer. Der Spielmeister lobte den Vogel außerordentlich, ja, er versicherte, daß er besser als die wirkliche Nachtigall sei, nicht nur was die Kleider und die vielen herrlichen Diamanten betreffe, sondern auch innerlich.

"Denn sehen Sie, meine Herrschaften, der Kaiser vor allen! Bei der wirklichen Nachtigall kann man nie berechnen, was da kommen wird, aber bei dem Kunstvogel ist alles bestimmt; man kann es erklären, man kann ihn aufmachen und das menschliche Denken zeigen, wie die Walzen liegen, wie sie gehen und wie das eine aus dem andern folgt!"

"Das sind ganz unsere Gedanken!" sagten sie alle, und der Spielmeister erhielt die Erlaubnis, am nächsten Sonntag den Vogel dem Volke vorzuzeigen. Es sollte ihn auch singen hören, befahl der Kaiser, und es hörte ihn, und es wurde so vergnügt, als ob es sich im Tee berauscht hätte, denn das ist ganz chinesisch; und da sagten alle: "Oh!" und hielten den Zeigefinger in die Höhe und nickten dazu. Aber die armen Fischer, welche die wirkliche Nachtigall gehört hatten, sagten: "Es klingt hübsch, die Melodien gleichen sich auch, aber es fehlt etwas, wir wissen nicht was!"

Die wirkliche Nachtigall ward aus dem Lande und Reiche verwiesen.

Der Kunstvogel hatte seinen Platz auf einem seidenen Kissen dicht bei des Kaisers Bett; alle Geschenke, die er erhalten, Gold und Edelsteine, lagen rings um ihn her, und im Titel war er zu einem 'Hochkaiserlichen Nachttischsänger' gestiegen, im Range Numero eins zur linken Seite, denn der Kaiser rechnete die Seite für die vornehmste, auf der das Herz saß, und das Herz sitzt auch bei einem Kaiser links. Und der Spielmeister schrieb ein Werk von fünfundzwanzig Bänden über den Kunstvogel; das war so gelehrt und lang, voll von den allerschwersten chinesischen Wörtern, daß alle Leute sagten, sie haben es gelesen und verstanden, denn sonst wären sie ja dumm gewesen und auf den Leib getrampelt worden.

So ging es ein ganzes Jahr; der Kaiser, der Hof und alle die übrigen Chinesen konnten jeden kleinen Kluck in des Kunstvogels Gesang auswendig, aber gerade deshalb gefiel er ihnen jetzt am allerbesten; sie konnten selbst mitsingen, und das taten sie. Die Straßenbuben sangen "Ziziiz! Kluckkluckkluck!" und der Kaiser sang es. Ja, das war gewiß prächtig!

Aber eines Abends, als der Kunstvogel am besten sang und der Kaiser im Bette lag und darauf hörte, sagte es "Schwupp" inwendig im Vogel; da sprang etwas. "Schnurrrr!" Alle Räder liefen herum, und dann stand die Musik still.

Der Kaiser sprang gleich aus dem Bette und ließ seinen Leibarzt rufen. Aber was konnte der helfen? Dann ließen sie den Uhrmacher holen, und nach vielem Sprechen und Nachsehen brachte er den Vogel etwas in Ordnung, aber er sagte, daß er sehr geschont werden müsse, denn die Zapfen seien abgenutzt, und es sei unmöglich, neue so einzusetzen, daß die Musik sicher gehe. Das war nun eine große Trauer! Nur einmal des Jahres durfte man den Kunstvogel singen lassen, und das war fast schon zuviel, aber dann hielt der Spielmeister eine kleine Rede mit schweren Worten und sagte, daß es ebensogut wie früher sei, und dann war es ebensogut wie früher.

Nun waren fünf Jahre vergangen, und das ganze Land bekam eine wirkliche, große Trauer. Die Chinesen hielten im Grunde allesamt große Stücke auf ihren Kaiser, und jetzt war er krank und konnte nicht länger leben. Schon war ein neuer Kaiser gewählt, und das Volk stand draußen auf der Straße und fragte den Haushofmeister, wie es seinem alten Kaiser gehe.

"P!" sagte er und schüttelte mit dem Kopfe.

Kalt und bleich lag der Kaiser in seinem großen, prächtigen Bett. Der ganze Hof glaubte ihn tot, und ein jeder lief, den neuen Kaiser zu begrüßen, die Kammerdiener liefen hinaus, um darüber zu sprechen, und die Kammermädchen hatten große Kaffeegesellschaft. Ringsumher in allen Sälen und Gängen war Tuch gelegt, damit man niemand gehen höre, und deshalb war es sehr still. Aber der Kaiser war noch nicht tot; steif und bleich lag er in dem prächtigen Bette mit den langen Samtvorhängen und den schweren Goldquasten, hoch oben stand ein Fenster auf, und der Mond schien herein auf den Kaiser und den Kunstvogel.

Der arme Kaiser konnte kaum atmen, es war gerade, als ob etwas auf seiner Brust säße. Er schlug die Augen auf, und da sah er, daß es der Tod war. Er hatte sich eine goldene Krone aufgesetzt und hielt in der einen Hand des Kaisers goldenen Säbel, in der andern seine prächtige Fahne. Ringsumher aus den Falten der großen Samtbettvorhänge sahen allerlei wunderliche Köpfe hervor, einige ganz häßlich, andere lieblich und mild; das waren des Kaisers gute und böse Taten, die ihn anblickten, jetzt, da der Tod ihm auf dem Herzen saß.

"Entsinnst du dich dessen?" Und dann erzählten sie ihm so viel, daß ihm der Schweiß von der Stirne rann.

"Das habe ich nie gewußt!" sagte der Kaiser. "Musik, Musik, die große chinesische Trommel", rief er, "damit ich nicht alles zu hören brauche, was sie sagen!"

Aber sie fuhren fort, und der Tod nickte wie ein Chinese zu allem, was gesagt wurde. "Musik, Musik!" schrie der Kaiser. "Du kleiner herrlicher Goldvogel, singe doch, singe! Ich habe dir Gold und Kostbarkeiten gegeben, ich habe dir selbst meinen goldenen Pantoffel um den Hals gehängt, singe doch, singe!"

Aber der Vogel stand still, es war niemand da, um ihn aufzuziehen, sonst sang er nicht, und der Tod fuhr fort, den Kaiser mit seinen großen, leeren Augenhöhlen anzustarren, und es war still, erschrecklich still.

Da klang auf einmal vom Fenster her der herrlichste Gesang. Es war die kleine, lebendige Nachtigall, die auf einem Zweige draußen saß. Sie hatte von der Not ihres Kaisers gehört und war deshalb gekommen, ihm Trost und Hoffnung zu singen; und so wie sie sang, wurden die Gespenster bleicher und bleicher, das Blut kam immer rascher und rascher in des Kaisers schwachen Gliedern in Bewegung, und selbst der Tod horchte und sagte: "Fahre fort, kleine Nachtigall! Fahre fort!"

"Ja, willst du mir den prächtigen, goldenen Säbel geben? Willst du mir die reiche Fahne geben? Willst du mir des Kaisers Krone geben?"

Der Tod gab jedes Kleinod für einen Gesang, und die Nachtigall fuhr fort zu singen. Sie sang von dem stillen Gottesacker, wo die weißen Rosen wachsen, wo der Flieder duftet und wo das frische Gras von den Tränen der Überlebenden befeuchtet wird. Da bekam der Tod Sehnsucht nach seinem Garten und schwebte wie ein kalter, weißer Nebel aus dem Fenster.

"Dank, Dank!" sagte der Kaiser, "du himmlischer, kleiner Vogel, ich kenne dich wohl! Dich habe ich aus meinem Lande und Reich gejagt, und doch hast du die bösen Geister von meinem Bette weggesungen, den Tod von meinem Herzen weggeschafft! Wie kann ich dir lohnen?"

"Du hast mich belohnt!" sagte die Nachtigall. "Ich habe deinen Augen Tränen entlockt, als ich das erstemal sang, das vergesse ich nie; das sind die Juwelen, die ein Sängerherz erfreuen. Aber schlafe nun und werde stark, ich werde dir vorsingen!"

Sie sang, und der Kaiser fiel in süßen Schlummer; mild und wohltuend war der Schlaf!

Die Sonne schien durch das Fenster herein, als er gestärkt und gesund erwachte. Keiner von seinen Dienern war noch zurückgekehrt; denn sie glaubten, er sei tot; aber die Nachtigall saß noch und sang.

"Immer mußt du bei mir bleiben!" sagte der Kaiser. "Du sollst nur singen, wenn du selbst willst, und den Kunstvogel schlage ich in tausend Stücke."

"Tue das nicht", sagte die Nachtigall, "der hat ja das Gute getan, solange er konnte, behalte ihn wie bisher. Ich kann nicht nisten und wohnen im Schlosse, aber laß mich kommen, wenn ich selbst Lust habe, da will ich des Abends dort beim Fenster sitzen und dir vorsingen, damit du froh werden kannst und gedankenvoll zugleich. Ich werde von den Glücklichen singen und von denen, die da leiden; ich werde vom Bösen und Guten singen, was rings um dich her dir verborgen bleibt. Der kleine Singvogel fliegt weit herum zu dem armen Fischer, zu des Landmanns Dach, zu jedem, der weit von dir und deinem Hofe entfernt ist. Ich liebe dein Herz mehr als deine Krone, und doch hat die Krone einen Duft von etwas Heiligem um sich. Ich komme und singe dir vor! Aber eins mußt du mir versprechen!"

"Alles!" sagte der Kaiser und stand da in seiner kaiserlichen Tracht, die er angelegt hatte, und drückte den Säbel, der schwer von Gold war, an sein Herz. "Um eins bitte ich dich; erzähle niemand, daß du einen kleinen Vogel hast, der dir alles sagt, dann wird es noch besser gehen!"

So flog die Nachtigall fort.

Die Diener kamen herein, um nach ihrem toten Kaiser zu sehen; ja, da standen sie, und der Kaiser sagte: "Guten Morgen!"

Hans Christian Andersen





Horst Janssen
Vogelkäfig, Holzschnitt 1958

Ein Vogel singt nicht, weil er eine Antwort hat, er singt, weil er ein Lied hat. M. Angelou

Ich weiss, warum der im Käfig gefangene Vogel singt

Der freie Vogel springt 
auf den Rücken des Winds
und schwimmt abwärts
bis die Strömung endet -
und tunkt seine Schwingen 
in die orangeglühenden Sonnenstrahlen
und nennt den Himmel sein eigen.

Aber ein Vogel der 
seinen engen Käfig abmisst,
kann selten durch 
das Gitter seiner Wut blicken.
Seine Flügel sind geknickt, 
seine Füsse gebunden -
so öffnet er seine Kehle und singt.

Der gefangene Vogel 
singt in furchtsamem Ton
von unbekannten Dingen, 
nach denen er sich sehnt.
Und seine Weise wird gehört 
auf fernem Hügel;
denn der gefangene Vogel 
singt von der Freiheit.

Der freie Vogel lebt in einer anderen Brise
und der Wind weht sanft durch die seufzenden Bäume.
Auf dem grünen Rasen die fetten Würmer warten
und sein ist die Weite des Himmels.

Aber der gefangene Vogel steht auf seiner Träume Grab -
sein Schatten schreit im Albtraum.
Seine Schwingen sind gebrochen, seine Füsse gebunden,
so öffnet er seine Kehle und singt.

Der gefangene Vogel singt 
in furchtsamem Ton
von unbekannten Dingen, 
nach denen er sich sehnt.
Und seine Weise wird gehört 
auf fernem Hügel;
denn der gefangene Vogel 
singt von der Freiheit.

Maya Angelou
Übersetzung Siraganda

The Caged Bird

A free bird leaps
on the back of the wind   
and floats downstream   
till the current ends
and dips his wing
in the orange sun rays
and dares to claim the sky.

But a bird that stalks
down his narrow cage
can seldom see through
his bars of rage
his wings are clipped and   
his feet are tied
so he opens his throat to sing.

The caged bird sings   
with a fearful trill   
of things unknown   
but longed for still   
and his tune is heard   
on the distant hill   
for the caged bird   
sings of freedom.

The free bird thinks of another breeze
and the trade winds soft through the sighing trees
and the fat worms waiting on a dawn bright lawn
and he names the sky his own

But a caged bird stands on the grave of dreams   
his shadow shouts on a nightmare scream   
his wings are clipped and his feet are tied   
so he opens his throat to sing.

The caged bird sings   
with a fearful trill   
of things unknown   
but longed for still   
and his tune is heard   
on the distant hill   
for the caged bird   
sings of freedom.