Sonntag, 27. März 2011

Wenn ein Theater schließt und keiner es hört...


Wenn im Wald ein Baum umfällt, und keiner ist da um das zu hören, gibt es dann ein Geräusch?
Gestern in Rostock: "Effie Briest" inszeniert von Matthias Brenner mit Lisa Flachmeyer, Tim Ehlert, Ulrich K. Müller, Petra Gorr, Undine Cornelius, Jakob Kraze, Paul Walther, Dirk Donat, Laura Bleimund, Peer Roggendorf, Caroline Erdmann, Jörg Schulze, Michael Ruchter, Jessica Reinicke, Jewgeni Potschekujew und den Mitarbeitern aller Gewerke des Volkstheaters Rostock.
Premiere. Der Saal war leer. Kein einziger Zuschauer war anwesend. Keine Karte war verkauft worden.
Brandschutzprobleme waren seit Jahren bekannt, geforderte Nachbesserungen wurden aus dem Etat des Theaters durchgeführt, für ein weiteres Gutachten brauchte es über ein Jahr, zuletzt wurde noch eine Wand mit Brandschutztür mitten ins Foyer gebaut, in einer morgendlichen Probe erhielten die Spieler via Privat-Telefon aus Berlin (!) Nachricht von der Schließung ihres Hauses.
Niemand hat vorher von den baupolizeilichen Problemen gewusst? Das war eine ganz plötzliche Entdeckung? Man konnte vor der Katastrophe keine Vorbereitungen für einen Notfallplan treffen? Und jetzt, nach der Entscheidung, soll es bitte keine unsachlichen Diskussionen geben?
„Es geht nicht darum zu bremsen, aber auch nicht darum, irgendeine schnelle Entscheidung durch die Gremien zu ´peitschen`.“ Originalton des Bürgermeisters.
Das Haus ist seit dem 22. Februar 2011 für den Publikumsverkehr geschlossen.
Bisher gibt es einige sehr behelfsmäßige Notspielstätten, Es ist nicht bekannt, wann und ob es zu einer Wiedereröffnung des alten Hauses kommt, oder wo die Produktionen (Tanztheater, Oper, Konzerte, Schauspiel) in der Zwischenzeit oder bis zur Eröffnung des magischen Neubaus (von dem seit ungefähr 25 Jahren die Rede ist) zur Aufführung kommen könnten. Der früheste Termin für die Wiedereröffnung bei einer Investition von circa 3 Millionen wäre März 2012. Ein Neubau könnte frühestens 2016 realer 2017 fertig werden.
Das Theater Stuttgart hat die Sanierungsschließung seines Grossen Hauses in Zusammenarbeit mit der Stadt gründlich vorbereitet und spielt jetzt in einer tollen Übergangslösung vor vollen Zuschauerreihen. Andere Beispiele lassen sich finden.
Für eine Protest-Vorstellung des "Münchhausen" musste das Volkstheater 1000 Euro Miete an die Stadt für drei Stunden Aufenthalt im Rathaus der Stadt Rostock bezahlen.
Der jetzige Intendant ist der 10. seit der Wende. Soweit mir bekannt, hat es fast keiner der 9 Vorgänger bis zum regulären Ende seiner Amtszeit geschafft. Ein Großteil hat die Stadt nach vorfristiger Vertragsaufkündigung mit Abfindung verlassen müssen oder dürfen.

DIE VERANTWORTLICHEN:
Bürgermeister der Stadt Rostock:
Roland Methling
Intendant und Kaufmännischer Geschäftsführer:
Peter Leonhard
Aufsichtsrat:
Dr. Liane Melzer
Dr. Ingrid Bacher
Sandra Benzmann
Sabine Friesecke
Dr. Christel-Katja Fuchs
Eva-Maria Kröger
Heide Mundo
Dr. Anne-Kathrin Riethling
Susanne Schulz

Noch besitzt Deutschland ein Stadttheatersystem.
Und Geldmangel ist sicher nur eines seiner Probleme. Auch eines ist, auf welche Art sich Theater in einer Welt der Digitalisierung, Schnittverschnellerung, Zeitraffung in den sozialen Umbruch unserer Gesellschaft einmischen kann. Wie es Schau - Spiel bleiben kann, in dem Sinne, dass es erkennbare Vorgänge spielerisch durchforstet und sie zum Anschauen anbietet, damit wir uns wiedererkennen mögen in unserer Verzweiflung, unserer Komik und unserem Geheimnis. Diese Fragen, bedürfen jeden Tag neuer Antworten und manche dieser Antworten wollen wir nicht hören und unterhalten uns lieber untereinander in altbekannter Weise weiter, versichern uns gegenseitig unserer Sensibilität und Modernität und lassen die, die wir "bespielen" enttäuscht und ununterhalten zurück.
Aber es gibt auch die Politik! Und die will, zu großen Teilen, Kunst nicht finanzieren. Warum auch? Kunst? Die Schulen müssen bezahlt werde, die Krankenhäuser, die nationale Verteidigung, die Diäten, die Subventionen für die Industrie. Sparen tut not und Geiz ist geil, besonders wenn es etwas betrifft, was man eh nur unter Kinderkram einsortieren sollte. Altes Zeugs, archaischer Müll. Weg damit. Schaut nach Amerika! Da geht es doch auch ohne Subventionen. Und die Engländer arbeiten an einem ähnlichen Plan.
Politiker in Rostock gehen nicht ins Theater. Am gestrigen Abend, einem wichtigen und bedrückenden in der Geschichte des Rostocker Theaters war, wie schon so oft, kein Vertreter der Stadt anwesend. Der Anstand verlangt doch zumindest die Anwesenheit beim Begräbnis eines ungeliebten Kindes, oder?
§ 223 des Strafgesetzbuches sagt über den Tatbestand der Körperverletzung: Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Ich sage, wer ihm anvertraute Institutionen, auch kulturelle, misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, soll bestraft werden.
Aber zurück zum gestrigen Abend: Die Premiere wurde via Livestream übers Internet angeboten. Etwa 4000 Menschen sollen geschaut haben, toll, ABER mit Ausnahme von zwei, drei Clubs, die gemeisam Video guckten: es wurde nirgends hin gegangen, um gemeinsam mit anderen zu schauen, niemand konnte den Schweiß riechen, der vergossen wurde, kein Lacher veränderte den Lauf einer Szene, kein Atem nahm Einfluss auf das Tempo. Entsolidarisierung. Entfremdung. Am Ende verbeugten sich die Spieler vor dem leeren Saal und aus einem iPhone hörte man leise den Applaus der Zuschauer, die die "Vorstellung" in einem Musikclub verfolgt hatten.

Gestern haben viele geweint, ich nicht, mir war schlecht.

Samstag, 26. März 2011

Krankenzimmer Nummer 6 am DT

Dimiter Gottscheff, 7 Schauspieler, eine Tuba mit Musiker und zahllose Scheinwerfer sinnieren über Tschechow.
Eine kleine traurige Erzählung aufgebläht durch eine Auswahl von best of Tschechow Monologen.
Margit Bendokat, Wolfram Koch so toll wie immer, aber wozu?
Ich habe "Die Perser" vom selben Regisseur mit nahezu derselben Besetzung aufgesaugt, jeder Satz geformt und gedacht, zu gross, zu viel und grandios. Hier und heute: Atmosphärisches Stimmungsgewaber.
Wenn die Scheinwerferbatterien zu Beginn abwärts fahren und die Spieler beinah erdrücken, ist das eindrucksvoll, und auch die ersten Male, wenn so ein Riesenscheiner elektronisch gesteuert auf die neue Position eines Spielers fährt, aber nach 10 Minuten wird es öde und nach 20 fand ich mich auf der Suche nach anderweitiger Unterhaltung. Zuschauer angucken ist auch Theater erleben.
War selten so maulfaul nach einem Theaterbesuch und nicht aus Beeindruckung.
Angestrengt.


Das ist Wolfram Koch, wahrscheinlich als Tasso? Lorbeerkranz könnte darauf hinweisen.

Freitag, 25. März 2011

Theater hat einen Dramaturgen


DER DRAMATURG

Das Wort Dramaturg kombiniert die griechischen Begriffe Drama und Ourgos, in etwa "Schauspiel-Arbeiter". Aber das sind wir, die am Theater arbeiten irgendwie, alle. Was also ist seine Besonderheit? 

Im Voraus, der Dramaturg ist oft arm dran, sitzt unbequem zwischen drei, vier und mehr Stühlen, die im Theater auch noch Klappsitze sind und wird nur selten gelobt. Wenn es ein Erfolg wird, ist es nicht wirklich seiner, floppt es, hätte er besser aufpassen müssen. Schauspieler misstrauen ihm, weil er kein Praktiker ist, Regisseure hören nur scheinbar zu und machen dann, was sie wollen.

Amerikaner, Engländer und die meisten anderen Völker haben keinen Dramaturgen, wir Deutschen haben ihn erfunden. Herr Lessing und Frau Neuberin haben den Hans rausgeworfen und durch den Dramaturgen ersetzt. (Leicht vereinfacht.)

Ich möchte mich hier dem praktischen Nutzwert des Dramaturgen zuwenden und der kann, je nach Besetzung, beachtlich sein oder so fragwürdig, wie nur vorstellbar. 

Der während der Probe das Stück mitlesende Dramaturg: Schauspieler anzugucken, macht ihn nervös. Buchstaben sind konstant. Konzepte sind eisern einzuhalten. Wenn da nur nicht dieser wackelige unzuverlässige menschliche Faktor wäre. Schauspieler sind ihm zu dumm, lesen die falschen Bücher, wenn sie überhaupt lesen, und auch Regisseure verlieren sich manchmal, unverständlicherweise, in die Schönheit des Probenmoments und werfen durchdachte Pläne über Bord. Das Ziel ist alles, der Weg ist nichts! Sein Unwohlsein entströmt ihm in dicklichen Wellen, und kann die sowieso schlechtriechende Luft einer Probebühne, vollends in Gestank verwandeln. Er ist ein bisschen wie der Witz vom Pathologen. Der Chirurg kann alles und weiß nix. Der Internist weiß alles und kann nix. Der Dramaturg Pathologe weiß alles, kann alles und ist immer zu spät. Hin und wieder steigert er sich so sehr in seine durch ständige Enttäuschung wachsende Verzweiflung hinein, dass er selbst inszenieren will. In solchen Produktionen habe ich zweimal mitgespielt, und sie sind der einzige Grund, der Altersdemenz freudig entgegenzusehen. 

Der Dramaturg, der nie da ist: 
Kommt häufig vor. Was so ein kleines Programmheft an Schreibtischarbeit, Bibliotheksbesuchen und anderen Abwesenheitsbegründungen bedeutet, kann der durchschnittliche Theatermacher gar nicht einschätzen. Probenbesuche sind lästig. Die leisen Probenschnarchgeräusche dieser Gattung sind, aus dem dunklen Zuschauerraum auf die Bühne dringend, wie eine leise Beruhigungsmelodie. Bei Probenschluss pünktlich wach geworden, ermahnt er einen auf die Verständlichkeit der Schauspieler zu achten und entschwindet für die nächsten zwei Wochen gen Schreibtisch.

Der Dramaturg ohne Meinung: 
Sein Lieblingsgeräusch ist:"Hmmm." Seine Haltung zum Projekt entscheidet sich entweder mit den Reaktionen des Intendanten oder der Kritiker. Wie auch immer es ausgeht, er hat es immer schon gewusst. Wenn Buchrücken so weich wären, wie sein Rückgrat, wäre Lesen ein Jonglierakt.

Der Theaterwissenschaftler, der durch die Ungunst des Schicksals zum Dramaturgen wurde:
Man könnte ihn auch den theaterwissenschaftlichen Polizisten nennen. 
Ein Dialog während einer "Amphytrion" Probe (Heinrich von Kleist Version):
1. Akt Szene 4: Jupiter und Alkmene, sie über seiner Schulter hängend, betreten erschöpft die Szene.
Dramaturg: 
Aber Alkmene ist doch der Inbegriff von Reinheit und Treue und sich selbst gewisser Liebe, wie kann sie dann so wild und sexuell daherkommen?
Regisseur: 
Weil sie gerade siebzehn Stunden Sex hatte?
Dramaturg: 
Aber sie sagt doch "...da ich zwei kurze Stunden dich besaß."
Regisseur:
Und Merkur sagt eine Szene später: "Die gute Göttin Kupplerin (die Sonne) verweilte / Uns siebzehn Stunden über Theben heut;" Vielleicht verging ihr die Zeit wie im Fluge, weil es so gut war?
Dramaturg:
Vorwurfsvoller Blick.
Der Text ist für ihn ein Heiligtum, aber, und das verblüfft mich immer wieder, er wird gelesen, als würden Menschen nicht sich und andere belügen, als wäre die Situation in der etwas gesagt wird ohne Einfluss, als würden wir alle immer sagen, was wir denken oder fühlen. 
Hatte mal einen riesigen Krach mit einem D., weil er darauf bestand, dass Karl Mohr, der "gute" Bruder in den Räubern sei, und als ich ihm vorrechnete, dass keine der unzähligen Leichen des Abends durch Franz zu Tode kam, hielt er mir einen unendlichen Vortrag über Idealismus und jugendliches Aufbegehren, streifte kurz RAF und 68, und ließ sich von den Fakten nicht im Geringsten beeindrucken.
Haltungssinn geht über Textsinn, hat mein Vater immer gesagt und Recht hat er!

Der andere Dramaturg:
Hier mein Geständnis: Einige meiner besten Freunde sind Dramaturgen.
Es begann mit Ilse Galfert, einer zarten, zähen Dame am Deutschen Theater, die mir unendlich viel beigebracht hat und Szenen so beschreiben konnte, das man auf der nächsten Probe viel schlauer war. Sie sprach über Theater, wie über einen herrlichen, aber launischen Liebhaber, der sich, unachtsam behandelt, in einen rachsüchtigen Miesepeter verwandeln konnte. In Folge einer verpfuschten Stimmbandoperation war ihre Stimme sehr leis und hoch, aber Klugheit und Humor ersetzten die fehlenden Basstöne. 
Annette Reber, meine beste Freundin, Co-Regisseurin, Gehirnhälfte. Das sie mit 42 sterben musste, ist Grund genug, nicht an Gott zu glauben.
Öhme, Walch, van Dyk, Scharffenberg und und und. Die "anderen" Dramaturgen, die brennen, sich durch Texte wühlen, die ich nie finden und manchmal nicht verstehen würde, die Geduld haben, streng seien können und in einem Nebensatz den Drehpunkt einer Szene beschreiben, nach dem man probenlang vergeblich gesucht hat. Die, die um ihr Talent wissen. Die beschreiben können, zum richtigen Zeitpunkt, die richtigen Fragen stellen und die sich für unsere "harsh mistress" die Seele aus dem Leib denken.



Donnerstag, 24. März 2011

Themen - Ideen - Interessen - Blödsinn

Ich hatte heute ein ganz wunderbares Gespräch mit einer Freundin. So ein richtiges mit vielen Themenwechseln und ernst/albern/sachlich Themen. Schön!
Und sie hat mir zwei Themen für den Blog vorgeschlagen.
Und da dachte ich mir, vielleicht haben andere auch Vorschläge? Wenn ja, kurzer 
Kommentar?
Würde mich freuen!
Apropos freuen: ES IST DEFINITIV FRÜHLING!!!!!!!! Man habe ich das gebraucht. Endlich nicht frieren. Egal wie warm ich angezogen bin, ab Februar friere ich, oder vielleicht zittere ich vor Ungeduld, dass es FRÜHLING werde?

Gedanken über der Zeit - Paul Fleming

Barockgedichte haben meist so eine lüsterne Morbidität, dieses eher nicht, eher ein Wort- und Gedankenpuzzle. Erstaunlich klar und modern.

Gedanken über der Zeit
 
Ihr lebet in der Zeit und kennt doch keine Zeit;
so wißt, ihr Menschen, nicht von und in was ihr seid.
Diß wißt ihr, daß ihr seid in einer Zeit geboren
und daß ihr werdet auch in einer Zeit verloren.
Was aber war die Zeit, die euch in sich gebracht?
Und was wird diese sein, die euch zu nichts mehr macht?
Die Zeit ist was und nichts, der Mensch in gleichem Falle,
doch was dasselbe was und nichts sei, zweifeln alle.
Die Zeit, die stirbt in sich und zeugt sich auch aus sich.
Diß kömmt aus mir und dir, von dem du bist und ich.
Der Mensch ist in der Zeit; sie ist in ihm ingleichen,
doch aber muß der Mensch, wenn sie noch bleibet, weichen.
Die Zeit ist, was ihr seid, und ihr seid, was die Zeit,
nur daß ihr wenger noch, als was die Zeit ist, seid.
Ach daß doch jene Zeit, die ohne Zeit ist, käme
und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme,
und aus uns selbsten uns, daß wir gleich könten sein,
wie der itzt jener Zeit, die keine Zeit geht ein!

Paul Fleming 1609-1640

Hübsch war er nicht! Seine Liebste hat einen anderen geheiratet, da hat er sich mit deren Schwester vermählt. Und noch eins:

An sich

Sei dennoch unverzagt! Gib dennoch unverloren!

Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,
Vergnüge dich an dir, und acht es für kein Leid,
Hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.

Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren,

Nimm dein Verhängnis an, lass alles unbereut.
Tu, was getan sein muss, und eh man dirs gebeut.
Was du noch hoffen kannst das wird noch stets geboren.

Was klagt, was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke

Ist sich ein jeder selbst. Schau alle Sachen an:
Dies alles ist in dir. Lass deinen eitlen Wahn,

Und eh du fürder gehst, so geh in dich zurücke.

Wer sein selbst Meister ist, und sich beherrschen kann,
Dem ist die weite Welt und alles untertan.

Mittwoch, 23. März 2011

Der Knabe mit der roten Weste - Paul Cezanne

Ein Kritiker bemängelte, der Arm des Jungen sei doch viel zu lang, woraufhin der Berliner Maler Max Liebermann lakonisch antwortete, dass ein so schön gemalter Arm gar nicht lang genug sein könne.

Dienstag, 22. März 2011

Das Sklavenschiff - Heinrich Heine

Das Sklavenschiff
Heinrich Heine (1797-1856)

I
Der Superkargo Mynheer van Koek

Sitzt rechnend in seiner Kajüte;

Er kalkuliert der Ladung Betrag

Und die probabeln Profite.

»Der Gummi ist gut, der Pfeffer ist gut,

Dreihundert Säcke und Fässer;

Ich habe Goldstaub und Elfenbein
-
 Die schwarze Ware ist besser.

Sechshundert Neger tauschte ich ein

Spottwohlfeil am Senegalflusse.

Das Fleisch ist hart, die Sehnen sind stramm,

Wie Eisen vom besten Gusse.

Ich hab zum Tausche Branntewein,
Glasperlen und Stahlzeug gegeben;

Gewinne daran achthundert Prozent,

Bleibt mir die Hälfte am Leben.

Bleiben mir Neger dreihundert nur

Im Hafen von Rio-Janeiro,

Zahlt dort mir hundert Dukaten per Stück

Das Haus Gonzales Perreiro.«

Da plötzlich wird Mynheer van Koek

Aus seinen Gedanken gerissen;

Der Schiffschirurgius tritt herein,

Der Doktor van der Smissen.

Das ist eine klapperdürre Figur,

Die Nase voll roter Warzen
-
»Nun, Wasserfeldscherer«, ruft van Koek,

»Wie geht's meinen lieben Schwarzen?«

Der Doktor dankt der Nachfrage und spricht:

»Ich bin zu melden gekommen,

Daß heute nacht die Sterblichkeit

Bedeutend zugenommen.

Im Durchschnitt starben täglich zwei,

Doch heute starben sieben,

Vier Männer, drei Frauen - Ich hab den Verlust

Sogleich in die Kladde geschrieben.

Ich inspizierte die Leichen genau;

Denn diese Schelme stellen

Sich manchmal tot, damit man sie
Hinabwirft in die Wellen.

Ich nahm den Toten die Eisen ab;

Und wie ich gewöhnlich tue,

Ich ließ die Leichen werfen ins Meer

Des Morgens in der Fruhe.

Es schossen alsbald hervor aus der Flut

Haifische, ganze Heere,

Sie lieben so sehr das Negerfleisch;
Das sind meine Pensionäre.

Sie folgten unseres Schiffes Spur,

Seit wir verlassen die Küste;

Die Bestien wittern den Leichengeruch

Mit schnupperndem Fraßgelüste.

Es ist possierlich anzusehn,

Wie sie nach den Toten schnappen!
Die faßt den Kopf, die faßt das Bein,

Die andern schlucken die Lappen.

Ist alles verschlungen, dann tummeln sie sich

Vergnügt um des Schiffes Planken

Und glotzen mich an, als wollten sie

Sich für das Frühstück bedanken.«

Doch seufzend fällt ihm in die Red'
Van Koek:
»Wie kann ich lindern 

Das Übel? wie kann ich die Progression 

Der Sterblichkeit verhindern?«

Der Doktor erwidert: »Durch eigne Schuld

Sind viele Schwarze gestorben;

Ihr schlechter Odem hat die Luft

Im Schiffsraum so sehr verdorben.

Auch starben viele durch Melancholie,

Dieweil sie sich tödlich langweilen;

Durch etwas Luft, Musik und Tanz

Läßt sich die Krankheit heilen.«

Da ruft van Koek: »Ein guter Rat!

Mein teurer Wasserfeldscherer

Ist klug wie Aristoteles,

Des Alexanders Lehrer.

Der Präsident der Sozietät

Der Tulpenveredlung im Delfte
Ist sehr gescheit, doch hat er nicht

Von Eurem Verstande die Hälfte.

Musik! Musik! Die Schwarzen soll'n

Hier auf dem Verdecke tanzen.

Und wer sich beim Hopsen nicht amüsiert,

Den soll die Peitsche kuranzen.«

II
Hoch aus dem blauen Himmelszelt

Viel tausend Sterne schauen,

Sehnsüchtig glänzend, groß und klug,

Wie Augen von schönen Frauen.

Sie blicken hinunter in das Meer,

Das weithin überzogen

Mit phosphorstrahlendem Purpurduft;

Wollüstig girren die Wogen.

Kein Segel flattert am Sklavenschiff,

Es liegt wie abgetakelt;

Doch schimmern Laternen auf dem Verdeck,

Wo Tanzmusik spektakelt.

Die Fiedel streicht der Steuermann,

Der Koch, der spielt die Flöte,

Ein Schiffsjung' schlägt die Trommel dazu,

Der Doktor bläst die Trompete.

Wohl hundert Neger, Männer und Fraun,

Sie jauchzen und hopsen und kreisen

Wie toll herum; bei jedem Sprung

Taktmäßig klirren die Eisen.

Sie stampfen den Boden mit tobender Lust,

Und manche schwarze Schöne

Umschlinge wollüstig den nackten Genoß
-
 Dazwischen ächzende Töne.

Der Büttel ist Maître des plaisirs,

Und hat mit Peitschenhieben
Die lässigen Tänzer stimuliert,
Zum Frohsinn angetrieben.

Und Dideldumdei und Schnedderedeng!

Der Lärm lockt aus den Tiefen

Die Ungetüme der Wasserwelt,

Die dort blödsinnig schliefen.

Schlaftrunken kommen geschwommen heran

Haifische, viele hundert;

Sie glotzen nach dem Schiff hinauf,

Sie sind verdutzt, verwundert.

Sie merken, daß die Frühstückstund'

Noch nicht gekommen, und gähnen,
Aufsperrend den Rachen; die Kiefer sind

Bepflanzt mit Sägezähnen.

Und Dideldumdei und Schnedderedeng
-
 Es nehmen kein Ende die Tänze.

Die Haifische beißen vor Ungeduld

Sich selber in die Schwänze.

Ich glaube, sie lieben nicht die Musik,

Wie viele von ihrem Gelichter.
»Trau keiner Bestie, die nicht liebt
Musik!« sagt Albions großer Dichter.

Und Schnedderedeng und Dideldumdei
-
Die Tänze nehmen kein Ende.

Am Fockmast steht Mynheer van Koek

Und faltet betend die Hände:

»Um Christi willen verschone, o Herr,

Das Leben der schwarzen Sünder!

Erzürnten sie dich, so weißt du ja,

Sie sind so dumm wie die Rinder.

Verschone ihr Leben um Christi will'n,

Der für uns alle gestorben!

Denn bleiben mir nicht dreihundert Stück,

So ist mein Geschäft verdorben.«


Eine Aussicht oder ein Abgrund

Hier meine NEUE Situation: Zum ersten Mal in meinem Leben, nach einer ununterbrochenen Kette bestehend aus Babysein, Kindergarten, Schule, Hilfsarbeiten aller Art, Theater, Theater, Universität in Kanada, noch mehr Theater, habe ich mir 6 (in Zahlen sechs) Monate frei genommen. 
Uff. 
Ich wollte es so und weiss ja auch schon lang, dass es kommt, aber jetzt "freake" ich gerade aus, wie der Dengländer sagt. 
Es ist verrückt, ich habe davon geträumt davon ZEIT zu haben, selbst über ZEIT bestimmen zu können, mir ZEIT zu nehmen, aber ich habe keine Übung darin, bin an ZEITdruck gewöhnt, ehrlich gesagt, brauche ich ihn wohl auch. Und jetzt muss ich eine ZEITlang Neues lernen.
Wie teilt man sich den Tag ein? Extrem - Langaufbleiber von jeher, sind mir plötzlich keine ZEITlichen Grenzen mehr gesetzt. Gefahr! Langweilig ist mir fast nie, aber ZEIT verschwenden, kann ich sehr geschickt. Wieso eigentlich verschwenden? Da ist er wieder, der verfluchte preussische Nutzgedanke. Vermeiden! 
FreiZEIT ist so ein blödes Wort, was ist denn dann die andere ZEIT, unfrei? 
Gewöhnlicherweise werde ich produktiver je enger mein ZEITrahmen ist. Ich lese mehr, gucke mehr Filme, treffe mehr Leute, wenn ich eigentlich überhaupt keine Zeit habe. Werde ich jetzt also gar nix tun? 
Der Anlass für die Freiphase ist, dass ich schreiben lernen will und dass ich 15 Jahre ohne Unterbrechung durchinszeniert habe und eine Pause brauche. Nicht, dass ich nicht mehr gern probiere, überhaupt nicht, aber ich könnte mir vorstellen, ein solcher ZEIT - Bremsvorgang bringt neue Reibung, so ähnlich wie eine Fastenzeit gut tut, damit man danach lustvoller trinkt, frisst....

“The only reason for time is so that everything doesn't happen at once.”

"Zeit gibt es nur aus dem Grund, damit nicht alles gleichzeitig geschieht."

Albert Einstein


So ist meine Situation heute, hat jemand von euch Erfahrungen mit ungeplanter Zeit? Ratschläge erwünscht!

Sonntag, 20. März 2011

Sehnsucht nach Berlin - Joachim Ringelnatz

Sehnsucht nach Berlin (1929)

Berlin wird immer mehr Berlin.
Humorgemüt ins Große.
Das wär mein Wunsch:
Es anzuziehn 
Wie eine schöne Hose.

Und wär Berlin dann stets um mich
Auf meinen Wanderwegen.
Berlin, ich sehne mich in dich.
Ach komm mir doch entgegen!

Nach sieben Wochen Bayern wieder zu Hause.
Das mit dem Humorgemüt ins Große weiß ich nicht so genau, aber es ist doch erstaunlich, dass man
dreckige Strassen, zu viele Autos, einen groben Umgangston und einen sehr speziellen Gestank so sehr vermissen kann. Ich liebe Berlin, ehrlicherweise müsste es heißen, ich liebe Ostberlin, die andere Hälfte kenne ich immer noch nicht wirklich gut.


Theater ist feiern


http://www.theater.ingolstadt.de/frameset.cfm?case=stueck&ID_stueck=953

Meister und Margarita - Wir hatten heute Premiere! Und es lief großartig. Besser als erwartet, bedenkend, dass wir in einer stockkatholisch-erzkonservativen Gegend mit unserer Version dieses Albtraums aus stalinistischer Zeit, voll von heftigsten Auseinandersetzungen mit den gebräuchlichen Mythen des Christentums und weiten Schwüngen ins Magische, eher mit Zurückhaltung und Irritation gerechnet hatten. Das wird sicher auch noch kommen, wenn die Busse aus dem Umland, gefüllt mit den verbliebenen Resten des ländlichen Bürgertums, in die Vorstellung einreiten. Aber heute Abend haben sie sich verführen lassen und sind mitgeflogen.
Danach - Premierenfeier. Was für eine merkwürdige Veranstaltung! Ich finde diese Feier immer eigenartig, entweder versenkt man sein Leid über den Misserfolg oder, man wandert verwirrt und freudetrunken durch Gruppen von wohlmeinenden Beglückwünschern. Da ich morgen nach Berlin fahre, habe ich nicht getrunken und viel geguckt zwischen den Gratulationen, da wird es noch absurder.
Ein Intendant, schon nichtverlängert, der die Produktion noch vor zwei Tagen als Schultheater bezeichnete, hält eine ungelenke und neidvolle Rede, voll Lobes, das keinen ehrt.
Die Schauspieler, erschöpft und stolz wollen den Glücksmoment festhalten und wissen, dass sie in zwei Tagen wieder im nächsten Probenprozess stecken, unvorbereitet, wie anders (?), bei solcher Planung.
Ich habe heute Lob von der Technik bekommen, das ist etwas, dass ich mir als Brosche ans Jackett stecken kann, selten und sehr ehrend! Die sitzen immer extra, immer!
Und dann die Theaterliebhaber.
Enthusiasten, die keine Worte finden, und man steht und grinst hilflos, berührt und peinlich verklemmt zu gleichen Teilen.  Aber manchmal stammelt da jemand einen Satz, der einem direkt in die Magengrube fährt und an den man sich noch 10 Jahre später erinnert.
Dann die notgeilen Fans, meist Frauen in meinem Alter,  die gibt es an jedem Theater, übrigens meist verkappte Künstlerinnen, immer aufgeputzt und oft als einzige tanzend, hoffen sie darauf irgendeinen Spieler abschleppen zu können, auch mit Hilfe von unverhältnismäßigen Komplimenten  oder zur Not, indem sie abwarten bis der Alkoholpegel jede echte Wahl unmöglich macht. Kleinstadteinsamkeit in Bild und Ton.
Und die, die zufällig hereinggelatscht kommen, weil sonst nix los ist und eine eigene Feier starten.
Meine Elfe waren heute toll. Mutig und lustig und wild. Und die schrubben hier, für wenig Geld 150 Vorstellungen im Jahr und probieren dann doch mit guter Laune und Augenringen und bedanken sich, weil man sie ernst nimmt. Hey, Hut ab!