Donnerstag, 6. Januar 2011

Sechs Wort Geschichten

For sale: baby shoes, never used.

Das hat Ernest Hemingway geschrieben auf eine Wette hin, dass er keine Geschichte in sechs Wörtern erzählen könne. Er hat gewonnen!
Daraus ist jetzt eine ganze Flut von Sechs-Wort-Geschichten geworden. Es gibt Bücher und eine Website.
http://www.sixwordstories.net/about/
Eine Menge Quatsch dabei, aber hin und wieder trifft jemand genau ins Herz oder ins Schwarze.
"We kiss; I remember someone else." oder von Margaret Atwood: " Starlet sex scandal. Giant squid involved."
Was ich daran mag, ist der Rest, der der in deinem Kopf entsteht und erst eine Geschichte daraus macht.
Im ersten Star Wars Film sitzen Han-Solo und Chewbacca in einer interstellaren Kneipe und man sieht im Bild-Vordegrund ein paar lange, dünne vogelartige Beine vorbeigehen, nur die Beine. Der Rest ist mir überlassen, es wird meine Figur, mein Alien.
"Ophelia gespielt. Keine Zuschauer. Trotzdem gestorben."

Mittwoch, 5. Januar 2011

Eva Strittmatter


Freiheit I

Ich kann dich lieben oder hassen-
ganz wie du willst. (Kann dich auch lassen.)
Und du kannst schweigen oder sprechen.
Ganz wie du willst. Daran zerbrechen
werd ich nicht mehr. (Ich kann auch gehn.)
Ganz wie ich will, wird es geschehen.

Als ich heute in der Zeitung las, dass Eva Strittmatter gestorben ist, war das erste Bild in meinem Kopf der Einband eines Buches. 
Die Edition Neue Texte (1972–1991) des Aufbau Verlages veröffentlichte "Ich mach ein Lied aus Stille" 1973. Weißer Papierumschlag, Autorin, schwarzer Strich, Titel, ein Aquarell. 
Schöne Bücher sind selten geworden (Die weiße Reihe! gestaltet von Lothar Reher für Volk und Welt z.B.), Typographie eine Kunst für kostbare Spezialausgaben, und dass ich auf ein erscheinendes Buch mit Ungeduld warte ist auch eher eine sentimentale Erinnerung. 
Obwohl, um sachlich zu bleiben, wieviele Bücher man in der DDR nicht lesen konnte und wie schwer es war manche zu bekommen, ist eine weit weniger romantische Seite dieser Erinnerungen.
Aber, ich hatte sehr gute "Beziehungen" zu einem kleinen scheinbar chaotischen Buchladen in der Oranienburgerstrasse, nahe des Hackeschen Marktes und bei meinem wöchentlichen Besuch holte die wunderbare, irrsinnig belesene und leicht wirre Verkäuferin/Besitzerin dieses Buch unter dem Ladentisch hervor.
Eine Vielzahl dieser  Gedichte konnte ich dann auswendig. Ich war 15! Einige kann ich heute noch.
Später schon am Theater, an jedem Gehaltstag, die Gage wurde im Umschlag bar ausgezahlt, trug ich einen Teil des Geldes immer in den besagten Buchladen. Schätze! Überraschungen! Fiebrig erwartete Neuerscheinungen.

Ich mach ein Lied aus Stille

Ich mach ein Lied aus Stille
Und aus Septemberlicht.
Das Schweigen einer Grille
Geht ein in mein Gedicht.

Der See und die Libelle

Das Vogelbeerenrot.
Die Arbeit einer Quelle.
Der Herbstgeruch von Brot.

Der Bäume Tod und Träne.

Der schwarze Rabenschrei.
Der Orgelflug der Schwäne,
Was es auch immer sei,

Das über uns die Räume

Aufreißt und riesig macht
Und fällt in unsre Träume
In einer finstren Nacht.

Ich mach ein Lied aus Stille.

Ich mach ein Lied aus Licht.
So geh ich in den Winter;
Und so vergeh ich nicht.

Beichte

Immer die gleiche Rose.
Immer das gleiche Gesicht.
Unter wechselndem Monde.
Unter wechselndem Licht.
Immer die gleiche Tollheit.
Immer der gleiche Traum.
Immer noch keine Weisheit.
Immer noch nicht: wie ein Baum.

Wenn ihr mal wieder Gedichte lesen wollt, diese vielleicht oder die von Inge Müller, der heimlichen Heldin meiner jugendlichen Poesieliebe!

Dienstag, 4. Januar 2011

Theater ist sexy


Theater ist sexy:
wenn die Spieler wissen, was sie tun und nicht mehr tun, als sie wissen.
wenn der Zuschauer nicht zum Mitfühlen gezwungen wird. Auch die schickste Vergewaltigung, bleibt eine Vergewaltigung.
wenn der Regisseur leidenschaftlich genug ist, um alles zu wagen und klug genug, um Gewagtheit als eitle Petitesse zu erkennen.
wenn das Stück mehr ist als eine Meinungsäußerung und mich überrascht, ohne mich zu übervorteilen.
wenn die Poesie stärker ist als die ästhetische Absicht. 
wenn ich irgendwann, vielleicht sogar ohne es zu wissen, einen Satz zitieren werde.
wenn geschwitzt wird.
wenn ich lachen muss und nicht genug Zeit habe zu lachen, weil ich nichts verpassen will.
wenn ich weinen kann und so weiss, dass ich nicht der einzige Idiot auf der Welt bin.
wenn ich mich richtig ärgere. Und diesen Ärger nach Stückschluss stundenlang wegdiskutieren muss.
wenn es schön ist und alles doch nicht ganz passt.
wenn ich mich in einen Spieler für einen Abend verliebe.
wenn ich danach nicht sprechen kann.
wenn die Leute das Theater wacher verlassen, als sie es betreten haben.
wenn ich wenigstens einmal staune.
wenn meine Erwartungen nicht erfüllt werden.
wenn der alte Theaterzauber mich doch wieder erwischt.
wenn ich mitzaubern darf.

Sonntag, 2. Januar 2011

Meine Lieblings - Engel

Zur sonntäglichen Unterhaltung:

Die Erste Duineser Elegie

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf
dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt. ..... 


RAINER MARIA RILKE


WILLIAM BLAKE

----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


Und es geschah eines Tages, da kamen die Söhne Gottes, um sich vor dem HERRN einzufinden. Und auch der Satan kam in ihrer Mitte. 1,7 Und der HERR sprach zum Satan: Woher kommst du? Und der Satan antwortete dem HERRN und sagte: Vom Durchstreifen der Erde und vom Umherwandern auf ihr. 1,8 Und der HERR sprach zum Satan: Hast du acht gehabt auf meinen Knecht Hiob? Denn es gibt keinen wie ihn auf Erden - ein Mann, so rechtschaffen und redlich, der Gott fürchtet und das Böse meidet! 1,9 Und der Satan antwortete dem HERRN und sagte: Ist Hiob [etwa] umsonst so gottesfürchtig? 1,10 Hast du selbst nicht ihn und sein Haus und alles, was er hat, rings umhegt? Das Werk seiner Hände hast du gesegnet, und sein Besitz hat sich im Land ausgebreitet. 1,11 Strecke jedoch nur einmal deine Hand aus und taste alles an, was er hat, ob er dir nicht ins Angesicht flucht! 1,12 Da sprach der HERR zum Satan: Siehe, alles, was er hat, ist in deiner Hand. Nur gegen ihn [selbst] strecke deine Hand nicht aus! Und der Satan ging vom Angesicht des HERRN fort.
BUCH HIOB

zu Milton's Paradise Lost

------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


Über die Verführung von Engeln


Engel verführt man gar nicht oder schnell.
Verzieh ihn einfach in den Hauseingang
Steck ihm die Zunge in den Mund und lang
Ihm untern Rock, dass er sich nass macht. Stell 

Ihn das Gesicht zur Wand, heb ihm den Rock 
Und fick ihn. Stöhnt er irgendwie beklommen,
So halt ihn fest und lass ihn zweimal kommen,
Sonst hat er dir am Ende einen Schock. 


Ermahn ihn, dass er ruhig den Hintern schwenkt,
Heiß ihn dir ruhig an die Hoden fassen
Sag ihm, er darf sich furchtlos fallen lassen

Dieweil er zwischen Erd und Himmel hängt.


Doch schau ihm nicht beim Ficken ins Gesicht
Und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht. 


BERTOLT BRECHT


Mein Flügel ist zum Schwung bereit
ich kehrte gern zurück
denn blieb ich auch lebendige Zeit
ich hätte wenig Glück
Gerhard Scholem, Gruß vom Angelus

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er  eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. WALTHER BENJAMIN

PAUL KLEE

Die Gewänder der Engel
sind aus Scheu gewoben. HRABANUS MAURUS 

 
FRIEDRICH ENGELs oben rechts.
-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Angel of the morning

There’ll be no strings to bind your hands
Not if my love can find your heart
And there’s no need to take a stand
For it was I who choose to start
I see no need to take me home
I’m old enough to face the dawn

Just call me angel of the morning, angel
Just touch my cheek before you leave me
Just call me angel of the morning, angel
Then slowly turn away from me

Maybe the sunlight will be dim
But it won’t matter anyhow
If morning’s echoes say we’ve sinned
Then it was what I wanted now
And if we’re victims of the night
I won’t be blinded by the light

Just call me angel of the morning, angel
Just touch my cheek before you leave me
baby
Just call me angel of the morning, angel
Just touch my cheek before you leave me, baby
Just call me angel of the morning, angel
Just touch my cheek before you leave me
baby
Just call me angel of the morning, angel   CHIP TAYLOR
(gesungen von Nina Simone auf "The Essential Nina Simone")

Erster Gesang.

....
Der Höllendrache, Jener, dessen List
Von Rach' und Neid erregt, der Menschen Mutter
Zu einer Zeit betrog, als ihn sein Stolz
Herab vom Himmel stürzte sammt der ganzen
Rebellischen Engelschaar, mit deren Hülfe
Er glorreich seines Gleichen zu beherrschen
Und Gott sich gleich zu stellen trachtete,
Da er durch Widerstand und ehrsuchtvoll
Verruchten Krieg im Himmel gegen Gottes
Alleinherrschaft erhob, und stolzen Kampf,
Der fruchtlos blieb. Des Allerhöchsten Macht
Stieß häuptlings ihn aus den äther'schen Höh'n
Furchtbaren Sturzes glutumflammt hinab
Zum bodenlosen Abgrund, dort zu wohnen
In Demantketten und in Feuerpein,
Da dem Allmächtgen er gewagt zu trotzen.
Neun Mal die Zeit, die bei den Sterblichen
Den Tag, die Nacht bezeichnet, lag er dort
Besiegt mit seiner schaudervollen Horde,
Im Feuerpfuhl sich wälzend, sinnverwirrt,
Und doch unsterblich; denn zu größrer Qual
War er verdammt, nun martert der Gedanke
Verlornen Glückes ihn, und ew'ger Pein;
Die düstern Augen wirft er rund umher,
Die Angst und tiefe Traurigkeit verrathen,
Worein verstockter Stolz und Haß sich mischt;
Er sieht, so weit als Engel können sehn,
In seiner Lage wüst' und elend sich,
Ein furchtbarlich Gefängniß flammt um ihn,
Gleich einem Feuerofen, doch den Flammen
Entstrahlt kein Licht; nur sichtbar finstre Nacht
Enthüllt ihm hier die Gruppen tiefen Weh's,
Die Gegenden der Sorgen, düstre Schatten,
Wo Friede nicht, noch Ruhe je verweilt,
Wohin selbst Hoffnung, die sonst Allen naht,
Nicht kommen kann; nur endlos grimme Pein
Mischt sich der Feuerflut, genährt von Schwefel,
Der ewig brennt und nimmer sich verzehrt.
Solch einen Ort erschuf der ewge Richter
Für die Empörer, deren Kerker hier
Aus tiefstem Dunkel gähnt, daß sie von Gott
Und Himmelslicht drei Mal so weit entfernt,
Als wie der Mittelpunkt vom letzten Pol.
Wie ungleich jenem Raum, aus dem sie fielen! JOHN MILTON

nochmal WILLIAM BLAKE

Kenneth Anger - Lucifer Rising (1973)
http://video.google.com/videoplay?docid=1710883728662460695#



Donnerstag, 30. Dezember 2010

Tschaikowsky - Genie und Wahnsinn


1970 von Ken Russell gedrehter Film (Originaltitel "Music Lovers), nach einem Drehbuch von Melvyn Bragg und in den Hauptrollen Richard Chamberlain (Dornenvögel!) als Tschaikowsky und keine Geringere als Glenda Jackson in der Rolle der Antonina Miliukova. 
Wenn ihr mal Lust auf einen absurd schlechten Film habt, in dem sich anständige, und im Fall von Glenda Jackson sogar großartige, Schauspieler völlig verausgaben, mit dem Ergebnis, dass sie sich somit ganz und gar zum Löffel machen, dann ist dieses Werk die richtige Wahl. 
Glückliches Hüpfen über eine grüne Wiese, geiles Herumrollen in einem Eisenbahnwagon und die grauenhaft komischsten Emotinaldarstellungen unbefriedigter Sexualität, die ich jemals die Freude hatte, sehen zu dürfen, natürlich unterlegt mit dicker Tschaikowsky Musik. Und das Ganze ist auch noch wirklich gut gemeint, da es uns einen TIEFEN Einblick in die gequälte Seele des Komponisten und seiner nymphomanischen Freundin Nina geben möchte. 
Ich habe lange Zeit in der Erwartung geguckt, dass die Darsteller irgendwann in die Kamera schauen und mich angrinsen: "War nicht so gemeint, ist bloß ein Spaß!" Passierte aber nicht. Schade und dann auch wieder nicht, denn wenn man die anfängliche ungläubige Starre überwunden hat, kann man wirklich viel Vergnügen haben. 

Das ist ein Bild aus der Verfilmung der "Zofen" von Genet. Interessanter Versuch, sicher nicht mehr ganz taufrisch, aber in seiner Zeit mutig. Rechts ist Glenda Jackson! Links Susannah York.

Mittwoch, 29. Dezember 2010

Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao von Junot Diaz


Rückfahrt von Ingolstadt mit der Deutschen Bahn, nur 30 Minuten Verspätung und es war egal, weil ich so mein heutiges Buch noch zu Ende lesen konnte. Soviel Romane habe ich lang nicht mehr gelesen!
"The wondrous life of Oscar Wao" - wondrous kann man mit seltsam oder wundersam übersetzen und warum der deutsche Verlag mit dem "kurzen Leben" unnötige, ja sogar störende Vorinformationen geben muss, weiss ich nicht. 
Aufstehen und losgehen, in der Bibliothek ausleihen, kaufen, stehlen, egal. Muss gelesen werden! Ich hoffe, die deutsche Übersetzung kann der wundersamen, seltsamen, herrlichen, meschuggenen Sprache von Junot Diaz halbwegs gerecht werden, ich hoffe sehr. Eingestreut eine Menge Spanisch, unübersetzt und mal verständlich, mal nur Klang. 
Und eine Geschichte, 10 000 Geschichten über die Bewohner eines Landes, der Domikanischen Republik, viele davon in der Diaspora über die Welt verstreut, diese hier die in New Jersey gestrandet. Das Schicksal einer Familie und aller die mit ihr in Berührung kommen, getrieben, vertrieben durch die politischen Schrecklichkeiten ihrer Heimat, die sie erleiden und mitmachen, getragen von den Mythen einer Völkergemischs aus fünf Kontinenten, einsortiert nach Farben, Schattierungen und sozialer Herkunft, reich durch alltäglichen Zauber, gepeinigt von unsäglicher Gewalt, beglückt und geplagt von jeder Menge Sex und immer, wirklich immer voll Liebe. Das Buch hat mich atemlos entlassen. Es erzählt die grausamsten Dinge ohne jede Weinerlichkeit, es beschreibt seine Figuren so, dass man sie unbedingt kennenlernen will und es glaubt, im Angesicht von allem zu dem der Mensch fähig ist, an die Liebe. Wunderbar, herrlich, herzzerreissend, lustig, absurd, tragisch und wahr.


Montag, 27. Dezember 2010

Die Bahn und die Literatur

Ich glaube mich zu erinnern, dass ich kürzlich einen lobenden Text über die Deutsche Bahn verfasst habe. Jetzt folgt noch einer. 
Wie es begann: Ich wollte nach Ingolstadt. Mit der Bahn. Es ist Winter. 
4 Stunden Hauptbahnhof Berlin und eine Reihe von interessanten An-und Aussagen später - "Da der Zug heute immerhin 70 Minuten Verspätung hat, fährt er nur bis Leipzig." oder "Wir warten nur noch auf unser Zugpersonal und können keine Angaben zur Abfahrtszeit machen." oder "Nein, der Zug über Göttingen kommt erst in einer Stunde, und der über Nürnberg fährt von Gleis 2 - Ups, jetzt ist er weg!" sitze ich immer noch in Berlin, ABER ich habe zwei Romane gelesen, den zweiten dann im Bett, weil ich so durchgefroren war. 
Der eine: "The Filmclub" von David Gilmour (in deutsch"Unser allerbestes Jahr", was haben deutsche Verlage und Verleihe doch für ein feines Talent bei Titelerfindungen!), ein kleines Buch über den Versuch eines Vaters seinem Sohn den Weg durch die Pubertät zu erleichtern. Der sechzehnjährige Sohn versagt in der Schule, fängt an zu lügen und zu saufen - der Vater schlägt ihm einen Handel vor, der Sohn darf die Schule schmeißen, wenn er mit dem Vater dreimal in der Woche einen Film anschaut. Der Sohn willigt ein und sie gucken Filme. Wild durch die Filmgeschichte mit kleinem Einleitungsvortrag des Vaters, und danach muß der Sohn einen Satz zu dem Film formulieren, wirklich nur einen Satz. Der Autor ist Kanadier, was seinen Hang zur höflichen Formulierung erklärt, aber er hat auch eine Gelassenheit im Denken, die mir zwar fremd, aber auch sehr angenehm ist.
Das zweite Buch: "One Day" ("Zwei an einem Tag" Siehe oben) von David Nicholls, one day kann übrigens sowohl 'ein Tag', als auch 'eines Tages' heißen, ein wunderbare Geschichte für Leute über 40. Klingt schauderhaft, ist es aber keineswegs. Zwei Menschen schlafen 1988 fast miteinander und werden Freunde und für jedes Jahr werden die Ereignisse des Jahrestages dieses ersten Treffens erzählt, die Ereignisse des 15.Juli. Es gibt eine Szene, wo der Mann sein Kind für einen Abend hütet und zunehmend betrunken versucht, das weinende Baby zu beruhigen. Das ist so trocken (haha) und detailliert beschrieben, dass ich das Ende des Kapitels vor-lesen musste, weil ich panisch wurde, es könnte etwas Schreckliches passieren. 
Also zum Fazit, die deutsche Bahn hat es mir ermöglicht, zwar meinen Termin in Ingolstadt zu verpassen, aber dafür zwei Romane zu lesen. Es lebe die deutsche Bahn! Und wenn ich morgen früh um 5.45 Uhr wieder nicht wegkomme, erschlage ich einen Bahnangestellten und kann dann im Gefängnis ganz viel lesen!

Sonntag, 26. Dezember 2010

Bertolt Brecht Zwei Weihnachtsgedichte

 

Die gute Nacht
 
Der Tag, vor dem der große Christ 
zur Welt geboren worden ist, 
war hart und wüst und ohne Vernunft. 
Seine Eltern, ohne Unterkunft, 
fürchteten sich vor seiner Geburt, 
die gegen Abend erwaret wurd, 
denn seine Geburt fiel in die kalte Zeit. 
Aber sie verlief zur Zufriedenheit. 
Der Stall, den sie doch noch gefunden hatten, 
war warm und mit Moos zwischen seinen Latten, 
und mit Kreide war auf die Tür gemalt. 
daß der Stalll bewohnt war und bezahlt. 
So wurde es doch noch eine gute Nacht, 
auch das Heu war wärmer, als sie gedacht. 
Ochs und Esel waren dabei, 
damit alles in der Ordnung sei. 
Eine Krippe gab einen kleinen Tisch, 
und der Hausknecht brachte heimlich einen Fisch. 
(denn es mußte bei der Geburt des großen Christ 
alles heimlich gehen und mit List.) 
Doch der Fisch war ausgezeichnet und reichte durchaus 
und Maria lachte ihren Mann wegen seiner Besorgnis aus 
denn am Abend legte sich sogar der Wind, 
und war nicht mehr so kalt, wie die Winde sonst sind. 
Aber bei Nacht war es fast wie ein Föhn, 
Und der Stall war warm und das Kind war sehr schön. 
Und es fehlte schon fast gar nichts mehr, 
da kamen auch schon die Dreikönig daher! 
Maria und Joseph waren zufrieden sehr. 
Sie legten sich sehr zufrieden zum Ruhn 
Mehr konnte die Welt für den Christ nicht tun.

Maria

Die Nacht ihrer ersten Geburt war

Kalt gewesen. In späteren Jahren aber
Vergaß sie gänzlich
Den Frost in den Kummerbalken und rauchenden Ofen
Und das Würgen der Nachgeburt gegen Morgen zu.
Aber vor allem vergaß sie die bittere Scham
Nicht allein zu sein
Die dem Armen eigen ist.
Hauptsächlich deshalb
Ward es in späteren Jahren zum Fest, bei dem
Alles dabei war.
Das rohe Geschwätz der Hirten verstummte.
Später wurden aus ihnen Könige in der Geschichte.
Der Wind, der sehr kalt war
Wurde zum Engelsgesang.
Ja, von dem Loch im Dach, das den Frost einließ, blieb nur
Der Stern, der hineinsah.
Alles dies
Kam vom Gesicht ihres Sohnes, der leicht war
Gesang liebte
Arme zu sich lud
Und die Gewohnheit hatte, unter Königen zu leben
Und einen Stern über sich zu sehen zur Nachtzeit.


Bertolt Brecht


 

Samstag, 25. Dezember 2010

Das Theater riecht.


Theater riechen. Sie riechen wie nur Theater riechen. Ich meine den Teil hinter der Bühne, die Bühne selbst, die Spielergarderoben, die Räume der Maske, Requisite, Fundus usw., der Geruch variiert, die Balance der Zusammensetzung variiert, mehr Fettschminke oder Schmieröl, noch eine Prise Anti-Mottenmittel oder ein kräftiger Schuß staubiger Samt, aber der Grundgeruch bleibt konstant. Merkwürdigerweise riechen Zuschauerräume anders, als wäre da eine unsichtbare Duftbarriere, die den Zauberduft nicht durchläßt, das Publikum von ihm ausschließt. Ich habe mal ein Jahr an der Uni gearbeitet, nach circa einem halben Jahr gab mir ein Mann eine Führung durch ein wunderschönes Theatergebäude aus dem 19. Jahrhundert, ein Zuschauerraum mit riesigem herunterfahrbaren Kronenleuchter, jeder Menge Stukkatur und weichgepolsterten Klappsitzen bezogen mit rotem Samt. Sehr schön. Dann hinter die Bühne, Putz bröckelt, lange nicht frisch gestrichen, eng und leicht schmuddelig - und da war er wieder der Duft, das "Parfum" von Schweiß, Staub, Schminke, Aufregung, Hektik, Liebe und ???, und ich merkte, wie sehr ich ihn vermißt hatte. Prima noch eine Abhängigkeit mehr! Sogar Freilichtbühnen haben diesen Geruch, nur verdünnt durch frische Luft, ganz was theaterfremdem. 
Ich habe vor Jahren mit einem zauberhaften, sehr alten Regisseur gearbeitet, der gelegentlich während der Proben einschlief, nur um bei Probenschluß hellwach genaue und strenge Kritik zu geben - ein Kollege meinte, man müßte ihm 10 Zwerge schenken, so dass er zu Hause als Pensionär weiterinszenieren könne - ich hätte dann gern ein Flakon Theaterduft, am allerliebsten den von der Hinterbühne des Deutschen Theaters in Berlin.

Freitag, 24. Dezember 2010

In The Bleak Midwinter - Mitten im bleichen Winter


Christina Rossetti 1830 in London geboren, 1894 ebendort gestorben. 
Ihr Bruder, Dante Gabriel Rossetti, war der führende Kopf der präraphaelitischen Bruderschaft, einer Gemeinschaft von Künstlern, der auch William Holman Hunt und John Everett Millais angehörten.

Tiefgläubig, blieb sie, trotz zweier intensiver platonischer Liebesbeziehungen, unverheiratet, den einen Geliebten verließ sie, als er zum Katholizismus übertrat, die Verlobung mit dem zweiten löste sie aus 'religiösen Gründen'. Sie kränkelte nahezu ihr ganzes Leben lang und starb dann, nach langer schrecklicher Leidenszeit, an Krebs. Ihr Bruder nutzte sie als Modell, unter anderem für die Jungfrau Maria.



Mitten im bleichen Winter


In the bleak midwinter, frosty wind made moan,
Earth stood hard as iron, water like a stone;
Snow had fallen, snow on snow, snow on snow,
In the bleak midwinter, long ago.

Mitten im bleichen Winter, kalter Wind wie Schrei'n, 
Erde hart wie Eisen, Wasser wie ein Stein.
Schnee auf Schnee und Schnee auf Schnee, es hat sehr geschneit,
Mitten im bleichen Winter, vor sehr langer Zeit.


Our God, Heaven cannot hold Him, nor earth sustain;
Heaven and earth shall flee away when He comes to reign.
In the bleak midwinter a stable place sufficed
The Lord God Almighty, Jesus Christ.

Unser Gott, die Erd' kann ihn nicht halten, der Himmel nicht nähren Ihn, 
Der Himmel und die Erde werden, wenn Er dann herrscht, entfliehn.
Doch mitten im bleichen Winter ein Stall ausreichend ist, 
Für unseren allmächtigen Herren, Jesus Christ.

Enough for Him, whom cherubim, worship night and day,
Breastful of milk, and a mangerful of hay;
Enough for Him, whom angels fall before,
The ox and ass and camel which adore.

Genug für ihn, dem Cherubim huldigen, bei Tag und Nacht, 
Eine Brust voll Milch und ein Lager von Heu gemacht.
Genug Für Ihn, vor dem selbst Engel niederknien,
Ochs' und Esel und Kamel, denn die lieben ihn.

Angels and archangels may have gathered there,
Cherubim and seraphim thronged the air;
But His mother only, in her maiden bliss,
Worshipped the beloved with a kiss.

Engel und Erzengel sind vielleicht dorthin gezogen, 
Cherubim und Seraphim haben ihn dicht an dicht umflogen;
Doch nur seine Mutter, jungfräulich und rein, 
Huldigte dem Geliebten mit einem Kuss allein. 

What can I give Him, poor as I am?
If I were a shepherd, I would bring a lamb;
If I were a Wise Man, I would do my part;
Yet what I can I give Him: give my heart.

Was kann ich Ihm geben, ich armer Mann?
Wäre ich ein Hirte, brächt' ich Ihm ein Lamm.
Wäre ich ein weiser Mann, würde ich ihn begrüßen.
Doch was kann ich geben: mein Herz zu seinen Füßen.  


Christina Rossetti

Die Übersetzung ist ein erster Versuch, keineswegs ausreichend. Es gibt auch eine wunderbare Vertonung von Gustav Holst!

http://www.youtube.com/watch?v=xRobryliBLQ