Samstag, 8. Oktober 2016

Tim Burton - Miss Peregrine's Home for Peculiar Children - Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder ist der neue Film von Tim Burton, nach einem Drehbuch von Jane Goldman, basierend auf dem Roman von Ransom Riggs. 
Um wiedereinmal kurz mein Steckenpferd zu reiten, wäre Fräulein Peregrines Heim für sonderbare Kinder ein schlechterer Titel gewesen? Besonders ist qualitativ wertend, sonderbar ist bemerkenswert. WTF?

Beetlejuice, Batman, Edward mit den Scherenhänden, Ed Wood, Mars Attacks, Corpse Bride - Mister Burton hat einige sehr gute Filme erdacht und Schauspieler zu wunderbaren Figuren-Erfindungen animiert. Aber dann, so ab 2007 mit Sweeney Todd und später auch mit Dark Shadows und der mir allzu niedlich erscheinenden Verfilmung von Alice im Wunderland, geriet er in das betrübliche, doch scheinbar unvermeidbare Sumpfgebiet der selbstverliebten Musterwiederholung. Auch sein Remake von Charlie und die Schokoladenfabrik reichte in keinster Weise, trotz der gut dazuerfundenen freudschen Vorgeschichte von Willie Wonka, an Mel Stuarts Original mit dem vor Kurzem verstorbenen Gene Wilder heran.  
Nun heute Abend im Neuköllner Rollbergkino, fast versteckt in einem ätzend unpersönlichen Einkaufszentrum, aber immerhin auf einer Leinwand, vor der ein herrlich glitzender, roter Vorhang hängt, die OV - Originalversion seines zur Zeit letzten Filmes.

Ein Großvater erzählt seinem Enkel Gutenachtgeschichten von Kindern mit besonderen Fähigkeiten, die sich verstecken müssen, da sie von Monstern verfolgt werden. Er, der Großvater, hat, wie wir später erfahren werden, auch ein außergewöhnliches Talent, er kann die, für alle anderen unsichtbaren, Monster sehen. Geboren wurde er 1930 in Polen als Kind jüdischer Eltern. Seiner Familie gelang die Flucht nach Amerika.
Viele Jahre später: der Enkelsohn findet den alten Mann, augenlos & sterbend, im Wald hinter seinem Haus und die letzten gestammelten Worte des Sterbenden, senden ihn auf seine Schicksalsreise.

Das Grundmuster war mir bekannt: unschuldiger herzensguter Held, der sich selbst  für einen Verlierer hält, trifft auf verängstigte Opfer, die durch sein überrraschendes Vorbild, erlernen ihr eigenes Potential zu nutzen. Aber, wie die Ereignisse sich entwickeln würden, wußte ich nie. Gut. Burton achtet auf jedes Detail, er befriedigt meine Neugier, aber er läßt mich auf die Befriedigung warten. Gut. Er hat eine dramaturgische Metaebene in der Hinterhand, aber wartet bis zum Abspann, mit den vorbeirollenden verblaßten Photographien von den begabten Kindern, um sie mir mitzuteilen. Gut. Er hat hervorragend besetzt. Gut.   

Mein neuester Kandidat für den superbesten Bösewicht: Samuel L. Jackson. Wie der, mit weißer Perücke und dentalem Horrorersatz, während starker Sturm seine Wangen flattern läßt, es schafft, cool zu erscheinen, ist schauspielerisches Genie.

Manche Kitiker verurteilen den Film für seine verwirrende Geschichte und fehlende emotionale Griffigkeit. Genau diese Eigenschaften waren es, die mir den Film liebenswert machten.

Ein absurdes Märchen. Die Einen sind gut, die Anderen schlecht. Schwarz ist schwarz und 
weiß ist weiß. Grau ist die Angst.

Florence & the Machine singen den Song überm Abspann.


Die sonderbaren Kinder im klassischen Portraitphoto





Kinderkreuzzug 1939
  
In Polen, im Jahr Neununddreißig
War eine blutige Schlacht
Die hat viele Städte und Dörfer
Zu einer Wildnis gemacht.

Die Schwester verlor den Bruder
Die Frau den Mann im Heer
Zwischen Feuer und Trümmerstätte
Fand das Kind die Eltern nicht mehr.

Aus Polen ist nichts mehr gekommen
Nicht Brief noch Zeitungsbericht
Doch in den östlichen Ländern
Läuft eine seltsame Geschicht.

Schnee fiel, als man sich’s erzählte
In einer östlichen Stadt
Von einem Kinderkreuzzug
Der in Polen begonnen hat.

Da trippelten Kinder hungernd
In Trüpplein hinab die Chausseen
Und nahmen mit sich andere, die
In zerschossenen Dörfern stehn.

Sie wollten entrinnen den Schlachten
Dem ganzen Nachtmahr
Und eines Tages kommen
In ein Land, wo Frieden war.

Da war ein kleiner Führer
Der hat sie aufgericht’.
Er hatte eine große Sorge:
Den Weg, den wusste er nicht.

Eine Elfjährige schleppte
Einen Jungen von vier Jahr
Hatte alles für eine Mutter
Nur nicht ein Land, wo Frieden war.

Ein kleiner Jude marschierte im Trupp
Mit einem samtenen Kragen
Der war das weißeste Brot gewohnt
Und hat sich gut geschlagen.

Und zwei Brüder kamen mit
Die waren große Strategen
Stürmten eine leere Bauernhütt
Und räumten sie nur vor dem Regen.

Es ging ein dünner Grauer mit
Hielt sich abseits in der Landschaft
Und trug an einer schrecklichen Schuld:
Er kam aus einer Nazigesandtschaft.

Da war unter ihnen ein Musiker
Der fand eine Trommel in einem zerschossenen Dorfladen
Und durfte sie nicht schlagen
Das hätt sie verraten.

Und da war ein Hund
Gefangen zum Schlachten
mitgenommen als Esser
Weil sie’s nicht übers Herz brachten.

Da war auch eine Schule
Und ein kleiner Lehrer für Kalligraphie
Und ein Schüler an einer zerschossenen Tankwand
Lernte schreiben bis zu FRIE…

Da war auch ein Konzert:
An einem lauten Winterbach
Durfte einer die Trommel schlagen
Da wurd er nicht vernommen, ach.

Da war auch eine Liebe.
Sie war zwölf, er war fünfzehn Jahr.
In einem zerschossenen Hofe
Kämmte sie ihm sein Haar.

Die Liebe konnt nicht bestehen
Es kam zu große Kält:
Wie sollen die Bäumchen blühen
Wenn so viel Schnee drauf fällt?

Da war auch ein Krieg
Denn es gab noch eine andre Kinderschar
Und der Krieg ging nur zu Ende
Weil es sinnlos war.

Doch als der Krieg noch raste
Um ein zerschossenes Bahnwärterhaus
Da ging, wie es heißt, der einen Partei
Plötzlich das Essen aus.

Und als die andere Partei das erfuhr
Da schickte sie aus einen Mann
Mit einem Sack Kartoffeln, weil
Man ohne Essen nicht kämpfen kann.

Da war auch ein Gericht
Und brannten zwei Kerzenlichter
Und war ein peinliches Verhör.
Verurteilt wurde der Richter.

Da war auch eine Hilfe
(Hilfe hat nie geschadet)
Eine Dienstmagd hat ihnen gezeigt
Wie man ein Kleines badet

Sie hatte leider nur zwei Stunden
Ihnen beizubringen
Mußte  ihrer Herrschaft
Die Betten nachbringen.

Da war auch ein Begräbnis
Eines Jungen mit samtenem Kragen
Der wurde von zwei Deutschen
Und zwei Polen zu Grabe getragen.

Protestant, Katholik und Nazi war da
Ihn der Erde einzuhändigen
Und zum Schluß sprach ein kleiner Sozialist
Von der Zukunft der Lebendigen

So gab es Glaube und Hoffnung
Nur nicht Fleisch und Brot
Und keiner schelt sie mir, wenn sie was stahln
Der ihnen nicht Essen bot.

Und keiner schelt mir den armen Mann
Der sie nicht zu Tische lud:
Gleich ein halbes Hundert, da handelt es sich
Um Mehl, nicht um Opfermut.

Findet man zwei oder sogar drei
Tut man gern was dafür
Aber wenn es so viele sind
Schließt man seine Tür.

In einem zerschossenen Bauernhof
Haben sie Mehl gefunden.
Eine Elfjährige band sich die Schürze um
Und backte sieben Stunden.

Der Teig war gut gerühret
Das Feuerholz gut gehackt
Das Brot ist nicht aufgegangen
Sie wussten nicht, wie man Brot backt.

Sie zogen vornehmlich nach Süden.
Süden ist, wo die Sonn
Mittags um zwölf Uhr steht
Gradaus davon.

Sie fanden zwar einen Soldaten
Verwundet im Tannengries.
Sie pflegten ihn sieben Tage
Damit er den Weg ihnen wies.

Er sagte ihnen: Nach Bilgoray!
Muß stark gefiebert haben
Und starb ihnen weg am achten Tag.
Sie haben ihn auch begraben.

Und da gab es ja Wegweiser
Wenn auch vom Schnee verweht
Nur zeigten sie nicht mehr die Richtung an
Sondern waren umgedreht.

Das war nicht etwa ein grausamer Spaß
Sondern aus militärischen Gründen
Und als sie suchten Bilgoray
Konnten sie es nicht finden.

Sie standen um ihren Führer
Der sah in die Schneeluft hinein
Und deutete mit der kleinen Hand
Und sagte: es muß dort sein.

Einmal, nachts. sahen sie ein Feuer
Da gingen sie nicht hin.
Einmal rollten drei Tanks vorbei
Da waren Menschen drin.

Einmal kamen sie an eine Stadt
Da machten sie einen Bogen
Bis sie daran vorüber waren
Sind sie nur nachts weitergezogen.

Wo einst das südöstliche Polen war
Bei starkem Schneewehn
Hat man die fünfundfünfzig
Zuletzt gesehn.

Wenn ich die Augen schließe
Seh ich sie wandern
Von einem zerschossenen Bauerngehöft
Zu einem zerschossenen andern.

Über ihnen, in den Wolken oben
Seh ich andre Züge, neue, große!
Mühsam wandernd gegen kalte Winde
Heimatlose, Richtunglose.

Suchend nach dem Land mit Frieden
Ohne Donner, ohne Feuer
Nicht wie das, aus dem sie kommen
Und der Zug wird ungeheuer.

Und er scheint mir durch den Dämmer
Bald schon gar nicht mehr derselbe:
Andere Gesichtlein seh ich
Spanische, französische, gelbe!

In Polen, in jenem Januar
Wurde ein Hund gefangen
Der hatte um seinen mageren Hals
Eine Tafel aus Pappe hangen.

Darauf stand: BITTE  UM HILFE!
WIR WISSEN DEN WEG NICHT MEHR.
WIR SIND FÜNFUNDFÜNFZIG
DER HUND FÜHRT EUCH HER.

WENN IHR NICHT KOMMEN KÖNNT
JAGT IHN WEG!
SCHIESST NICHT AUF IHN
NUR ER WEISS DEN FLECK.

Die Schrift war eine Kinderhand.
Bauern haben sie gelesen.
Seitdem sind eineinhalb Jahre um.
Der Hund ist verhungert gewesen.

b.b.

Freitag, 7. Oktober 2016

REMMIDEMMI = BAMBULE = HALLIGALLI ???

REMMIDEMMI   BAMBULE   HALLIGALLI 

Geschäftigkeit, Chaos, Lärm, Trubel, Party

Verwendung der Wörter mit freundlicher Genehmigung durch Thomas Wiesenberg.

Der Inbegriff von Bambule bleibt für mich der gewöhnliche Kindergeburtstag, vor Erfindung der organisierten Bespaßung. Eine Feier ohne sorgfältig designte Einladungen, ohne Clownsauftritte, ohne eine Liste ernährungspolitisch korrekter Verbote, mit wenig Planung und nichts als der Vorahnung von herrlichem, beängstigendem, weil unbeherrschbarem Chaos.

Dazu braucht es: Sechs bis zehn Kinder, Torte & Kekse & Würstchen & Kakao (unbedingt ganz ungesund, voll mit Gluten, Laktose, Zucker, Allergenen - ih baba), Eltern in der Rolle von Kellnern und Erste-Hilfe-Personal, Möbel von denen herunterspringen werden kann, ein alter Topf mit Kochlöffel fürs Topfschlagen, die Gewinne dürfen drei Bonbons nicht übersteigen. Eine Steigerungsmöglichkeit wäre das Kinderzimmer mit ausgeschaltetem Licht, Dunkelheit als Quelle der Angt und der Lust, und der Hummelflug von Rimski-Korsakow erschallt, viel zu laut, als Untermalung zum Gespensterspielen. Der Spaß am Lärm um des Lärmens willen.
Nur minderjährige Kinder können diese quietschenden, kreischenden, schrillende Töne erzeugen, erwachsend aus reiner Lebensfreude, sehr viel Zucker, noch ziellos produzierten Hormonen und verschiedensten Kleinverletzungen, die ein wahrhaftes Bambule definieren. Mit einer Ausnahme: angetrunkene Frauen bei Stripshows. 
Das Halligalli klingt mir mehr nach Faschingsparty, schließt Alkohol, mittelalte tanzende Männer/Frauen, Kostümierung und lustige Ansprachen ein. Und ein Remmidemmi? Laut ist es auch. Aber die Stimmlage ist unkindlich tiefer, die Luft dicker, die Körper hitziger. 

Es gäbe auch noch Radau. Reiner Lärm mit einem Anteil von Gewalt. Und was ist ein Gaudi? Nur ein harmloser Spaß?

Merkwürdig wie Klang von Wörtern, eine Definition in meinem Hirn hervorruft, die durch nichts, als das mir eigene Laut-Gefühl, untermauerbar ist.
    
    
WIKIS ERKLÄRUNGEN IN AUSZÜGEN

Remmidemmi oder Remmi Demmi - Das Wort gilt als vor dem oder im 20. Jahrhundert entstanden. Seine Etymologie ist nicht geklärt. Vermutlich ist es eine Weiterentwicklung der lautmalerischen Bezeichnung Rammerdammer für den Steinmetz und Pflasterarbeiter. Die weitere Entwicklung zu Remmidemmi geschah dann wahrscheinlich unter dem Einfluss des in Norddeutschland verbreiteten Verbs rementen, 
ramenten, ramentern für „Unruhe verbreiten, lärmen, toben". Als semantisch verwandt oder auch in der Entstehung verwandt gilt außerdem das österreichisch-bairische Remisuri, Remasuri, Ramasuri „Ausgelassenheit der Kinder bei Abwesenheit der Eltern"...
Bambule ist ein Begriff aus der deutschen Gaunersprache, der das Trommeln mit allen möglichen Gegenständen innerhalb und außerhalb von Gefängniszellen als eine von Gefangenen praktizierte Form des Protestes bezeichnet. Das Wort leitet sich von dem ursprünglich wohl afrikanischen Trommeltanz Bamboule (auch Bamboula) ab, der heute noch z. B. in Louisiana und auf Guadeloupe bekannt ist.
Über die auch von Jugendlichen in Erziehungsheimen (vor der Änderung des Jugendhilferechts in den 1970er Jahren) praktizierte Form des Protestes, Lärm mit allen zur Verfügung stehenden Gegenständen zu machen, bekam Bambule im Deutschen die Bedeutung Krawall. 1970 produzierte Ulrike Meinhof den Fernsehfilm Bambule...

Hully Gully (oder eingedeutscht "Halligalli") ist ein Wort aus dem englischen Sprachbereich. Es ist eine Verstärkungsform wie etwa bei uns holterdipolter oder drunter und drüber. Ursprünglich soll es von einem traditionellen Spiel mit Nüssen oder Murmeln kommen...

Radau für Lärm stammt aus der Berlinischen Umgangssprache des späten 19. Jahrhunderts ab ca. 1890 in die Schriftsprache eindringend. Das Wort ist höchwahrscheinlich lautnachahmenden Ursprungs.

Dienstag, 4. Oktober 2016

Mein Lieblingsregisseur war ein bisschen faul - Kruso in Leipzig

Armin Petras wird 1964 in Meschede im Sauerland geboren. 1969 siedeln seine Eltern mit ihm in die DDR über. Er wächst in Ostberlin auf, wo er von 1985 bis 1987 ein Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin absolviert. 1988 geht Petras nach West-Berlin. (Wiki) 


1976 eine Schulfreundin stellt mir einen zarten, blassen Jungen, einen Schulfreund ihres kleinen Bruders, vor. Seine Eltern sind mit ihm 1969 aus dem bunten Westen in den grauen Osten ausgewandert. Mysteriös. Jahre später wird der kleine Bruder in Süd-Amerika mit Hilfe riesiger Teleskope weitentfernte Galaxien erforschen, und der schon weit weniger blasse Armin schuftet sich durch die provinzielle theatralische DDR.
1992 - "Das Käthchen von Heilbronn" in Frankfurt/Oder - ein Freund und ich lachen einsam, und verlieben uns zeitgleich in einen jungen wilden Regisseur. Rahel Ohm als Kunigunde frißt Nüsse, als hinge alles Glück der Welt daran, gleichzeitig verzweifelt ihr Diätversagen beklagend.

1996 - Wolfgang Engel startet seine Leipziger Intendanz mit Konstanze Lauterbach, Armin Petras & mir.
2000 - "Hamlet" in Kassel, wiederum Rahel Ohm, Ophelia, die einzige der jungen Figuren, die nirgendwo hinfährt, immer in Helsingör bleiben soll, träumt vom Saxophonstudium in Wittenberg, von der Liebe als Ausbruchshilfe und vergeht schlußendlich an den Ambitionen ihrer Mitspieler.
In Armins "Minna von Barnhelm" drucken drei Generationen entlassener, überflüssig gewordener NVA Offiziere in hysterischer Eile auf Gelddruckpressen das wertvolle NEUE Geld. Nach der Pause sitzen wir, eine nunmehr merkbar kleinere, aber dadurch nur leidenschaftlicher verschworene Gemeinschaft und beschauen beglückt Armins anarchistische Sicht auf postsozialistische Verlorenheit & Panik. Das hat ihn interessiert. Minna und Tellheim blieben ein vernachlässigter Nebenschauplatz.
Etwas später: "Nach dem Regen" - in Windelhosen und Lederjacken zeigen Leipziger Halbstarke (ein nahezu archaisches Wort) mit "sozialen Kommunikationsproblemen" ihre kindliche, unschuldige Verletzlichkeit, die in ihre heutige Brutalität mündet.
"Rummelplatz", "Früchte des Zorns", "Fight City. Vineta", "zeit zu lieben zeit zu sterben" - Frankfurt/Oder, Nordhausen, Kassel, das Maxim-Gorki-Theater und Stuttgart. 

Habe ich schon erwähnt, dass ich sein Fan bin?

Am Samstag in Leipzig Premiere von "Kruso" nach dem Roman von Lutz Seiler in einer Bearbeitung von Petras & Ludwig Haugk. Vorangestellt sei, dass ich den Roman nicht gelesen habe. 
Dreieinhalb Stunden ohne Langeweile, das ist gut. 
Anja Schneider (Kruso) und Bernd Stübner (Chef des Klausners) sind stark und eigenartig, tolle Handwerker und leidenschaftliche Spieler ihrer Figuren. Stübners "Lob des Kommunismus" in Angst den eine Strandparty unterbrechenden Grenzern entgegengerufen, kam gänzlich überraschend und erwischte mich irgendwo zwischen Kichern, Wut und unbequemer Sentimentalität. Ich konnte das verflixte Gedicht auswendig mitsprechen! Und Anja Schneiders sich kunstvoll verheddernde Brandrede, wenn Kruso die kleine, die wärmende, die innere Freiheit - ihren Sieg über zutiefst menschenunfreundliche Verhältnisse - bedroht sieht durch die kommende "große" Freiheit nach dem Untergang der DDR, haute gerade und zielsicher in mein Hirn. 
((Das Ende der DDR - viele kleine Leute (wer ist schon groß) mit hart erarbeiteten kleinen Freiräumen, in denen sie sich Platz schaffen für ihre Träume, ihre Glückshoffnungen, stehen plötzlich im Offenen, ohne Deckung und das schließt kräftige Winde mit ein. Die Möglichkeiten sind nun vielfältig, aber man muß unentwegt auswählen, entscheiden, stark sein. Sichere, mittlere Sicherheit ist nicht mehr gegeben. Vielleicht sehnt sich mancher deshalb nach der zwar stickigen & schlechtriechenden, aber wenigstens bekannten Enge zurück. Und da will man halt auch nicht noch Fremdes von außen mitertragen müssen.)) 

Der gefeierte Theaterabend hatte aber auch einigen peinlichen Illustrationstanz durch engagierte Schauspielstudenten, Requisitengefälligkeiten der öden Art und, bei tiefem Verständnis für die Lebenslügen, mit denen wir uns alle durch die DDR gehangelt haben, schien mir die Verharmlosung der Staatsgewalt, und sie war gewalttätig, feig und unentschlossen. 
Olaf Altmann schuf das Bühnenbild aus hunderten senkrecht gespannten Drahtseilen. Es bedeutete. Nur gelegentlich spielte es. Zum Beispiel, wenn ein Petticoat durch es lief, oder ein Betrunkener sich in ihm verhakelte. 

Ich nehme Armin fast nichts übel, weil er immer mit mir spricht, mir Denkvorschläge macht, aber ich hoffe, dass er nicht gemütlich wird. Viel Bewegung und Opulenz sind nicht abendfüllend.

Fritz Kortner sah vor 1933 im Deutschen Theater Moissi als Shylock, der sich intensiv durch den Abend sang. Kortners Kommentar: "Jud allein, ist nicht abendfüllend.

http://www.sueddeutsche.de/kultur/theater-katerstimmung-1.3046086


Montag, 3. Oktober 2016

Nicolas Born - ein noch nie gehörter Name


Ich gebe zu, daß ich schöne Gedichte schreiben wollte, und einige sind zu meiner größten Überraschung schön geworden.

Mein zufälliger, nachlässiger Blick auf den Küchentisch eines Freundes, auf dem eine Hör-CD mit dem Photo eines schönen jungen Mannes auf dem Cover liegt. Dieser Mann starb mit nur 41 Jahren an Krebs. 

Müssen wir diesen Tod nicht besonders hassen, ganz egoistisch, weil er uns um einen Teil unseres eigenen Wesens gebracht hat, das, in uns nur latent, sich in ihm verwirklicht hatte?  
Günther Kunert


In den wenigen Jahren vor diesem Tod schrieb Nicolas Born Gedichte und Romane. Seine Tochter hat sie posthum veröffentlicht. 

 
Selbstbildnis

Oft für kompakt gehalten
für eine runde Sache
die geläufig zu leben versteht-
doch einsam frühstücke ich
nach Träumen
in denen nichts geschieht.
Ich mein Ärgernis
mit Haarausfall und wunden Füßen
einssechsundachtzig und Beamtensohn
bin mir unabkömmlich
unveräußerlich kenne ich
meinen Wert eine Spur zu genau
und mach Liebe wie Gedichte nebenbei.
Mein Gesicht verkommen
vorteilhaft im Schummerlicht
und bei ersten Gesprächen.
Ich Zigarettenraucher halb schon Asche
Kaffeetrinker mit den älteren Damen
die mir halfen
wegen meiner sympathischen Fresse und
die Rücksichtslosigkeit mit der
ich höflich bin.


aus: Gedichte, 2004, Wallstein-Verlag, hrsg. von Katharina Born

Eine Liebe

In Köln-Knapsack küßte ich eine Frau
unter einer Brücke 1963.
Wie ihr Gesicht war
so mag ich Gesichter.
Dann hieß sie Heidelinde
das sagte sie.
Ich möchte wissen
wie sie mich dabei ansah.
Draußen war es zu kalt.
Wir verabredeten uns auf einen Zufall.
So bald komme ich nicht mehr nach
Köln-Knapsack.


IM INNERN DER GEDICHTE


Du kannst nicht davon leben
mit der Wirklichkeit zu konkurrieren
noch kannst du von der Wirklichkeit leben
aber du kannst einen Eingriff überleben
und alles zurück kriegen
und durch Das Leben gehen
durch schnell verfallende Bilder
das warst du
du und Das Werdende Leben
Personen keuchend unter ihren Grabsteinen
Mit einer ungeheuren Anstrengung
von dir und allen Vorfahren
blendest du dich aus
Land und Wasser sind geblieben
der Himmel ist geblieben
und du bist geblieben
du hast dich auf nichts einzurichten
kleine Sonnen erleuchten deine Demokratie Und
du wählst das Leben und den Tod
du hast viele Schöne Stimmen
du bist Viele
deine Haut ist deine Haut Und endlich
nichts als Haut
du bist der Unternehmer des Lebens
der Veranstalter weißer Erscheinungen
du bist der RaumMensch im Freien
der Autor des Laufs der Geschichte
du bist imstande Zeit zu drucken wie Bücher
du wiegst und siebst und liebst

Und im Wind
wehen die Ruinen der Diktatmaschinen
die Unvernunft steht in voller Blüte
du bist die Blüte und die Unvernunft
du bist Tag und Nacht bei Tag und Nacht
du bist der Mörder
kreisend in der eigenen Blutbahn
du bist Vater und Sohn
du bist der ausgeschlachtete Indianer
und der registrierte Indianer
du bist alle Farben und Rassen
du bist die Witwen und Waisen
du bist die Rebellion der Gefangenen
du bist Geheul ohne Aufenthalt
Messerwürfe Schüsse
du bist der phantastische Sportler der TraumMeilen
der Bildersturm im Haupt der Demokratie
du bist der Sprengmeister aller Ketten
du bist die geheim leuchtende Parole
die Banderole
die Avantgarde der FreiKüchen
du bist Mensch Und
Tier wenn es den Tod fühlt
du bist allein und du bist Alle
du bist dein Tod und du bist der Große Wunsch
du bist der Plan den du ausbreitest Und
du bist dein Tod