Es liegt Hoffnung in seiner Wandelbarkeit und Stetigkeit. Nicht Hoffnung für uns, aber Hoffnung für den Fluß.
Oder, mein Fluß,
In Tropfen sickert es
aus Gebirgen von Zeit,
Wasser, das nach Kindheit schmeckt.
Oder, mein Fluss,
eine Breite, um Holüber zu rufen,
ein November für Regen.
Schleier, über die Rübenäcker gezogen,
nicht unterscheidbar Wiesenufer und Bergufer,
Stimmen auf Buhnen und Treidelweg,
bei den strähnigen Weiden und Schilfrohr,
Glocken aus Frankfurt
und die Sagen der Reitweiner Berge,
die Fähre in Lebus
und das Haus rechts der Oder, wo ich
geboren bin.
Günter Eich
Dazu:
Reinhard Döhl | Stichworte für eine Rekonstruktion
Oder, mein Fluß - 1951 wahrscheinlich notierte Günter Eich diesen lakonischen Vers zum ersten Mal als Überschrift eines für ihn relativ langen Gedichtes, geschrieben für eine Hörspieladaption der Fontaneschen Kriminalerzählung "Unterm Birnbaum". Günter Eich, der diesen Text zu den Aufführungen des Hörspiels selber sprach, hat in der Folgezeit das Gedicht mehrfach überarbeitet und dabei den Vers ins Gedicht selbst eingezogen:
der keine Quelle hat:
In Tropfen sickert es
aus Gebirgen von Zeit,
Wasser, das nach Kindheit schmeckt. Oder, mein Fluß,
eine Breite, um Holüber zu rufen,
ein November für Regen.
aus Quellen und Nebenflüssen,
mein Morgengewinn, meine Unruh,
meine Sanduhr über den Ländern.
Abschied und Vergänglichkeit ziehen sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Fassungen des Gedichts.
wo Kleist seine Kindheit verbrachte.
rechts der Oder, wo ich geboren bin,
und du nennst ihn ohne Entsetzen.
eine Breite, um Holüber zu rufen
Aus: Der Reiz der Wörter. Stuttgart: Reclam 1978
VARIANTEN ÜBER DIE JAHRE:
Die Fähre in Lebus und das Haus
Rechts der Oder, wo ich geboren bin,
die Schmiede in Podelzig und die Erzählungen
der Großmutter, die den Mörder Sternickel sah,
die Ferne fährt in Kähnen vorbei
gleichgültig und mit Flaggen am Bug.
Wer kommt, geht bald wieder fort.
In Küstrin sah Friedrich, wie Katte enthauptet ward,
in Freienwalde besuchte Fontane seinen Vater,
Zerstört ist das Haus,
wo Kleist seine Kindheit verbrachte.
Oder, mein Fluß, erklärbar
Aus Quellen und Nebenflüssen,
mein Morgengewinn, meine Unruh,
meine Sanduhr über den Ländern.
Steig ein in das heitere Boot, - es ist nicht die Charonsfähre,
du selbst hast die Planken in deinem Traume gezimmert.
[...] wage dich über den Strom. Sieh, alles Geträumte,
drüben ist es Wirklichkeit,
Und plötzlich erkennst du das Nebelland,
weißt die Breite des Stromes zu schätzen
und weißt, wer dich führte an seiner Hand
und mit dem Ruder im Nachen stand
und du nennst ihn ohne Entsetzen.
Unruhe in Ackerfurchen und Holundergebüsch,
Unverständliches in den Herzen.
Das Vollkommene gedeiht nicht,
hier bändigt keiner zu edlem Maß das Ungebärdige,
Und das Dunkle ist wie vor der Schöpfung
ungeschieden vom Hellen.
Unruhe bei Windstille und Wind,
eine Besonderheit im Klang der Uhren,
das Mehl des Holzwurmes als Hieroglyphe,
die Brennereien in den Gutshöfen,
Unzufriedenheit, die sich in Schnaps ertränkt.
Wer kommt, geht bald
wieder fort.
In Küstrin sah (Friedrich, wie Katte enthauptet ward.
In (Freienwalde besuchte Fontane seinen Vater.
Zerstört ist das Haus,
wo Kleist seine Kindheit verbrachte.
Unruhe in Ackerfurchen und Holundergebüsch,
Unverständliches in den Herzen.
Das Vollkommene gedeiht nicht,
hier bändigt keiner zu edlem Maß das Ungebärdige,
und das Dunkle ist wie vor der Schöpfung
ungeschieden vom Hellen.
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DIE REITWEINER SAGE - Der schlafende Schuster im Reitweiner Schloßberg
Als einst an einem schwülen Sommertage ein Schuster von der Messe in Frankfurt (Oder) heimkehrte und in der Nähe des Reitweiner Schloßberges sich gelagert hatte, vernahm er plötzlich wundersame Musik. Ein reichgekleideter Diener trat an ihn heran und lud ihn aufs Schloß ein, dessen Ruinen auf dem Berge standen. Der Schuster kam mit, wurde reichlich mit Speisen und Trank erquickt und schlief dann ein. Als er aufwachte, saß er wieder auf seinem Ausgangspunkt. Gedankenverloren trat er den Heimweg an. Zuhause kam ihm alles fremd vor. Niemand kannte den Fremdling mehr, keine Spur seiner Familie war mehr zu entdecken. Er hatte hundert Jahre im Reitweiner Schloßberg verschlafen.