Mittwoch, 2. Mai 2018

Krise beim Besuch von Castorfs "Faust"

Ich gehe noch immer gern ins Theater, und oft, und durchlaufe dabei zyklische Krisen. Hasse alles, urteile mild, bin offen. 
Seit einiger Zeit aber knirscht es mächtig in meinem Gebälk. Es häufen sich die apokalyptischen Abende, die, die die Lebenslust schon hinter sich haben. Der Mensch ist bös, ihm ist nicht zu helfen. Ein hartes Fazit, und nur mit ironischer Brechung zu vermitteln, weil wir, die Zuschauer, uns ja sonst nach Vorstellungsende, in klarem Einverständnis, eine Weißweinschorle trinkend, die Pulsadern unserer weißen priveligierten Arme öffnen würden. Tun wir aber nicht. Wir gehen nur angeregt ins Bett. 
Meist sind die Regisseure, beruflich erfolgreich, deutsch und über Fünfzig.
Stefanie Reinsperger bot in Thalheimers "Kaukasischem Kreidekreis" ihre beeindruckende Kraft dafür auf, zu erleiden, zu zucken, zu unterliegen. Valery Tscheplanowa hat heute abend in Castorfs "Faust", ziemlich allein, ihr würdevolles Frau- und Schauspielerin-Sein in die Wagschale der Menschlichkeit gelegt. Die anderen Spieler, großartig, hochartifiziell und vital zelebrierten ausgiebig den lustzitternden Untergang. 
Ich will leben, will das meine Lieblingsnichte ein gutes Leben leben kann, habe also keinerlei dekadente Freude an unserer baldigen Vernichtung.
Härte, brutale Genauigkeit bei der Analyse unserer Geschichte ist immens wichtig, aber mit welchem Ziel? Selbstverachtendes Amüsement? Masochistische Geiselung? Erschöpfter Zynismus bekümmert mich. Wo ist unser Widerstand? Gegen uns selbst. Gegen depressiv behauptete Unvermeidbarkeit, Unveränderlichkeit? Ich mag mir solche Selbstverachtung, solche Lust an unserer Schuld nicht leisten, weil ich sicher bin, dass ich bald sterbe und andere, auch die Lieblingsnichte, weiterleben werden.

Ich habe heute einen beeindruckenden Theaterabend gesehen, den ich nicht mag, weil er sich vergnügt in der Aussichtslosigkeit unserer Gesellschaft. Ich will Wut, Trauer, Schuldgefühl, Verzweiflung, Widerstand. 


Valery Tscheplanowa (Deutschlandradio / Sandro Most)
 

„Ja, es wäre der Mühe wert, das Verhalten Hitlers und des Hitlerismus einer detaillierten klinischen Studie zu unterziehen und dem ach so distinguierten, ach so humanen, ach so christlichen Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts mitzuteilen, dass Hitler in ihm ‚haust‘, dass Hitler sein ‚Dämon‘ ist, dass er, wenn er ihn rügt, einen Mangel an Logik verrät, und dass im Grunde das, was er Hitler nicht verzeiht, nicht das ‚Verbrechen‘ an sich, das ‚Verbrechen am Menschen‘, dass es nicht ‚die Erniedrigung des Menschen an sich‘, sondern dass es das Verbrechen gegen den weißen Menschen ist, dass es die Demütigung des Weißen ist und die Anwendung kolonialistischer Praktiken auf Europa, denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas ausgesetzt waren."
Aimé Fernand David Césaire

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