Montag, 22. August 2016

Abhauen - Damals als DDR-Bürger noch Flüchtende waren

Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.
Victor Klemperer LTI

"Der ist abgehauen." In der DDR ein bleischwerwiegender Satz, endgültiger war nur: er ist auf der Flucht erschossen worden, also tot, oder erwischt worden, also auf unbestimmte Zeit in einem ostdeutschen Gefängnis eingesperrt.
Ein Besuch in der Gedenkstätte Hohenschönhausen ist übrigens sehr zu empfehlen, wenn man eine Vorstellung von den Zuständen in solchen Institutionen bekommen will.
Eine Freundin hat dann neulich gesagt, dass das Wort "abhauen" so einen komisch negativen Beigeschmack hat, es schließt 'jemanden verlassen' ein, Rücksichtslosigkeit. Ist uns Dagebliebenen da etwas unterlaufen? 

Fast jeder von uns hat einmal mit dem Gedanken ans Wegmachen gespielt und unsere Gründe es nicht zu tun, waren vielfältig.
Aber haben wir vielleicht unser schlechtes Gewissen, weil wir blieben, den Neid auf den Mut derer, die geflohen sind, haben wir diese ambivalenten Gefühle, ohne es selbst zu bemerken, in diesem Verb versteckt? Gerade jetzt, wo es in den Medien allüberall so komplizierte Diskussionen über die Macht von Wörtern gibt, zum Beispiel ob man Bei-Uns-Asylsuchende als Flüchtlinge oder Geflüchtete bezeichnen sollte, finde ich so einen Gedanken nicht weit hergeholt.
Wir hätten ja auch sagen können: "Er ist entkommen."

Noch einmal Victor Klemperer diesmal aus einem Aufsatz über sein Buch LTI (Lingua Tertii Imperii): Man zitiert immer wieder TALLEYRANDs Satz, die Sprache sei dazu da, die Gedanken des Diplomaten (oder eines schlauen und fragwürdigen Menschen überhaupt) zu verbergen. Aber genau das Gegenteil hiervon ist richtig. Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag. Die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein - im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen.

 
Victor Klemperer: Die unbewältigte Sprache, Darmstadt 1966 


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ABHAUEN

transitiv: etwas abschlagen, abtrennen (starke und schwache Konjugation: hieb/ haute ab und abgehauen/ abgehaut) 

intransitiv: sich entfernen, davonmachen (Präteritum nur schwache Konjugation: haute; Partizip II abgehaut oder abgehauen)

ddrisch: illegal das Hoheitsgebiet der DDR verlassen, um in die BRD umzusiedeln, siehe auch Rübermachen

Aus dem Buch: Schlüsselwörter der Wendezeit

Bezeichnungen im Rahmen des Themas „Das Verlassen der DDR durch DDR-Bürger als eine Massenerscheinung der frühen Wendezeit"

fliehen, flüchten, Flucht, Flüchtling
übersiedeln, Übersiedlung, Übersiedler
ausreisen, Ausreise
(die DDR) verlassen
weggehen, Weggang, weglaufen, wegmachen, wegrennen, wegziehen, Wegzug
abwandern, Abwanderung
Exodus
ausbürgern, Ausbürgerung
(der DDR) den Rücken kehren
in den Westen gehen
auswandern, Auswanderung
ausweisen, Ausweisung
abhauen
Abstimmung mit den Füßen
davonlaufen
türmen
rübergehen, rübermachen
ausreißen, Ausreißer
aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen, Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR
flitzen
Zur Erinnerung ein Bild, das einen der vielen Gründe zeigt, warum man dort wegwollte.

© picture alliance / dpa

Die „Schlüsselwörter der Wendezeit“ (Herberg/Steffens/Tellenbach 1997) wurden in den Jahren 1993-1996 am Institut für Deutsche Sprache mit dem Ziel erarbeitet, den öffentlichen Sprachgebrauch der Wendezeit in der DDR und in der Bundesrepublik konsequent korpusbezogen und textdokumentativ darzustellen. Es handelt sich um ein textorientiertes, d.h. auf der Basis eines definierten Textkorpus des Wendekorpus erarbeitetes Buch, das den öffentlichen Gebrauch ausgewählter Lexeme in einem bestimmten Zeitabschnitt der Wendezeit darstellt, erläutert und dokumentiert. Dennoch ist es kein „Wörterbuch“ im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr ein „Buch über Wörter“.

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