Sonntag, 25. März 2018

Terra Incognita in Cottbus

Menschen in schwarzen Uniformen, den Kopf und die Hälfte des Gesichts verdeckt, ISIS-Assoziationen kommen auf, trommeln sich eine Viertelstunde hochpräzise in Ekstase, dann ertönt die Schlußrede aus dem "Großen Diktator" *, gefühlvolle Musik wird eingespielt, die Trommler legen ihre Kopfverhüllungen ab, treten langsam an die Rampe, schauen uns an, legen die Arme um die Schulter ihres Nachbarn, manche umarmen sich.
So endete der heutige Theaterabend in Cottbus. Terra Inkognita - Choreographisches Figurentheater von Jo Fabian.
Ist es mein durch schwierige Osterfahrungen geprägtes Mißtrauen gegenüber gutgemeinten moralischen Utopien, das mich zurückschrecken ließ? Ich habe unwillkürlich geprustet, hysterisches Gurgeln würde es auch beschreiben. Bin ich pessimistisch, gar zynisch oder ist solch ein Aufruf doch allzu harmlos und simpel für die Welt, in der wir alle leben?
Meine erste Begenung mit Jo Fabian hatte ich vor vielen Jahren in Dresden. Ein kleines Theater, ein toller Abend. Alle Spieler auf der leeren Bühne hatten zierliche Melkschemmel umgeschnallt, was ihre Wechsel vom Stehen zum Sitzen und vice versa großartig überraschend machte. Ich erinnere mich an den Eindruck einer neuen Erfahrung von Komposition von Klängen und Bewegungen.  Jahre später "Die Weber" in Halle. Hypnotisch, gedehnt, Bilder von exotischer Schönheit. 
Heute abend wußte ich vieles vorher, Zitate überwogen - Marthalers Musikalität, Trommelnummern, ehemals waghalsige Impro-Übungen der östlichen Schauspielausbildung. 

 
"Haben wir Menschen unseren Blick zu lange nach außen gerichtet, die Blicke auf die unbekannten Gebiete in uns selbst vernachlässigt und zu wenig über uns selbst erfahren?"
Jo Fabian zu "Terra Icognita
 
Was ist dieses INNEN?

Frau Piekenbrock (Volksbühne) benennt es so: Besagte Irritation führt... sie... darauf zurück, dass die geladenen Künstler ihre Zuschauer "ins Jenseitige" einladen: jenseits des Verstandes, des Hörbaren, des Sehbaren."
Denken soll ich nicht. Hören und Sehen auch nicht?
Ich will denken dürfen! Sehen und Hören und Widersprüche ertragen.

Bei "Murx den Europäer! / Murx ihn! / Murx ihn! Murx ihn! / Murx ihn ab!" war ich fast brüskiert, wie gut ein Schweizer meine schreckliche, öde DDR beschrieb.

Irgendwas geht am Theater vor, dass mich ängstigt. Innenschau anstatt Irritation. Privatismen ersetzen Gesellschaftskritik. 

Im Teil 2 des heutigen Abends trafen sich Klischees der deutschen Innenschau, der Jude, der Pfarrer, die hysterische Frau, der islamistische Fremde, der Arbeiter etc. aufeinander. Der Jude jiddelte eher schlecht als recht.

Der 16. Januar 1993. Vor zehn Jahren hatte an der Volksbühne dieses Unding Premiere, ein Findling des Berliner, des deutschsprachigen, ja des Welt-Theaters: „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!“ So hieß das. Den Regisseur Christoph Marthaler kannten damals erst wenige, und noch viel weniger bekannt (und tief vergessen) war der Namensgeber Paul Scheerbart, der 1915 in Berlin gestorbene literarische Fantast und Schwerenöter, aus dessen „Indianerlied“ dieser endlose schöne Theater-Titel stammt. Heute Abend findet nun die 169. Vorstellung in nahezu unveränderter Originalbesetzung statt – und „Murx“ ist lange schon ein kultisches Ereignis, wie vielleicht nur Heiner Müllers unaufhaltsamer „Arturo Ui“ am Berliner Ensemble. Wie auch Frank Castorfs Volksbühne als Gesamtkunstwerk: enigmatisch, praktisch, unersetzlich.
https://www.youtube.com/watch?v=thCMlPYe2I0 

*Jeder Mensch sollte dem Anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt! Wir sollten am Glück des Anderen teilhaben und nicht einander verabscheuen. Hass und Verachtung bringen uns niemals näher! Auf dieser Welt ist Platz genug für jeden und Mutter Erde ist reich genug, um jeden von uns satt zu machen.
Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein, wir müssen es nur wieder zu leben lernen! Die Habgier hat das Gute im Menschen verschüttet und Missgunst hat die Seelen vergiftet und uns im Paradeschritt zu Verderb und Blutschuld geführt. Wir haben die Geschwindigkeit entwickelt, aber innerlich sind wir stehen geblieben. Wir lassen Maschinen für uns arbeiten, und sie denken auch für uns. Die Klugheit hat uns hochmütig werden lassen und unser Wissen kalt und hart, wir sprechen zu viel und fühlen zu wenig, aber zuerst kommt die Menschlichkeit und dann die Maschinen! Vor Klugheit und Wissen kommt Toleranz und Güte! Ohne Menschlichkeit und Nächstenliebe ist unser Dasein nicht lebenswert!
Aeroplane und Radio haben uns einander näher gebracht, diese Erfindungen haben eine Brücke geschlagen von Mensch zu Mensch, sie erfordern eine umfassende Brüderlichkeit, damit wir alle eins werden. Millionen Menschen auf der Welt können im Augenblick meine Stimme hören, Millionen verzweifelte Menschen, Opfer eines Systems, das es sich zur Aufgabe gemacht hat Unschuldige zu quälen und in Ketten zu legen. Allen denen, die mich jetzt hören, rufe ich zu: Ihr dürft nicht verzagen! Auch das bittere Leid, das über uns gekommen ist, ist vergänglich! Die Männer, die heute die Menschlichkeit mit Füßen treten, werden nicht immer da sein, ihre Grausamkeit stirbt mit ihnen und auch ihr Hass! Die Freiheit, die sie den Menschen genommen haben, wird ihnen dann zurückgegeben werden. Auch wenn es Blut und Tränen kostet, für die Freiheit ist kein Opfer zu groß!

Charlie Chaplins Schlußrede im "Großen Diktator"

Freitag, 23. März 2018

Exotische Berliner Dörfer

Ich bin Berliner. Mit Leib und Kopf und Seele. 
Natürlich spreche ich auf der Bühne Hochdeutsch, doch dem rigorosen Rat einer älteren, bewunderten Kollegin, mein Berlinerisch gänzlich auszumerzen, konnte und wollte ich nie folgen. Der raue Dialekt meiner Heimatstadt liegt mir gut im Mund und entspricht meiner Haltung zur Welt, unsentimental, direkt, manchmal auch unhöflich. 

In den letzten Tagen habe ich Orte in Berlin besucht, an denen ich vorher noch nie war. 

Jeder Berliner Kiez ist ein Dorf, das der Einwohner nur verläßt, wenn zwingende Umstände vorliegen. In Rudow bin ich nie wissentlich gewesen, auch nicht in Frohnau, Wilhelmsstadt oder Blankenfelde. Durch andere Ortsteile bin ich nur durchgefahren. Blankenburg und Rosenthal kenne ich nur, weil Kindheitsfreunde dort in Kleingartenanlagen Datschen hatten. 
Aber sonst. Warum soll ich dahin, wenn keiner da wohnt, kein Theater oder Kino lockt oder ein besonderes Restaurant? 
Auf die Heerstrasse brachte mich die Terminzwangslage der Berliner Ämter, vorher gab es die nur als Abfahrt auf der Stadtautobahn. Mitte ist mein Intimfreund, im Prenzlauer Berg und in Lichtenberg und Friedrichshain habe ich viele Jahre gewohnt. Aber Weißensee? Da fahre ich durch, wie auch durch Hellersdorf und Marzahn, wenn ich Richtung Strausberg reise. 
Aber nun suchte ich jemanden der alte Schirme repariert. Und wahrlich es gibt nur noch EINEN solchen Handwerker in der Stadt. Gesucht habe ich ihn in Neu-Kölln im Afrikanischen Viertel, wo die Straßennamen einem unsere widerliche Kolonialvergangenheit laut ins Gesicht brüllen. Aber von da war er weggezogen nach Steglitz. In eine niedliche kleine Straße mit einem tollen Gewürz-Laden. Sein Laden war ganz klein, ganz ungeschmückt, Schirme allüberall, und meine, von meiner Mutter geerbten, Teile nannte er mit sanfter Stimme von allerfeinster Art. Und in der Kantstrasse in Charlottenburg reparieren sie alte Feuerzeuge. Und in einer Seitenstrasse der Schönhauser Allee flicken zwei mittelalte Vietnamesinen zerrissene Kleidung. Irgendwie war ich also  unterwegs, um Altes nicht wegschmeissen zu müssen. Aber den uralten Kürschner auf der Kantstraße gibt es nicht mehr und der Buchladen vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt ist einem Steak-House gewichen. Vielleicht bin ich doch sentimental.

Zum Abschluß Bratkartoffeln bei ROGACKI in der Wilmersdorfer. Mehr Berlin geht nicht. Wenn auch in edelteuer. Blutwurst und Erbsensuppe neben Schnecken und Austern, alle stehen, alle fressen.
  
Ich bin Berliner. Die Stadt ist toll. Weil sie, wie alle wahrhaften Großstädte, immer wieder Überraschungen bietet. Es gibt in ihr unzählige Welten, nebeneinander existierend. Junge Leute kennen Clubs, von denen ich noch nie gehört habe und über die ich auch nichts wissen muß. Alte Berliner gehen zu ihrem bevorzugten Tanztee. Manche Strassen sind grottenhäßlich und andere nicht. Alles das existiert gleichzeitig und tut sich nicht weh. Wenn man von schwäbischen und anderen Zugezogenen absieht, die auf idiotische Sperrstunden und Lärmschutzregelungen bestehen. Der gemeine Berliner schläft nämlich bei jeder Lautstärke.


Hier habe ich gewohnt von 1962 bis 1975
Die steinerne Bank an der Monbijoubrücke ist mein schönster Ort in Berlin. Keine Currywurst ist besser, als die von Konoppke, im Tiergarten kann man Boot fahren, im Saal hinter der Nofretete steht eine schönere Nofretete oder ist es doch Echnaton? Mein Kinder-Berlin ist weg. Aber meine alte Stadt lebt und es geht ihr gut. Trotz Chris Dercon, trotz Gentrifikation und schnellsterbenden Startup-Läden. 
Aber was mir Sorgen macht, das Haus mir gegenüber wird für zwei Jahre generalsaniert. Edeka und DM kommen vielleicht wieder. Aber wird sich das Seniorenheim dann die neue, und sicher viel höhere Miete noch leisten können? Ich mochte die Idee, dass man, wenn man alt ist und nicht mehr fähig allein zurecht zu kommen, doch in der Mitte der Stadt bleibt, draußen aber nicht ausgeschlossen.

Mittwoch, 21. März 2018

Über Leben in Demmin

http://www.demmin-film.de/ 

Warum sind wir wie wir sind? Unbelehrbar, immer wieder den gleichen Dreck wiederholend? Wir werden schuldig, nehmen dann aber die zu erwartende Strafe übel. Hassen den Strafenden. Reden unseren Anteil an der Schuld klein oder verleugnen ihn gänzlich. Der FEIND wird zum Monster. Das Monster in uns wird schön geredet.

http://www.sueddeutsche.de/politik/massenselbstmord-rasierklingen-revolver-zyankali-der-strick-1.2416333

Bitte zuerst den Artikel lesen! 

Demmin, eine übliche Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern in Nazi-Deutschland 1945. Der Krieg ist fast vorbei. Alle Brücken wurden gesprengt, die Stadt ist umgeben von drei Flüssen, Peene, Trebel und Tollense. Kurzzeitig eine Insel. Die Russen drängen voran. Schauermärchen vermischen sich im Kopf der Demminer Bürger mit den wahrlich schrecklichen Realitäten. Die Stadt brennt. Waren es die zurückgelassenen Zwangsarbeiter einer naheliegenden Fabrik oder waren es rachelüsterne Rotarmisten? Niemand weiß es. Ich stelle mir vor wie nichteinmal Zwanzigjährige, sich zu Fuß durch ihr verbranntes Land zurückkämpfende russische Soldaten endlich auf den FEIND treffen, da war wenig Mitgefühl zu erwarten. Die imaginierten Schrecklichkeiten in den Köpfen der deutschen Kleinbürger müssen grauenvoll gewesen sein.
Mütter banden sich mit Gürteln und Stricken ihre Kinder um den Leib und ertränkten sich. Manche zogen das Erhängen vor. Andere Gift und ungeschickte Versuche sich die Pulsader aufzuschlitzen.
Zu DDR-Zeiten wurde nicht darüber gesprochen.
Heute marschiert die NPD an jedem 8. Mai zum Gedenken an die deutschen Opfer mit einem Trauermarsch durch die Stadt.

Zwischen dem 30. April und dem 3. Mai nehmen sich mindestens 700 Menschen das Leben. Andere Schätzungen, exakte Zahlen gibt es wegen fehlender Totenscheine nicht, gehen von 1.000 Demminer Selbstmorden aus.

http://www.deutschlandfunk.de/koerbe-voller-zyankali-der-groesste-selbstmord-der.700.de.html?dram:article_id=316610 

"Nach dem Verlöschen von Führer und Reich fürchteten sie, in der Leere zu versinken. Das Nichts wurde fühlbar. Die Horrorgeschichten über die Rote Armee hatten eine Atmosphäre der Furcht verbreitet, dass nach ihrem Sieg die Alliierten das deutsche Volk auslöschen würden. Bestenfalls stand ein Leben in Unterdrückung bevor. Dazu kam der kollektive Sinnverlust jener, die die Werte des Nationalsozialismus zwölf Jahre lang verinnerlicht hatten. Die moralischen, gesellschaftlichen und quasireligiösen Normen, die die Volksgemeinschaft ausgemacht hatten, brachen zusammen."

Florian Huber: "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945."

Über Leben in Demmin
Dokumentarfilm von Martin Farkas, Kamera Roman Schauerte, Zweite Kamera Martin Langner/ Martin Farkas, Ton Moritz Springer und Urs Krüger, Komposition Mathis Nitschke, Montage Jörg Hauschild/Catrin Vogt
eine Koproduktion mit dem rbb (Jens Stubenrauch), NDR (Barbara Denz), BR (Petra Felber und Fatima Abdollyan)
gefördert vom Medienboard Berlin Brandenburg, der BKM, Nordmedia, Filmbüro MV und dem Nipkow- Programm
Produktionskoordination Lisa Elstermann
Herstellungsleitung Heike Günther
Produktion Annekatrin Hendel
Buch und Regie Martin Farkas

IT WORKS! Medien GmbH   

Montag, 19. März 2018

The Shape of Water - ET hat Kiemen und Sex


Der Amphibienmensch, ein sowjetischer Spielfilm aus dem Jahre 1962, lief oft vormittags im Ostfernsehen. Alle zwei Wochen hatten wir Mittwochs erst um 12 Unterricht und entweder habe ich mir den herrlich wütenden Wehner im Bundestag reingezogen oder was immer eben an Filmen lief. Den Amphibienmenschen sicher fünf Mal. Ich hab den geliebt. 

Science Fiction überhaupt, Buch oder Film, nur keine Zukunftskriegsgeschichten.
Asimov, Herbert, Philipp K. Dick, Lem; die ersten drei Star Wars Filme, ET, Starman, Alien, Unheimliche Begegnungen der Dritten Art, Matrix Teil 1 und und und.

Heute Abend nun der oscarprämierte The Shape of Water - Das Flüstern des Wassers (Hä?!?) von Guillermo del Toro - er hat von allen diesen Filmen etwas und Zitate aus den Spionagethrillern aus der Zeit des Kalten Krieges und den Musicals der 30er und ein bisschen Amelie und die großen Augen des Reptiliden sind wie die von ET und ein kleines zartes Mädchen, anstatt des kleinen Jungen rettet ihn; und alles ist vorhersehbar, und entweder Zitat oder Allegorie, ein Fünfsterne General poetisiert sinnlos vor sich hin, die Spione haben lyrische Losungsworte, am Ende kommt zu allem Überfluß noch ein Liebesgedicht. Nichts davon kann verbergen, dass es sich um eine ganz gewöhnliche Kitsch-Romanze handelt, die zugegebenermaßen sehr gut photographiert wurde.
Ohne eine gewisse Unschuld funktioniert Science-Fiction für mich nicht. Del Toro hat alles richtig gemacht und ich soll ihn dafür bewundern. Will ich nicht. Mochte ich nicht.
 

Der Nackte Wahnsinn

LLOYD: Hört mal, Leute, da wir sowieso unterbrochen haben. Schön, wir haben zwei Tage zum Aufbauen gebraucht, also ist keine Zeit für eine Generalprobe. Macht euch keine Sorgen. Betrachtet die Premiere als Generalprobe. Wir lassen es jetzt einmal durchlaufen und konzentrieren uns auf die Türen und die Sardinen. Auftritte, Abgänge. Sardinen rein, Sardinen raus. Das ist Farce. Das ist Theater. Das ist Leben. Und immer dranbleiben. Zack, zack, zack. Zack, du bist draußen. Zack, du bist fertig. Zack, du bist ab. Dann läuft alles wie von ... Wo ist Selsdon?


Sechs Wochen üben ohne Unterlass. Unterbrochen nur von Grippeattacken, Gastspielen, Wiederaufnahmen etc., eben dem Stadttheateralltag. 
Sechs Wochen Tür auf - Tür zu, Treppe hoch - Treppe runter, Sardinen rein, Sardinen raus, Anschlüsse, Anschlüsse und bloß an der richtigen Stelle atmen. Beim Üben gibt es wenig Freiheit, erst wenn alles bis zur Erschöpfung trainiert ist, wird der Freiflug möglich. Zu Beginn geht gar nichts, dann herrscht blanke Hektik und im Glücksfall wird in der letzten Probenwoche daraus fokussierte Schnelligkeit. Frayn hat das Ding mit seiner Stoppuhr im Anschlag geschrieben. Wir mußten uns seiner Strenge ergeben und konnten nur dadurch unsere Eigenheit einbringen. 
Der erste Akt braucht 56 Minuten, Akt 2 und 3 eine Stunde.
Alle bewegen sich panisch auf sehr dünnem Eis, selbst ich, die ich Tempo liebe, brauchte Atempausen. Slow-Motion, Zeit anhalten, Verlangsamung.
Das Ding probieren mit Beamtenspielern oder anderen mißgelaunten Leuten wäre der reinste Horror. Ich hatte Glück. Alle wollten und konnten.

Aus dem Programmheft:

TÜREN
Ein Requisit, aus dem sich unbegrenzt theatralisches Kapital schlagen lässt
Einer der zugleich alltäglichsten und merkwürdigsten Gegenstände, die es auf der Welt gibt, ist die Tür. Man weiß nicht sehr genau, was eine Tür ist. Ist sie sie selbst, wenn sie offen oder wenn sie geschlossen ist? Ist sie also eine Öffnung oder ist sie ein Verschluss? Eine Tür ist aber nicht nur offen oder geschlossen, sie verändert mit ihrem Zustand auch den angrenzenden Raum. In einem geschlossenen, privaten Raum können und werden ganz andere Dinge stattfinden als in einem offenen, öffentlichen Raum. Oft bedeutet im Märchen der Schritt durch eine Tür oder Pforte den Schritt in einen anderen Raum, eine andere Form des Daseins. Die Tür ist nicht nur ein Gegenstand der wirklichen Welt, sie ist ein Symbol, sie öffnet sich nicht nur in einen zweiten Raum hinein sondern eine andere Wirklichkeit.
Dass die Tür mit dieser Verwandlung eines Raumes etwas wirklich Neues in die Welt gebracht hat, dass sie ähnlich wie das Rad die Welt auf fundamentale Weise verändert hat, sieht man am besten im Theater. Türen sind im Theater Hort unendlicher Missverständnisse. Wenn einer hinausgeht, um einen anderen zu holen, den er zum Dritten führen will, verschwindet dieser Dritte durch eine andere Tür, und es beginnt eine Verwirrung, die sich immer weiter verfeinern und nutzen lässt. Die französische Salonkomödie ist dafür das beste Beispiel. Man kann durch das Lauschen aus dem Unterschied zwischen abgeschlossenem und offenem Raum scheinbar unbegrenzt theatralisches Kapital schlagen und immer weiter variieren.
Peter Michalzik




Alle Photgraphien © Steffen Rasche

Freitag, 16. März 2018

Einfach Theater

Da das hiesige Theater es für klug hält, dass zwischen Generalprobe und Premiere ein Tag liegt, an dem die Spieler ganz andere Stücke spielen, 
war ich heute arbeits- und ruhelos und da bin ich halt Theater gucken gegangen.

Morgens um 10 spielte ein wunderbarer junger Clown, momentan eigentlich mein Clown, vor 90 Schülern die Geschichte des Odysseus. Er spielte. Mit einer Leiter, die ein Drache wurde, ein Pflug, der Olymp und ein Schiff. Einem Tuch, das sich in ein Baby verwandelte, in die in die langen Haare einer koketten Frau und dann zu einem Vogel wurde, der von einem Pfeil getroffen, zu Boden schwebte. Das Stück läuft hier seit 25 Jahren, er ist der vierte Darsteller. Ich hätte es nicht gemerkt. Ich war bezaubert.

Odysseus und die Leiter 
Darsteller Nummer 4

Nachmittags zu Kaffee und Kuchen und Gespräch bei zwei liebenswürdigen Theaterdinosauriern. Sie spielen immer noch, sind viel umher gewandert, mit Kindern und Sack und Pack, haben hart gearbeitet in Rostock, Halle, Rudolstadt, Senftenberg. Er war der erste Odysseus. Und die ausnahmsweise probenfreie Dame des Hauses, hat aus Solidarität, in der, in Folge von Sparmaßnahmen, geschlossenen Theaterkantine, unsere Endproben in Kostüm und Maske mit geschmierten Brötchen und Würstchen unterstützt.

Odysseus und die Leiter 
Darsteller Nummer 1

Abends dann zu Lola Blau für 50 Leuten mittleren Alters. Eine andere meiner Clowns singt wie eine Lerche, ein Mann, der eigentlich Inspizient ist, begleitet sie auf den verschiedensten Saiteninstrumenten. Dieser Mann spielt bei mir auch mit und das mit bewunderungswürdiger Hingabe.

Und zwei meiner Spieler sind noch auf einem Gastspiel in Brandenburg. 
2 Stunden Busfahrt hin und zurück.

Ein gewöhnlicher Tag an einem gewöhnlichen deutschen Stadttheater.

Kommt mir bloß nicht mit diesem Gequatsche vom posthumanen Theater.

Freitag, 9. März 2018

Bad Banks - Schlechte Banken

BAD BANKS

"Bad Bank" ist ein Begriff aus der Wirtschaftsprache und bedeutet, dass in Zeiten der finanziellen Krise böse Banken gegründet werden, um den "guten" Banken bei ausstehenden Krediten zu helfen, damit diese überleben.
https://www.schnittberichte.com/review.php?ID=10745 

https://de.wikipedia.org/wiki/Bad_Bank 

Eine in Deutschland produzierte Serie, mit deutschen Schauspielern und Schauspielerinnen, und einigen von woanders her, eine Staffel, sechs Teile, Regie Christian Schwochow. 
Nein, es ist sicher nicht die beste Serie aller Serien aller Zeiten, aber sie ist gut.
Keine Neuerfindung des Genres, wie es "Sherlock" oder "Breaking Bad" waren, aber ein nicht langweilender Versuch, die schlechten Angewohnheiten des von Redakteuren beherrschten deutschen Fernsehens zu vermeiden, siehe auch "Club der roten Bänder". 
Keine Schnitte, drei Sekunden nach dem es sowieso zu spät ist, der pädagogische Erklärbär hält sich meist höflich zurück und ein und derselbe Charakter ist mal sympathisch und mal ein Arschloch. Und das Hauptthema ist heutig. Wonach sind wir so gierig? 
Die Kostüme sind toll, nicht wie bei "Toni Erdmann", wo ich sofort wußte, dass die sonst oft tolle Sandra Hüller niemals der CO eine global agierenden Firma sein konnte - mit ihren schlechtsitzenden Kostümen und ohne Make-up. Jeder, der mal mit den Montagmorgen und Freitagnachmittag die Inlandsflieger füllenden Dienstreisenden ein Flugzeug geteilt hat, weiß, wie die gekleidet sind. In feinst individualisierte Uniformen.
Der Schnitt ist großartig, immer auf den Punkt, aber warum kann ich den Namen der Schnittmeisterin, des Schnittmeisters nirgends finden? 
Ich darf mich selbst entscheiden, wen ich wann mag.
Die Perücke von Frau Nosbusch läßt zu wünschen übrig, aber sie ignoriert das einfach. Paula Beer hat zu oft feuchte Augen, aber auch Momente kalter Klarheit. Barry Atsma ist sexy und großartig. Albrecht Schuch, so blond, so geplagt und verständlich.
Ich habs gemocht.
Zu finden in der arte-Mediathek.



Dienstag, 6. März 2018

Nieder mit der Aufklärung - Das Jenseitige

"... jenseits des Verstandes, 
des Hörbaren, 
des Sehbaren"

http://www.deutschlandfunk.de/kritik-an-der-volksbuehne-berlin-theater-ist-kein.691.de.html?dram%3Aarticle_id=412332

Warum, um alles in der Welt, heißt die Frau auch noch Piekenbrock? 
* (Siehe unten "Piepenbrink")
Auch ich habe im Theater schon Abende erlebt, in denen ich Erlebnisse "jenseits meines Verstandes" hatte. Solche der schlimmen Art, an denen ich glaubte blöde zu werden und an meinem Verstand zweifelte. Und, einige wenige, an denen mein Körper reagierte, mein Zentrum, mein Innerstes. Wo ich nachher mehr wußte, als ich vorher je gewußt hatte.
Aber in jedem Fall wurde meine Reaktion durch das ausgelöst, was ich gesehen und gehört hatte. 
Also was soll der kokette Quatsch mit dem "Jenseitigen"? Welcher meiner Sinne soll hier zum Einsatz kommen? Bin ich für die Laboratorien des posthumanen Theaters zu sehr nur menschlich? Zu unsensibel? Zu wenig dies, zu wenig das? 
Ich glaube nicht an ein Jenseits, das Diesseits finde ich schon kompliziert und aufregend genug. Grob gesagt, klingen ihre (Frau Piekenbrocks) Worte wie ausweichender, elitärer Schmampf.

"Für sie (Frau Piekenbrock) ist Theater kein Kriegsschauplatz, in dem Regisseure vor einer Premiere entmündigt werden..." Edel. Aber das Faktum einer erfolglosen Premiere, oder, wenn die Kritiken recht haben, eines Theaterdesaster der übelsten Art, wird dadurch nicht weniger traurig. 

 
Es gibt einen ziemlich alten Witz: Stalin, Chruschtschow und Breschnjew fahren gemeinsam in einem Tatra. Plötzlich hat das Auto eine Panne. Stalin sagt: "Ich kläre das", steigt aus und erschießt den Chauffeur, Chruschtschow schreit auf, steigt ebenfalls auf und haut heftig mit seinem Schuh auf die Motorhaube. ** 
Breschnjew bleibt sitzen, bittet die beiden anderen wieder einzusteigen, zieht die Vorhänge an den Fenstern zu und sagt: "Wir fahren".


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* Piepenbrink. Ich heiße Piepenbrink.

Aus Gustav Freytag "Die Journalisten"  13. Kapitel

Piepenbrink (feierlich). Mein Herr Oberst! – Eine Anzahl Wahlmänner hat uns als eine Deputation zu Ihnen gesandt, um Ihnen gerade heut zu sagen, daß die ganze Stadt Sie für einen höchst respectabeln und braven Mann hält.

Oberst (steif). Ich bin für die gute Meinung verbunden.

Piepenbrink. Da ist nichts Verbindliches bei. Es ist die Wahrheit. Sie sind ein Ehrenmann durch und durch, und es macht Freude, Ihnen das zu sagen; es kann Ihnen nicht unangenehm sein, dies von Ihren Mitbürgern zu hören.

Oberst. Ich habe mich selbst immer für einen Mann von Ehre gehalten, meine Herren.

Piepenbrink. Da haben Sie ganz Recht gehabt. Und Sie haben Ihre brave Gesinnung auch bewiesen. Bei jeder Gelegenheit. Bei Armuth, bei Theuerung, in Vormundschaften, auch bei unserm Schützenfest, überall, wo uns Bürgern ein wohlwollender und guter Mann Freude machte oder nützlich war, da sind Sie voran gewesen. Immer schlicht und treuherzig, ohne schnurrbärtiges Wesen und Hochmuth. Daher kommt es denn, daß wir Sie allgemein lieben und verehren.


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** Chruschtschow und sein Schuh:
http://www.zeit.de/2010/37/Chruschtschows-Schuh