Kommen wir zur verrückten Tante und ihrer Familie. Ich vermute, dass ich in 30 Jahren Theater, ich habe die Neuberin noch geduzt, vielleicht 30 Theaterensembles kennengelernt habe und es scheint mir, als hätten sie alle im Kern eine nicht unähnliche Konfiguration.
Zuerst die Frischlinge, die Schule noch unausgeschwitzt, intensiv, enthusiasmiert und berückend ahnungslos, stolpern sie in die Untiefen des deutschen Stadttheateralltags. Die Jungs haben auffällig oft fehlende Hemdknöpfe und kaputte Schuhe, die Mädchen einen ganz individuellen Kleidungsstil und klare Haut. Ihre Erwartungen sind beglückend / erschreckend hoch. Kurz vor dem Gagentag gibt es Spaghetti mit Tomatensauce ohne Parmesan, sie initiieren verrückte Nachtprogramme, ernsthafte Ensembleversammlungen und die Musik zu Premierenfeiern, bei denen sie länger tanzen und trinken als die Alten, mit einer Ausnahme, zu der ich später komme. Die Beziehung aus der Schauspielschule ist jetzt 800 Kilometer entfernt engagiert und löst sich meist bald, ersetzt durch einen der Counterparts im Ensemble. Im November, Dezember des ersten Jahres sieht man sie mit müden Augen morgens um 8 Uhr zur vierzigsten Weihnachtsmärchenvorstellung wanken, Kindersoldaten für die gute Sache. Diese ersten 24 Monate prägen sehr, der Sprung vom behüteten Studium einer Szene in die Qualitätsschwankungen des Theateralltags kann zu harten Aufschlägen führen, manche verschwinden danach für immer im Meer der hoffnungsvollen Freischaffenden. Sie zu behüten, zu hegen sollte die vornehmste Aufgabe der Gruppe sein, denn wie hat Cat Stevens schon gesagt: "The first scar is the deepest."
Der Ensemble-Casanova, schwingt um die Vierzig, ist oft ein guter Spieler, lebt entweder auffällig junggesellig in spartanischer Einzimmerwohnung oder hat eine Ehefrau, die niemals im Theater auftaucht, im schlimmsten Fall ist sie die Erste Charakterspielerin und Mutter seiner Kinder. Er ist der, der die Premierenfeiern bis zum letzten ausreizt immer auf der Spur der nächste Eroberung. Während die Beziehung läuft, ist der Casanova ungewöhnlich wagemutig in der Arbeit, witzig, jugendlich und energiegeladen. Aus irgendeinem Grund nehmen beide Beteiligten an, dass niemand etwas bemerkt, trotz der innigen Blicke, der verhauchten Stimmen und der unglaublich geheimen Berührungen. Proben können sehr anstrengend sein, wenn sie in den Zeitraum der Beendigung eines solchen Verhältnisses fallen. Tapfer verweinte Augen auf der einen Seite oder tragischer Blick auf der anderen. Wenn die nächsten Absolventen kommen, beginnt die neue Jagdsaison.
Hey, ich war dabei, ich muss es wissen.
Fortsetzung folgt.
Noch ein Filmtipp:
Freaks - Regie: Tod Browning 1932 |
Dieser Film ist noch heute in einigen US Bundesstaaten auf dem Index, trotzdem oder deshalb möchte ich ihn euch ans Herz legen. Er ist schwer zu ertragen und doch zauberhaft und erschütternd und kann durchaus als Allegorie auf die menschliche Gesellschaft im allgemeinen gesehen werden.
„Ein verstörendes, faszinierendes Meisterwerk. Ein humaner, zärtlicher Horrorfilm. “ Kölner Stadtanzeiger