Dienstag, 22. Februar 2011

Sappho 3

Sapphos viertes Gedicht gefunden

Wenig ist über die antike griechische Dichterin Sappho bekannt. Vieles was wir wissen entspringt eher Legenden und Geschichten späterer Zeit, was eine Biografie schwierig macht. Ebenso ist es mit ihren Werken. Bislang waren lediglich drei ihrer Gedichte und einige Fragmente bekannt.

Jetzt ist ein viertes aufgetaucht. Es handelt vom Altern und der verlorenen Jugend. Die insgesamt 101 Worte wurden auf den Bandagen einer ägyptischen Mumie aus dem dritten Jahrhundert gefunden. Nichts ungewöhnliches, wurde Papyrus zur damaligen Zeit oft mehrfach verwendet. Auch der einzige komplette - und bislang unübersetzbare - Text in etruskischer Sprache wurde durch Zufall in den Resten einer Mumie gefunden.

Entdeckt wurde das Papyros von Dr. Robert Daniel und Dr. Michael Gronewald vom Institut für Altertumskunde der Universität zu Köln in den Universitätsarchiven. Es konnte Sappho zugeordnet werden, weil ein teil des Werkes bereits 1922 als Fragment aufgefunden wurde

“[You for] the fragrant-blossomed Muses’ lovely gifts
[be zealous,] girls, [and the] clear melodious lyre:

[but my once tender] body old age now
[has seized;] my hair’s turned [white] instead of dark;

my heart’s grown heavy, my knees will not support me,
that once on a time were fleet for the dance as fawns.

This state I oft bemoan; but what’s to do?
Not to grow old, being human, there’s no way.

Tithonus once, the tale was, rose-armed Dawn,
love-smitten, carried off to the world’s end,

handsome and young then, yet in time grey age
o’ertook him, husband of immortal wife.”

Die Übersetzung stammt von Martin West, Wissenschaftler am All Souls College der Oxford University.

 "(Ich bringe hier) der purpurgegürteten Muse schöne Gaben, Mädchen / (wieder ergreifend) die den Gesang liebende, helltönende Leier / (runzlig gemacht hat) die einst zarte Haut mir das Alter schon / (Furchen sind darin) Weiß geworden sind die Haare aus schwarzen / Das Herz ist mir schwer gemacht worden, die Kniee tragen nicht / die doch einst leicht waren zum Tanzen, jungen Rehen gleich / Ich seufze oft. Aber was kann ich machen? / Alterslos menschseiend kann ich nicht sein.
Denn einst sagte man auch über Thitonos aus Liebesverlangen / dass die rosenarmige Eos den Sonnenbecher bestiegen habe / ihn um die Erde tragend, schönseiend und jung /aber dennoch ergriff ihn mit der Zeit das graue Alter, habend die unsterbliche Gattin."
Michael Gronewald, Altphilologe an der Universität Köln

Tithonos ist in der ein Sohn des trojanischen Königs Laomedon.
Zusammen mit Eos, der Göttin der Morgenröte, hatte er den Sohn Memnon. Tithonos wurde von Eos so geliebt, dass sie für ihn von dem widerstrebenden Zeus das ewige Leben erbat. Dies wurde ihr gewährt. Da sie – anders als der verärgerte Zeus – jedoch übersehen hatte, zugleich ewige Jugend für Tithonos zu erbitten, wurde er älter und älter und schrumpfte (nach Ovid) zuletzt so zusammen, dass am Ende nur noch seine keifende schrille Stimme übrig blieb und er zur  Zikade ward.

Charles-August Mengin
Sappho, 1877. Manchester Art Gallery, UK
 

Sappho 2

. . .if not, winter
]no pain. . .

Translated by Anne Carson

Sappho 1

Sappho an Alkaïos

Und was hättest du mir denn zu sagen,
und was gehst du meine Seele an,
wenn sich deine Augen niederschlagen
vor dem nahen Nichtgesagten? Mann,

sieh, uns hat das Sagen dieser Dinge
hingerissen und bis in den Ruhm.
Wenn ich denke: unter euch verginge
dürftig unser süßes Mädchentum,

welches wir, ich Wissende und jene
mit mir Wissenden, vom Gott bewacht,
trugen unberührt, dass Mytilene
wie ein Apfelgarten in der Nacht
duftete vom Wachsen unsrer Brüste -.

Ja, auch dieser Brüste, die du nicht
wähltest wie zu Fruchtgewinden, freier
mit dem weggesenkten Angesicht.
Geh und lass mich, dass zu meiner Leier
komme, was du abhältst: alles steht.

Dieser Gott ist nicht der Beistand zweier,
aber wenn er durch den einen geht
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Fragment. 
Geschrieben Juli 1907 in Paris.
Rainer Maria Rilke


Montag, 21. Februar 2011

Jeff Wall after The Invisible Man by Ralph Ellison


Nur so zwischendurch. Das Bild basiert auf einem Roman von 1952, "Der unsichtbare Mann" von Ralph Ellison. Habe bisher nur ein Kapitel gelesen, hochinteressant! In der Ich-Form geschrieben über einen jungen Schwarzen aus dem Süden der USA, der an einem von Weißen finanzierten College studieren "darf", sich nicht gefällig und dankbar benimmt, rausgeschmissen wird und dann nach New York geht, wo er irgendwann in einem Keller endet, sich mit 1369 Glühbirnen beleuchtet und sein Buch schreibt. „Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Knochen, aus Nerven und Flüssigkeit – und man könnte vielleicht sogar sagen, daß ich Verstand habe. Aber trotzdem bin ich unsichtbar – weil man mich einfach nicht sehen will.“
Jeff Wall hat den Prolog des Buches nachinszeniert und in einer Lichtbox auf der Dokumenta 11 ausgestellt. Der Held hört zum Zeitpunkt des Bildes "Black and Blue" von Fats Waller, trompetet und gesungen von Luis Armstrong.

Cold, empty bed,
Springs hard as lead,
Pains in my head,
Feel like old Ned.
What did I do
To be so black and blue?

No joys for me,
No company,
Even the mouse
Ran from my house,
All my life through
I've been so
Black and blue.

I'm so forlorn,
Life's just a thorn,
My heart is torn,
Why was I born?
What did I do to be so
Black and blue?

I'm white inside,
But that don't help my case.
'Cause I can't hide
What is on my face,
Oh!

[Alternative lyrics
for the last verse]
I'm sad inside,
But it don't help my case
'Cause I can't hide
All the sorrow
That's on my face.

Lyrics: Andy Razaf Music: Fats Waller
(Old Ned ist ein Synonym für den Teufel.)

Väter und Söhne



Max Ernst "Pietà oder Revolution in der Nacht" 1923

Margrittes Mann mit dem Bowler ist inspiriert durch ein Gemälde von Max Ernst aus der Tate Gallery „Pietà oder Revolution bei Nacht“, 1923.
Hier wiederum hat Max  Ernst ein Werk de Chricos verarbeitet, in welchem dieser seinen Vater porträtierte: Das Gehirn des Kindes, 1914.

Sonntag, 20. Februar 2011

Entwederoder oder Sexismus für Anfänger

"Der gute Mensch von Sezuan", Bertolt Brechts Stück, geschrieben zwischen 1930 ("Die Ware Liebe") und 1938/40, uraufgeführt 1943 unter der Regie von Leonard Steckel in Zürich, nun 2011 in Stuttgart in einer Inszenierung von Thomas Dannemann.
Zuerst und zuletzt: ich mag das Stück nicht sehr. Es scheint mir, das simplifizierendste und gefälligste von Brechts Stücken zu sein und verwendet Mann/Frau Klischees in einer Weise, die mir weder Überraschungen auftut, noch irgendwie politisch provozierend wirkt. Dies gesagt, weiß ich aber auch, dass es, wie man so schön sagt: funktioniert. Gerade seine Sentimentalität trifft wohl ganz unepisch, die "Herzen" der Zuschauer.
Gestern abend war ich in einer von Stuttgarts Übergangsspielstätten, der Arena. Ein ehemaliges Mercedes-Autohaus wurde für die Zeit der Sanierung des Schauspielhauses, mit großem Aufwand und immenser Kreativität, zu einem, drei Bühnen, die gleichzeitig bespielt werden können, umfassenden Ausweichstheater umgebaut.

Der "Sezuan"-Bühnenraum, riesig, mit Fenstern die ganze Hinterwand einnehmend, durch die man in der Dunkelheit reale Landschaft erahnen kann, zwischen Säulen vorn ein Boxring, links hinten über Eck zwei deckenhohe Raubtier -oder Affenkäfige, eine kleine Fläche mit Tabakpflanzen vorn links, auf einer zweiten Ebene noch ein Extraraum mit Plastik-Restaurant-Ausstattung, hinten vor den Fenstern, Trainingsgeräte und Sitzgelegenheiten. Also ein Labyrinth, sehr reizvoll, weil zum Hauptfokus mehrere Vorgänge simultan hinzuaddiert werden und man die Freiheit hat, auch mal abzuschweifen. Die Akustik des Monsterraumes geht, trotz cleverer Unterstützung durch Richtmikrophone und gelegentlichem Einsatz von Handmikros, knallhart auf die Stimmen der Spieler und das hört man gelegentlich auch, oder man hört halt nicht so recht. Auch ist der Grundumgangston der Figuren, damit notwendigerweise auf einer beträchtlichen Lautstärke eingepegelt und das die Schauspieler trotzdem einen meist sehr direkten und klaren Ton behalten, ist keine unbeträchtliche Leistung. Überhaupt ein starkes Ensemble eigenwilliger, individueller Leute.

Die Kostüme - Latex, super genau auf die einzelnen Charaktere gedacht und immens einfallsreich und witzig. Hier beginnt für mich das Konzept. Soweit ich es begriffen habe, siedelt Dannemann Sezuan in einer Welt der sozial und sexuell Unbefriedigten und Unzufriedenen an, verständlich, da reißender Hunger als Symptom für Armut im heutigen Deutschland schwerlich funktionieren würde. (Nein, heute werden die sozial Unterprivilegierten mit übersüßten Fettmachern und Fastfood-Maxiportionen in die wehrlose Apathie gefüttert.) Also alles in Latex, mit Zitaten typisierender Modeaccessoires, wie Latex-Polohemden oder rosa Latex-Socken. Das macht Spass. Aber dazu gibt es noch eine Zirkusebene und den Boxring und das im Text nicht wegzusprechende Elend. Das reibt sich und auf nicht uninteressante Weise. Shen-Te ist eine Prostituierte, wir sehen sie zu Beginn, über Video, beim Telefonservice eines Kaviar bevorzugende Kunden. Das ist gut gespielt und setzt einen harten, aber nicht moralisierenden Ausgangspunkt. Aber dann passiert was Merkwürdiges, die Provokation der Inszenierung wird zur Animation der uneingestandenen Lüste des lieben Publikums. Es fühlt sich gekitzelt. Peep Show entsteht. Huch, wie geil, Sextoys und Fetisch-Assoziationen, Gewaltexzesse und coole Musik und dagegen gesetzt die einfache starke Liebe der Shen-Te. Und da stecken sie, trotz allem dagegen Anrennen, wieder in der Falle der Stückkonstruktion.
"Ich werd mit dem gehen, den ich liebe. Ich werde nicht ausrechnen, was es kostet." (ungefähres Zitat). Das ist Schmalz und keine Gesellschaftskritik.
Aber ich habe mich keine Sekunde gelangweilt, was mir bei diesem Stück noch nie gelungen ist. Ich habe die Ljubimow Inszenierung vom Taganka Theater zur Hälfte gesehen und selbst in der Fassung, des von mir sehr verehrten Giorgio Strehler mit Andrea Jonasson, habe ich mit dem Schlaf gekämpft.
Aber an dem Abend des Gastspiels des Piccolo Theaters, in den Achtzigern in der Volksbühne, habe ich auch Heiner Müller kenengelernt. Also verdanke ich dem "Guten Menschen von Sezuan" doch sehr viel.

Brücke in Sezuan - China.

Freitag, 18. Februar 2011

Nonsense auf deutsch


Einer der Vorteile, wenn man sehr jung an einem Theater mit vielen älteren Kollegen mit blendendem Gedächtnis engagiert war, schweinische Witze und Gedichte in Menge! Hört man gar nicht mehr?!

"manche meinen // lechts und rinks // kann man nicht // velwechsern. // werch ein illtum!" Ernst Jandl

Dunkel wars der Mond schien helle

Dunkel wars der Mond schien helle,
Als ein Wagen blitesschnelle,
Langsam um die Ecke fuhr.
Drinnen saßen stehend Leute,
Schweigend ins Gespräch vertieft,
Als ein totgeschossner Hase,
Auf 'ner Sandbank Schlittschuh lief.
Auf 'ner Bank 'ne alte Schachtel,
Zählte kaum erst zwanzig Jahr,
Neben ihr ein alter Jüngling,
Blondgelockt das schwarze Haar.

Bonifatius Kiesewetter war ein Schweinehund seit je.
Und so schiss er der Baronin heimlich in das Portemonnaie.
Hin zu einem Bücherladen lenkt sie ihren Schritt indes,
kaufte, da sie hochgebildet, etwas sehr Ästhetisches.
Als die Dame zahlen wollte, und sie zahlte stets in bar,
griff sie in die blanke Scheiße, was ihr äußerst peinlich war.

Moral und christliche Nutzanwendung:
Ungern nimmt der Handelsmann
statt baren Geldes Scheiße an.

DER WERWOLF
Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: "Bitte, beuge mich!"
Der Dorfschulmeister stieg hinauf
auf seines Blechschilds Messingknauf
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten
geduldig kreuzte vor dem Toten:
"Der Werwolf", sprach der gute Mann,
"des Weswolfs, Genitiv sodann,
dem Wemwolf, Dativ, wie mans nennt,
den Wenwolf, - damit hats ein End."
Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
"Indessen", bat er, "füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!"
Der Dorfschulmeister aber musste
gestehn, dass er von ihr nichts wusste.
Zwar Wölfe gäbs in großer Schar,
doch "Wer" gäbs nur im Singular.
Der Wolf erhob sich tränenblind -
er hatte ja doch Weib und Kind!!
Doch da er kein Gelehrter eben
so schied er dankend und ergeben.
Christian Morgenstern

Eine kleine Dickmadam
zog sich eine Hose an.
Die Hose krachte,
Dickmadam lachte,
zog sie wieder aus
und du bist raus.

„Es klapperten die Klapperschlangen, bis ihre Klappern schlapper klangen.“

Zwei Mädchen liefen durch's hohe Gras,
der einen wurden die Höschen nass,
der andern nur die Beine
denn Höschen trug sie keine.

Zwei Knaben stiegen auf einen Baum,
Sie wollten Äpfel runterhaun;
Am Gipfel drobn wurd's ihnen klar,
Dass das a Fahnenstange war.
 
ottos mops
ottos mops trotzt
otto: fort mops fort
ottos mops hopst fort
otto: soso
otto holt koks
otto holt obst
otto horcht
otto: mops mops
otto hofft
ottos mops klopft
otto: komm mops komm
ottos mops kommt
ottos mops kotzt
otto: ogottogott

Ernst Jandl 
Frau Wirtin - Verse
(Die sind zum Teil hammerhart, auf eigene Gefahr weiterlesen!)

Es steht ein Wirtshaus an der Lahn,
Da kehren alle Fuhrleut an;
Frau Wirtin schlaegt die Leier,
Die Gaeste sitzen um den Tisch
Und kratzen sich die Eier.

Frau Wirtin hat auch eine Mutter,
die macht aus kalten Bauern Butter,
und soll't ihr noch was fehlen,
dann muss der alte Grosspapa,
sich einen runter quaelen.

Frau Wirtin hatte einen Sohn,
der tat es von Geburt an schon
kaum kroch er aus der Spalte
drehte er sich blitzschnell um
und nagelt seine Alte.

Frau Wirtin hat ein Kanapee,
Drauf vögelte die SED,
Doch nur die jungen Begels,
Die Alten saßen still dabei
Und lasen Marx und Engels.

Frau Wirtin hatt''nen Sauerlaender,
der hatte einen Dauerstaender,
und Int'ressierte Damen,
die haengten ihre Huete dran,
getrennt nach Rang und Namen.

http://www.themenmix.de/witziges/witzige-geschichten-frau-wirtin-verse.html

Sehr beliebt war auch das "Vaterunser", in dem man alle Substantive abwechselnd mit Hänsel oder Gretel ersetzt. Hänsel unser, der Du bist in der....

Donnerstag, 17. Februar 2011

"Ich bin nicht immer meiner Meinung." Paul Valéry

Ich kann von meinem augenblicklichen Lieblingsthema, "der Nützlichkeit des Streites als Mittel zur Verständigung", einfach nicht lassen. Ist das Wort Streit wirklich so eindeutig besetzt, dass es nur noch als Bezeichnung für Zank oder den anderen Niedermachen benutzt werden kann? Wo bleibt dann das gute alte Streitgespräch? Oder ist es, dass wir, um Harmonie und Unverbindlichkeit bemüht, uns dem Abenteuer eines wirklichen Streites nicht mehr aussetzen wollen. Erstens muss ich eine Meinung haben und diese auch begründen und verteidigen können und ich muss gut genug zuhören, um möglicherweise (O Schrecken! O Grauen!) meine Meinung einer Korrektur zu unterziehen. Ich denke, es wird dummerweise meist als Charakterschwäche angesehen, wenn jemand seine Meinung ändert, anstatt denjenigen für seine Fähigkeit zum kritischen Denken zu preisen und zu loben.
Wenn man sich die Denker des letzten Jahrhunderts anschaut, haben die interessanten unter ihnen, irrsinnige Zeitenbrüche durchlebend, doch nicht immer an ihren Meinungen festgehalten, und wenn sie es doch taten, aus Rücksicht für "die große Sache" oder um mancher Vorteile willen, dann war es meist zum Schaden ihres Denkens. Also nochmal, lasst uns streiten, auf dass wir uns verändern, nicht immer zum Besseren, aber doch lebendig.

 Das sind Gesichtsausdrücke, die bei dem von mir gemeinten Streiten, zu vermeiden wären.

Mittwoch, 16. Februar 2011

Amerika von Franz Kafka

Amerika, wird auch unter dem Titel "Der Verschollene" geführt, ist ein unvollendeter Roman Kafkas, den er um 1911 geschrieben hat.
Hier, in Ingolstadt, zeigen sie eine Spielfassung für 5 Schauspieler im Werkstatt-Theater. Sehr präzise und phantasievoll, manchmal ein wenig schwerfällig. Als wir danach über den Abend sprachen, kam mir der Gedanke, dass die scheinbare Übertölpelbarkeit des Helden, vielleicht Kafkas Vision dessen ist, was ich mal mit "Überforderung durch den Kapitalismus" bezeichnen möchte.

"Als der siebzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte."

Du stolperst, fällst, schreitest in die Welt und diese kapitalistische Welt verlangt einfach, das du dich ihr stellst, ihre Prüfungen bestehst, ihr deinen Erfolg aus den Rippen schneidest und möglichst klaglos funktionierst, in den Parametern, die sie setzt. Und ich denke immer mehr Menschen können das nicht. Und ich meine nicht einmal nur die, die unser so genanntes soziales Netz durch seine immer größer werdenden Maschen schippt. Nein, ich sehe es zunehmend bei Leuten, die sozial ganz gut dastehen. Sie werden depressiv oder saufen oder du kannst zuschauen, wie ihr berechtigtes Selbsbewusstsein wacklig wird und schrumpft und manchmal ganz unter die Räder gerät. Leistungsdruckunverträglichkeit könnte man es nennen.  In der Medizin heißt das, Inkompatibilität mit etwas oder auch Intoleranz etwas gegenüber. Kapitalismus-Intoleranz. Klingt sehr gut, ist aber hart zu leben, weil es ja nix anderes gibt als Kapitalismus. Kein Ort - nirgendwo, wie es im Buche heißt.

„Dann sind Sie also frei?“ fragte sie. „Ja, frei bin ich“ sagte Karl und nichts schien ihm wertloser.

Und es sind nicht Personen, die schwach oder faul oder dumm sind, sondern gute Leute, kluge, die was können und plötzlich nicht mehr können. Es ist epidemisch, denke ich. Die ersten Symptome sind variabel. Die bürokratischen Erledigungen geraten aus dem Lot, müde, müde, müde, Kontakte werden vermieden oder nur noch übers Netz eingegangen, ihr wißt sicher noch viele andere Anzeichen. Das Immunsystem hält die Welt nicht mehr aus und wendet sich gegen einen selbst. Und ganz  offiziell wird dann von Mistkerlen wie Herrn Sarrazin darüber geurteilt, wie über eine Charakterschwäche oder sonst ein Defekt. 
Und wenn ich mir also die Geschichte von herrn Kafka aus diesem Blickwinkel betrachte, man bedenke geschrieben um 1911, dann gibt es diese Krankheit schon länger und wird halt nur meist unter harmloseren Namen geführt. Kapitalismus-Intoleranz kann übrigens zum Tode führen. Das ist wahr, ich habe es gesehen.

»Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Theater in Oklahoma aufgenommen! Das große Theater von Oklahoma ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!«



Wikipedia Inhaltsangabe:

Der 17-jährige Karl Rossmann wird von seinen Eltern in die USA geschickt, da er von einem Dienstmädchen „verführt“ wurde und dieses nun ein Kind von ihm bekommen hat. Im Hafen von New York angekommen, trifft er noch einen reichen Onkel, der ihn zu sich nimmt und in dessen Reichtum Karl nun lebt. Doch bald verstößt der Onkel den Jungen, als Karl die Einladung eines Geschäftsfreundes des Onkels zu einem Landhausbesuch eigenmächtig annimmt. Der ohne Aussprache vom Onkel auf die Straße gesetzte Karl lernt zwei Landstreicher kennen, einen Franzosen und einen Iren, die sich seiner "annehmen", freilich immer zum Nachteil von Karl. Wegen des Iren verliert er eine Anstellung als Liftjunge in einem riesigen Hotel . Anschließend wird er in einer Wohnung, die die beiden Landstreicher mit der fetten älteren Sängerin Brunelda teilen, gegen seinen Willen als Diener angestellt und ausgenutzt.
Es existieren noch zwei Textfragmente, mit Karl im Umfeld Bruneldas. Da ist eine Szene mit einer grotesken Waschung Bruneldas; dann ist Karl mit der Sängerin alleine und er transportiert sie in ein Bordell. In einem weiteren Fragment, dem vorhandenen Abschlusskapitel, entdeckt Karl ein Plakat für ein Theater in Oklahoma (Kafka schrieb durchgehend „Oklahama“), das allen Menschen Beschäftigung verspricht. Karl wird nach einer peniblen Befragung von den Werbern des Theaters aufgenommen, freilich nur „für niedrige technische Arbeiten“. Das Romanfragment endet mit der langen Zugfahrt nach Oklahoma, wo Karl zum ersten Mal die „Größe Amerikas begreift“.

Kafka soll laut Brod geplant haben, dass Karl im Theater nicht nur Rückhalt und Beruf, sondern sogar die Eltern und die Heimat wiederfindet. Dem widerspricht eine Tagebuchnotiz Kafkas vom 30. September 1915, nach dem Roßmann ein ähnlicher Tod droht wie Josef K., „Roßmann und K., der Schuldlose und der Schuldige, schließlich beide unterschiedslos strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichterer Hand, mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen“, heißt es da.

Dienstag, 15. Februar 2011

Das ist ja ein Ding!


Gestern hat mich ein Freund gefragt, was ‹unbedingt› heißt? Tja was?
Dieses kleine Wort DING, wir verwenden es unablässig, für vielfältigste DINGE. Aber was heißt es, bedeutet es, woher kommt es? 
Das Ding
Das Unding
bedingt und unbedingt
sich verdingen
Die Bedingung
bedingungslos
Dingsbums für die DINGE, die wir nicht bezeichnen können.

Und dann lese ich, dass es von Thing/Ding, der germanischen gesetzgebenden Vollversammlung herstammt. Vollversammlung bedeutet hier wohl alle Männer. Und dieses Thing/Ding wiederum wurzelt in der Bedeutung Gespräch. Also ist ein Ding etwas, das benannt werden kann, über das man sprechen kann, über das es einen Beschluss gibt, das "als etwas" festgelegt wurde? Dann wäre bedingt doch, wenn etwas nur einschließlich eines oder mehrerer dieser Dinge möglich ist und unbedingt bedeutet das Gegenteil, ist also ohne bedingende Dinge machbar?
Man, es ist schwierig Wörter zu erklären, nicht wahr. Hilfe! 

Ding, N.
(im germanischen und mittelalterlichen deutschen Recht vor allem) Volksversammlung,    Gerichtsversammlung, Sache, mhd. ding, N., Ding, Sache, Vertrag, Gericht‹, ahd. ding, N., Ver- sammlung, Gemeinde, Gericht, Gerichtstag, Gerichtsverhandlung, Sachverhalt, Streitsache, Rechtssache, Sache, Ding, Ursache, as. thing, N., Versammlung, Gericht, Sache, Zeit, Rat, Versammlung, Festsetzung‹
dingen, V.
verhandeln, feilschen, mieten, in Dienst nehmen‹, mhd. dingen, V., versprechen, zu Gericht gehen‹, ahd. dingÌ n, V., sprechen, verhandeln, vereinbaren, Gericht halten, vor Gericht bringen‹, as. thingon, 
dingfest 
Adj., verhaftet‹, 19. Jh., s. Ding, fest dinglich, Adj., sachenrechtlich‹, mhd. dingelich, Adj., gerichtlich‹, ahd. dingló, Adj., gerichtlich, rednerisch, lo- gisch‹, as. thingló , Adj., gerichtlich‹, Lbd. lat. dialecticus, Adj., logisch
bedingen, V. 
zur Folge haben, voraus- setzen, fordern‹, mhd. bedingen (11. Jh.?), V., aushandeln, vereinbaren, verursachen‹, s. ahd. dingÌ n, V., sprechen, ver- handeln, vereinbaren, Gericht halten‹, s. be, Ding
bedingt 
Adj., nicht vollkommen, nur unter speziellen Bedingungen, 19. Jh.?, s. bedingen
Die Bedingung, plur. die -en. 
1) Die Handlung des Bedingens, ohne Plural; in welcher Bedeutung dieses Wort aber wenig gebräuchlich ist. 2) Dasjenige, was man bedinget, in der weitesten Bedeutung des Verbi, d. i. dasjenige, unter dessen Leistung man sich zu einer Sache anheischig macht. Ich verspreche es, aber unter der Bedingung, daß u. s. f. Ohne alle Bedingung. Schwere, unerträgliche Bedingungen. Eine Bedingung erfüllen. 3) Der Vertrag selbst. Bey deiner Geburt hat der Tod die unveränderliche Bedingung mit dir gemacht, daß du sterben mußt, Dusch.

Adelung

Ding, des -es, plur. die -e, Das Ding: ein im Hochdeutschen veraltetes Wort, welches aber ehedem von einem großen Umfange war, und noch in verschiedenen Provinzen so wohl Ober- als Niederdeutschlandes üblich ist, daher dessen Bedeutungen ein wenig genauer erwogen werden müssen. Es bedeutete,
   1. Eine Rede, ein Gespräch. Daß dieser Gebrauch im Deutschen der erste und ursprüngliche sey, behauptet Wachter mit vieler Wahrscheinlichkeit, worin ihm auch Ihre beypflichtet. Von dieser nunmehr ganz veralteten Bedeutung finden sich in den ältern Denkmahlen noch häufige Beyspiele.
   Zeht thir iz Lucas
   Vuas iro thing thar tho uuas, Lucas erzählet dir, was damahls ihr Gespräch war, Ottfried B. 3, Kap. 13, V. 105. Ein Dinch Gotes Fater. Daz Dinch noh ieo ana uuas, daz ist sin Sun. Das Wort Gottes des Vaters. Dieses Wort war im Anfange, das ist sein Sohn, Notker Ps. 21,
   2. Besonders, ein feyerliches Gespräch, und die Versammlung zu demselben, und in weiterer Bedeutung eine jede Zusammenkunft. So wohl, 1) eigentlich, von welcher Bedeutung sich so wohl in den mittlern, als auch spätern Zeiten gleichfalls häufige Beyspiele finden. Brahten sia in thaz thing, stelleten sie in die Versammlung, Ottfr. B. 3, Kap. 17, V. 17, und Kap. 20, V. 108, nennet er das Synedrium der Juden ein Thing. Concilio populorum communi, quod ab ipsis (Sueonibus) Worph, a nobis l'hinc vocatur, Adam von Bremen. Als auch 2) figürlich, was in einer solchen feyerlichen Unterredung beschlossen wird, eine Bedingung, ein Vertrag, in welcher Bedeutung so wohl Ding, als auch Geding, selbst von besondern Arten der Verträge, z. B. einem Heirathsvertrag, einer Leihe, Lehnung, Miethe, Schenkung, Anwartschaft u. s. f. sehr häufig war Omne Thinx, quod est donatio, heißt es in dem Longobardischen Gesetze.
   3. Ein Gespräch, in welchem man streitet, ein Wortwechsel, besonders ein Wortwechsel vor Gerichte, und figürlich auch eine streitige Sache, eine Rechtssache, ein Prozeß. Auch von diesem veralteten Gebrauche finden sich in den ältern und mittlern Zeiten häufige Beyspiele. In den Monseeischen Glossen ist Dinch eine Rechtssache, und Notker gebraucht Dingstrit in eben dem Verstande. Im Angels. ist Thing gleichfalls ein jeder Streit, besonders ein gerichtlicher.
   4. Eine gerichtliche Versammlung, ein Gericht, und der Ort, wo dasselbe gehalten wird. Diese Bedeutung findet sich von den ältesten Zeiten an. Schon in dem Salischen Gesetze ist Thenca ein Gericht. Ottfried nennet ein Blut- oder Criminal-Gericht notlich Thing, und das jüngste Gericht Thing filu hebigas. Gebothen Ding ist in den spätern Zeiten eine ordentliche, ungebothen Ding aber eine außerordentliche Gerichtsversammlung. Obgleich im Hochdeutschen auch diese Bedeutung veraltet ist, so ist sie doch noch in vielen Provinzen hin und wieder gänge und gebe. Zu Breslau theilen sich die Stadtgerichte in das große und in das kleine Ding, d. i. in das Ober- und Untergericht. Daher die noch hin und wieder übliche Redensart, das Ding hegen, Gericht halten. Sich vor geheurem Dinge und an gewöhnlicher Gerichtsstelle einfinden. Am häufigsten kommt dieses Wort noch in einigen Niedersächsischen Gegenden, z. B. in Schleßwig, Hollstein u. s. f. vor, wo das Ding, oder das Ding und Recht, das Gericht in bürgerlichen Sachen ausdruckt. In diesen und andern Gegenden sind zum Theil auch noch die Zusammensetzungen Bürgerding, Vogtding, Dreyding, Meierding, Freyding u. s. f. üblich, besondere Arten der bürgerlichen Gerichte auszudrucken. S. auch die folgenden Zusammensetzungen, welche im Hochdeutschen gleichfalls veraltet, in einigen Provinzen aber noch jetzt üblich sind. Das Angelsächs. Ding, das Holländ. Ding, das Schwedische Ting, und das Dänische Thing haben gleichfalls die Bedeutung eines Gerichtes.