Samstag, 26. November 2016

Ich, Daniel Blake ein Film von Ken Loach



Der Film Ich, Daniel Blake mit Dave Johns als Daniel Blake und Hayley Squires als Katie, ist ein nachtschwarzes realistisches Märchen - es ist jetzt und als sie dann gestorben sind - die Art von Nachtschwarz bei der man aus Angst singen muß. 
Daniel ist ein verwitwter Schreiner, der nach einem Herzinfarkt von einem Arzt mitgeteilt bekommt, dass er längere Zeit lang nicht wird arbeiten dürfen. Das Sozialamt hat aber die Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit an eine amerikanische Firma "outgesourced", die ihn als arbeitsfähig einstuft. (Die unter Schwarzbild laufende Befragung durch eine Gesundheitsfürsorge-Mitarbeiterin ist erstklassige Comedy.) So steht er tropfnass und frierend zwischen Regen und Traufe und gerät immer tiefer in die Reißmühlen der Bürokratie, der durchgeregelten auswegslosen Unmenschlichkeit. Er kämpft, er reißt Witze, er hilft anderen, er versucht den Aufstand, er unterliegt. Sehr viele hilfsbereite, reizende Leute begegnen ihm, aber das hilft gar nichts. Es gibt keine Lösungen, niemand ist wirklich schuld, die vollständige Entfremdung zwischen Staat und Bürger ist unüberwindbar.
Ich habe geweint, aber nicht aus Sentimentalität. Wenn ich über Armut nicht mehr weine, sollte ich mir wahrscheinlich einen Strick nehmen. Und dann noch Armut in unseren reichen Ländern. Wir haben keine Ausrede. Wenn hier Menschen hungern, ist es auch unser Verschulden. 
Heute nachmittag war ich in der Suppenküche in Pankow und habe lauter Daniel Blakes gesehen. Manche sind Trinker, Junkies und völlig verwahrlost, manche bemühen sich ihre äußere Erscheinung so akkurat wie irgend möglich zu halten. Alle sind arm. 
http://franziskaner.net/werke/suppenkuecheberlin/ 

Franziskanerkloster Pankow
(Berliner Volksbank)
IBAN: DE32 1009 0000 1277 5560 02
BIC: BEVODEBB

 
Wiki definiert Armut so:
Armut bezeichnet primär die mangelnde Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Kleidung, Nahrung, Wohnung und Erhaltung des Lebens. Im weiteren und übertragenen Sinn ist Armut allgemein ein Mangel.
und
Die Herkunft des zugrundeliegenden Adjektivs arm ist zwar umstritten, wird aber mehrheitlich auf die germanische Wurzel *arҍma- zurückgeführt, das "vereinsamt, verwaist, verlassen" bedeutet und mit griech. erḗmos (ἐρῆμος) „einsam“ in Verbindung gebracht wird.
Gewiss, der Film spielt in England, und ein deutscher Film dieser Leichtigkeit und gnadenlosen Härte ist unvorstellbar, aber was er über Alleingelassenwerden in höchster Not, durch Ämter, Paragraphen, den STAAT, der doch uns allen dienen sollte, erzählt ist unerträglich und wahr. Kapitalismuskritik, ich wage mich kaum das Wort zu verwenden, aber es trifft genau. Was können wir tun?
 
Zitat aus der Kritik in der Süddeutschen: Wenn man der Arbeiterklasse ein filmisches Denkmal errichten wollte - so sähe es aus.

Freigabebescheinigung
FSK FREIWILLIGE SELBSTKONTROLLE DER FILMWIRTSCHAFT GmbH
Prüf-Nr.: 163356/K Kino
Der Film Ich, Daniel Blake
Originaltitel I, DANIEL BLAKE
Verleiher Prokino Filmverleih GmbH, München
Herstellungsland GB
Herstellungsjahr 2016
Laufzeit 24fps: 100:32 25fps: 096:31
wurde im Auftrag der Obersten Landesjugendbehörden von der FSK Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft GmbH nach § 11 i.V.m.§ 14 JuSchG geprüft. Die Prüfung hatte das Ergebnis, dass der Film zur öffentlichen Vorführung für die Altersstufe an allen Tagen des Jahres (einschließlich der gesetzlich geschützten Stillen Feiertage)freigegeben werden kann.
„Freigegeben ab 6 (sechs) Jahren“
Wiesbaden, den 24.10.2016
  
http://www.sueddeutsche.de/kultur/neu-im-kino-ich-daniel-blake-ist-eine-bittere-anklage-gegen-den-britischen-sozialstaat-1.3262567 

Unsre Heimat - Ein gutes schlechtes Lied

Ein Lied der Thälmann-Pioniere und ich mochte es trotzdem. Propagandascheiß mit der hypnotischen Kraft eines Volksliedes. Ehrlich gesagt, habe ich die letzten drei Zeilen scheinbar präventiv ausgeblendet.
Das Horst-Wessel-Lied oder Auf auf zum Kampf, zwei zueinander diametral stehende Texte zur gleichen Melodie haben eine ähnliche Wirkung auf mich. Singt sich gut, bleibt hängen, ein Ohrwurm.
Gräßlich, dass Musik im wahrsten Sinne des Wortes politisch inkorrekt, entgegen jedweder Überzeugung, Wirkung hervorrufen kann. 
 


Buckow in der Märkischen Schweiz, ist das was meinem Begriff von Heimat am nähesten kommt. Buckow und, auf immer und ewig unsere verquere deutsche Sprache.

Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer,
unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald.
Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese,
das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft
und die Tiere der Erde
und die Fische im Fluß sind die Heimat.
Und wir lieben die Heimat, die schöne
und wir schützen sie,
weil sie dem Volke gehört,
weil sie unserem Volke gehört.

https://www.youtube.com/watch?v=x3BXXSzA2oQ

Unsere Heimat, auch Unsre Heimat ist ein Lied der Pionierorganisation Ernst Thälmann. Der Liedtext stammt von Herbert Keller und die Komposition von Hans Naumilkat. Das Lied entstand 1951. Angelika Weiz schrieb und sang 1989 eine kritische Erweiterung des Textes. Das Lied erschien auf der Langspielplatte Heimat, die jedoch aufgrund des Textes zurückgezogen wurde. Wiki

Was ist denn von alledem geblieben, 
Wo die schöne Heimat, die wir lieben,
Was soll denn geschehen, 
Wenn uns die Träume vergehen, in dem Land der Paläste, 
Wo wir jedes Jahr ein Stück von dem, was uns heilig war, verderben sehen,
Und was sollen wir unseren Kindern sagen,
Wenn sie uns nach ihrer Heimat fragen,
Ein jedes Volk schützt seine Welt,
Die ihm gehört, bis sie in Scherben fällt. 

 https://www.youtube.com/watch?v=9WJAgQq5dDI

Vitamin B - Beziehungen in der DDR - ein interessanter Artikel:
http://www.berliner-zeitung.de/die-saengerin-angelika-weiz-war-die-beste-freundin-von-tamara-danz-ostbraeute-16501168

Freitag, 25. November 2016

Theaterwohnung 12

Zuhause versus Dasewigimmergleiche

Zuhause weiß ich im Dunkeln, wie der Weg zur Toilette geht. Beim Kochen greift meine Hand ohne Zögern nach dem Salzstreuer. Das alte Sofa kennt die Form meines Hinterns und ich weiß, dass die Vögel auf dem naheliegenden Friedhof gegen fünf Uhr mit dem Singen beginnen.
In der Theaterwohnung ist meine tägliche aktive Anpassung an die vorgegebenen Umstände gefordert. Wenn ich in der Dusche hocken möchte, öffnet mein Hinterteil die Glastür, am Schreibtisch haut mein Knie gegen die Tischplatte, der Wasserkocher benötigt länger für das Erhitzen des lebensnotwendigen Kaffeewassers und sächsische Trinker klingen geradezu exotisch um zwei Uhr nachts auf ihrem schwankenden Gang heimwärts.
Alles Kleinkram, "Jammern auf höchstem Niveau", Petitessen. 
Nur bin ich ein Gewohnheitstier und ein Nester und nicht sicher, ob ich der steten Irritation durch neue Umstände für das Wachhalten meines alternden Hirns danken, oder die Sehnsucht nach meinem Zuhause als erschöpfende Mangelerscheinung fürchten soll.
Das Bekannte, Gewohnte ist für viele Menschen eine Last, nichtendenwollende Repetition der immergleichen Abläufe. Aber ich, die ich von Theaterwohnung zu Theaterwohnung wandere, ist mein Zuhause ein Ort der Entspannung. Ich muß nix Neues lernen, nicht anpassungsfähig sein, nicht das Beste aus etwas machen. Ich kann mich gänzlich gehen lassen.
Meine Oma hat mich bis zu meinem 12. Lebensjahr, in dem sie leider verstarb,  nahezu jedes Wochenende in ihren Wartburg gepackt und nach Buckow verfrachtet und dort haben wir 2x24 Stunden mit Faulenzen verbracht: nichts als Schwimmen, Pilze sammeln (sie fand, ich nicht), Kochen, Essen, manchmal Reden, oft nicht, Lesen, Schlafen und herrliches Verschlampen. Ein Geschenk. Noch heute kann ich abrupt, übergangslos in diesen Erholungsmodus verfallen. Arbeiten, arbeiten, arbeiten und dann - loslassen. Ein lebensrettendes Geschenk. Und damals war es Buckow, das es für mich nicht mehr gibt, heute ist es mein ZUHAUSE.

   Buckow in der Märkischen Schweiz, hier die Arbeit eines mittelmäßigen den Nazis zugeneigten Steinmetzes.

Donnerstag, 24. November 2016

Ich habe Angst.

Bin ich hysterisch oder klarsehend? Ist Trumps Wahlsieg ein Umschlagpunkt verständlicher Quantitäten in eine neue angsteinflößende Qualität, oder ein erschreckender Treppenwitz? Ist meine momentane Furcht berechtigt, oder bin ich medial überfüttert? Ist die Realität reaktionärer, weil fremdenfeindlicher,  demokratisch gewählter Regierungen in Polen, Tschechien, Ungarn und den baltischen Staaten und, vielleicht auch bald in Frankreich, nur eine Phase, eine temporäre Anormalität, oder ein Warnzeichen künftiger faschistoid ausgerichteter Staaten? Ist unsere Welt, die "Erste" Welt, die der es vergleichsweise sehr gut geht, auf dem Weg ins mittelalterliche christliche Kaliphat? Ich weiß es nicht, aber ich habe Angst. Bin ich dumm?


Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte. Das sagte Martin Niemöller

Freitag, 18. November 2016

TRUMP - TRUMPF - TRIUMPH

Ich lese.

Ich lese Hillbilly Elegy, eine autobiographische Analyse der weißen amerikanischen Armut, des "white trash" und auch Ta-Nehisi Coates' Buch über die Erfahrungen der ebenso armen schwarzen Besitzlosen, die in der niederdrückenden Gewißheit von Rassismus und relativer Chancenlosigkeit aufwachsen.
Ich lese über eine Mittelschicht, der die Sicherheit auf ein mittleres gutes Leben genommen wurde. 
Ich lese über eine Gesellschaft, die in immer kleinere und nach außen vollständig abgeschlossene Gruppen zerteilt wurde, die einander haßerfüllt mißtrauen.
Ich lese über Rassismus verschiedenster Begründungen, über Wut, über Trotz, über Unbildung und unfaßbare Dummheit.
Ich lese über 'evangelikanische' Homophobie und Hass auf Frauen, die sich Begründungen aus Bibel, Talmud und Koran grabschen und das dunkle Mittelalter zur goldenen Zukunft erklären.
Über tollwütigen Anti-Semitismus, der sich in als sachlich behaupteten Argumenten verbirgt  und jüdischen Hochmut, der den Holocaust mißbraucht, um sich vor jeder Kritik zu schützen.
Ich lese über Anti-Darwinismus, alias intelligentes Design, was nichts anderes meint als Wissenschaftshass in der übelriechenden Verkleidung von christlichen dummdreisten Lügen.
Ich lese über Boni für Banker und Börsenmakler die mehr Nullen nach der Zahl haben, als ich zählen kann.

Ich lese über Menschen, denen es schlechter geht als mir und andere, denen es, zumindest finanziell, viel besser geht. Über Idioten, Verzeifelte und hochintelligente Psychopathen. 
Über reaktionäre Christen in Ohio und sich patriotisch gebärende Dresdner. 
Über Latinos, die für Trump stimmen und Neu-Koellner Schüler, die dagen sind, das Flüchtlinge aufgenommen werden, weil die "uns unser Hartz Vier wegnehmen".
Ich lese und finde Hass und kein Mitgefühl.

Ich lese und versuche, zu begreifen, was passiert. Dort in den USA und hier bei mir in Deutschland. Und in Frankreich und in Polen, Ungarn, Tschechien und und und...
Alle diese Länder nennen sich Demokratien, einige haben die Last sozialistischer Diktatur erst vor nicht allzu langer Zeit abgeschüttelt.
Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?
Was geht hier vor? Was kann ich tun? Was wird passieren?


Donnerstag, 17. November 2016

Amazon, Google & Wikipedia

Eine Beichte: 
Ich kaufe bei Amazon, suche im Web mit Google und beginne viele meiner   Informationsreisen mit Wikipedia. 
Das Kind verachtet Amazon, ich halte dagegen, dass ich bisher exzellenten Service erlebt habe, pünktliche Lieferungen, (wenn auch der Bote nie klingelt, sondern immer gleich im Laden unten links abgibt), die versprochene Qualität, unkomplizierte Rückgabe, wenn ich mich geirrt habe und Amazon Prime lohnt sich für unentwegt Reisende wie mich. Die Berichte über die Arbeitsbedingungen in den Auslieferungslagern klingen nicht gut, aber leider auch nicht schlimmer als das, was ich von anderswo höre.
Google arbeitet, wird behauptet an der Weltherrschaft. Hmm. Vielleicht lieber Google als mancher Andere. Sie forschen ins Größenwahnsinnige und erwarten Zukunft. 
Wiki ist äußerst fehlerhaft, das haben demokratische Unternehmungen so an sich, aber es ist in ständiger Überarbeitung, und es gibt auch genügend andere Quellen für Überprüfungen.
Es ist heraus.
Bin ich ein tumber Net-Zombie? Eine asoziale Konsumentin? 
Ist die Panik vor Neuem, der ich begegne, eine diffuse Angst vor Veränderung überhaupt. "Das essen wir in Augsburg nicht", soll mein Großvater gesagt haben, wenn eine ihm unbekannte Speise auf den Tisch kam. Dinge, die wir lieb hatten, vergehen, gehen unter, andere, neue übernehmen. Ist das immer schlecht? Als das Kindle aufkam, grassierte im Netz die Prophezeiung des Untergangs des Buches aus Papier. Heute wissen wir, dass Buch und digitalisierte Literatur ziemlich friedlich koexistieren können. Ja, die Grundgeschwindigkeit hat sich erhöht. Ja, mein alter Kopf muß arbeiten, damit er nicht den Anschluß verliert. Ja, da ist ein Trend zum Anspruch auf Marktalleinherrschaft, den ich nicht wirklich beurteilen kann. 
Aber, aber, aber - meine Freundin kann ihre liebste Musik, nachdem die Vinylvariante in Folge heftigen Gebrauches völlig zerkratzt war, nun auf einer taufrischen CD anhören, tausende Menschen versuchen Wiki auf dem neuesten Stand zu halten und den Mißbrauch einzudämmen, abstruse Lieder aus dem 14. Jahrhundert sind findbar, wenn man die richtigen Suchbegriffe findet, ohne dass man durch in aller Welt verteilte Bibliotheken wühlen muß, es gibt Crowdfunding für hoffnungsvolle Projekte, die sonst vielleicht nie Realität werden würden, und die Möglichkeit Protestbewegungen via Internet zu stärken. Untaten werden weiter begangen, aber sind nun oft dokumentierbar. Wir sind auf neue Art verbunden und es liegt in unserer Macht wie wir dieses Werkzeug nutzen.
Manipulation ist unvermeidbar.
 

Dienstag, 15. November 2016

Hieronymus Bosch - Kupferstiche in der Nationalgalerie

Bos inventor
Erfunden von Bosch

In der kleinen feinen Ausstellung habe ich ein neues Wort gelernt: boschesk. 
Macht Sinn, der Mann hat die Personage unserer apokalyptischen Träume eralbträumt, während er in seiner kleinen Bürgerstadt in Nordbrabant ein für diese Zeit ungewöhnlich friedvolles Leben führte. Andre, nach ihm Kommende zitieren ihn oft. Pieter Bruegel der Ältere, Antes Kopffüßler? Die Geschöpfe von J. F. Sebastian in Blade Runner & jede Menge amerikanischer Splatterfilme. 
Immer wieder auf meinen Wegen begegne ich seinen Phantasmagorien und immer stehe ich hypnotisiert vor ihnen. Da sind die Monster, aber auch viel metallene Rüstungen, Helme Käfige und Türme, Feuerbrände, Nackte, die sich unter Rasen verstecken.
Zum Beispiel im unteren Bild, das eine Auge des Riesenschiffkopfes ist ein bleiverglastes Fenster, durchbrochen von einem Feuereimer, dessen Rauch den Fisch obendrüber räuchert. 

Die Versuchung des Heiligen Antonius
Clementine Vulgate Psalm 33
Groß sind die Leiden des Gerechten: aber der Herr errettet ihn.
Great are the troubles of the righteous: but the Lord delivereth him out of all.

Die Wirkung beruht darauf, dass diese Wesen als funktionierend wahrgenommen werrden, sie sind ja ganz plausibel zusammengesetzt aus Schnäbel, Krallen, Flügeln, Federn und man könnte sich vorstellen, wenn man vor diesen Monstern sieht, die könnten leben, die könnten funktionieren. Und das ist das, was so eine besonders unheimliche Note in diese Darstellungen gibt.
Michael Philipp

Nelly Sachs

DORNENGEKRÖNT
Hieronymus Bosch

Immer wieder
durch einen verhexten Handgriff
den Nabel der Liebe gesprengt.
Immer wieder
der Folterer über schwanengebogenem Rücken
die Geißel lange schon im Traume erprobt.


Immer wieder
die zerpeitschte Aura
über dem entblätterten Leib.


Immer wieder
die Sehnsucht, aller Gräber Frühlingsknospe
mit dem Steinzeitfinger zur Träne zerdrückt.


Immer wieder
die Blutschlange züngelnd
im Hautwams der Henker.


Immer wieder
die Blicke des Opfers zugedeckt
mit Gott - Auszug - Asche -


(aus: "Und niemand weiß weiter". 1957)


Der Wald hat Ohren, das Feld hat Augen

Sonntag, 13. November 2016

Kühnel & Kuttner lieben das Fatzerfragment - Brecht lebt schon noch

Nach langer Zeit wieder einmal im Deutschen Theater, auf der Premierenfeier habe ich unabsichtlich Gesprächen zuhören müssen, die mir hart ins Gedächtnis riefen, warum ich einstmals, als ich ihr noch angehörte, die Berliner Theaterszene nicht recht verknusen konnte. 
Aber der Abend, immerhin 2 1/2 Stunden ohne Pause, war spannend und meine Begleitung angenehm.

Fatzer ist gar kein Stück, sondern 500 Blätter mit Plänen, Entwürfen, einzelnen Zeilen, Chorpassagen, Szenenfragmenten, die Brecht von 1927 bis 1931 notiert hat. Heiner Müller nannte das wilde Ding ein Objekt seines Neides
Einer für sich und damit allen schadend? Wer sind alle? Was ist falsch mit der Welt, wenn für sich sein, einem Verbrechen gleichkommt?

Ich scheiße auf die Ordnung der Welt 
Ich bin verloren

1918, Mülheim an der Ruhr. Ein Mann klettert aus einem Panzer.

Ich mache 
Keinen Krieg mehr, sondern ich gehe
Jetzt heim gradewegs, ich scheiße
Auf die Ordnung der Welt. Ich bin 
Verloren

Das sagt Fatzer, der zu einer Gruppe von vier Deserteuren gehört. Die Versprengten versuchen, dem Krieg zu entkommen, ihn zu bekämpfen, den Umsturz zu wagen. Die Gruppe wird durch widerstreitende Interessen gespalten, es kommt zum Verrat, zu einer Exekution. Am Ende sind alle tot. 
http://jungle-world.com/artikel/2014/28/50209.html 

Es gibt fünf Schauspieler und eine sehr gute Zweimann-Band namens "Ornament & Verbrechen", die Reihenfolge der Szenen wird abendlich ausgelost, nur die neunte, die letzte, nicht. Kleinere Nebenrollen und der Chor werden vom Publikum karaokeartig gelesen. Chor und Gegenchor. Ein gelber Punkt bestimmt das Lesetempo, Schrägstriche die Pausen, der Atem wird so notwendigerweise synchronisiert, die Konzentration erhöht. Das ist gut. Man liest, spricht, versteht kaum, was man spricht und doch versteht der Körper. Zwang zum Denken. 

Von nun an und für eine lange Zeit
Wird es auf dieser Welt 
keine Sieger mehr geben, sondern 
nur Besiegte. 

Photo von der englischen Seite des Deutschen Theaters

"Sich mit dem Fatzer von Bertolt Brecht auseinanderzusetzen ", schreibt Fabrizio Arcuri, "bedeutet, eine regelrechte Schreibsporthalle zu betreten: voller Streichungen, Neuformulierungen, in der Schwebe gebliebenen Fragmenten – wobei sich die klare und deutliche Empfindung einstellt, das Ganze nicht mehr in den Griff zu bekommen. Brecht verfaßte diesen Text im Streben nach einer neuen, offenen dramaturgischen Form, doch der eingeschlagene Parcours zog ihn so weit mit sich fort, daß er verführt war, ein Werk zu verfassen, das (auch seiner eigenen Einschätzung nach) Seite für Seite zu einem unspielbaren wurde. Es liegt also auf der Hand, daß jede mögliche Lösung des Fatzer-Rätsels heute nur partielle Ergebnisse erzielen kann. Dennoch erweist sich eben diese Schwierigkeit, dieses entwaffnende Gefühl des Scheiterns, mit jeder neuen Lektüre als das vielleicht konkreteste und grundlegendste Element des gesamten Werkes. Im Fatzer werden die Widersprüche nicht explizit gemacht, da ist kein tugendhaftes Verhalten, das seiner Nemesis entgegensteht, sondern eine Aufeinanderfolge von Sichtweisen, deren alleiniges Resultat die Katastrophe ist: Egal welcher Art sie ist, die bezogene Position führt notwendig zum Scheitern.
Aus einem Text zur Inszenierung an der Volksbühne Berlin
Eine Produktion des Teatro Stabile di Torino im Rahmen der Theaterpartnerschaft "Fatzer geht über die Alpen" zwischen der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und der Fondazione del Teatro Stabile di Torino, gefördert im Fonds Wanderlust durch die Kulturstiftung des Bundes

Jean Jacques Lemêtre und 3000 Instrumente


© A. Lacombe

Er ist der selbstbewußte Sohn einer Zigeunerin und eines neufundländischen Seemanns, immer unterwegs zu Land und Meer, und doch seit nunmehr über 30 Jahren seßhaft als Hausmusiker des Théâtre du Soleil. 
Ein schöner Mann mit wunderbarem weißen Haar, voll und hüftlang, dass er meistens ganz oben auf seinem Kopf in einem Dutt zusammenfaßt. 
Er macht Musik seit immer und auf allem. 
In Nebenräumen der Cartoucherie, dem Haus der Truppe von Arianne Mnouchkine, lagern, leicht eingestaubt und doch sorgsam aufbewahrt, seine Instrumente. Er fand und findet sie auf Reisen nach Bali und Ecuador und Indien und Japan und China und Sibirien, und wenn es ein Land gibt, in dem er noch nicht wahr, um zu hören und zu lauschen und zu lernen, dann wird er es demnächst besuchen. 
In Muscheln hat er Röhren gebohrt und nun dröhnen sie wie die Hörner großer Schiffe, kleine Rutenbündel erzeugen, wenn gedreht das Geräusch von knisterndem Feuer, Schlaginstrumente in Froschform reagieren auf leichte Schläge mit Quaken. Große Trommeln, kleine, kleinere und mittelgroße, Gongs, Becken, unterschiedlichste Glockenspiele, Mundharfen, Hörner, Flöten aller Art, Tuten, Trompeten, Hörner, längliche, runde, fette und winzige Zupfinstrumente mit 2 oder 5 oder 6 Saiten aus Seide oder Haar oder Glasfaser, Streichinstrumente mit Resonanzkörpern aus Kürbissen, winzige Kinderinstrumente und Dinge, die obwohl für andere Zwecke erdacht, einfach interessante Töne hergeben, und seine selbstgebauten Instrumente aus Knochen und Hörnern und dicken hölzernen Klangkörpern, bespannt mit dreierlei verschiedenen Saitenkombinationen für indische, arabische und chinesische Klänge.
Er spielt sie alle.  Er spielt mit ihnen.
Seine Finger sind nicht sonderlich elegant, die Nägel sauber, weiß, stark und länger als üblich. Er nimmt sie aus selbstgebauten Regalen und Pappschachteln und Holzkästen und sie erwachen. Aus diesen unzähligen eigenartigen Gegenständen ertönt Musik. 
Einen Großteil der Vorstellung an dem Abend habe ich ihm beim Begleiten zugeschaut. 
Er atmet mit den Spielern, den guten und den schwachen, manchmal ist er fast unhörbar und doch gibt er dem Abend, den ich nicht sehr mochte, den Zusammenhalt. Wäre er nicht gewesen, wäre das Ganze in unzählige einsame Splitter auseinandergefallen. 
Er raucht, er ißt gern und hat einen herrlich fiesen Sinn für Humor.
Niemand hat seine Sammlung archiviert. Er ist die Gesamtheit seiner Sammlung. Er hat keinen Nachfolger. Was könnte da eines Tages verloren gehen.
 
 “Jean Jacques erfindet oder vielmehr „findet“ die Musik in dem Moment, in dem sie erklingt. Er atmet mit den Schauspielern. Er folgt dem ständig wechselnden Pulsschlag jeder Figur. Er überträgt die Schwingungen der Gefühle in den Raum – er macht die Spuren sichtbar, die jeder Akteur um sich zieht und mit sich trägt wie die Linien eines magnetischen Feldes. Es scheint, als flössen Impulse von der Bühne direkt in seine Hände und werden weiter geleitet auf das Leder, Holz oder Metall der Instrumente. Von diesen wiederum steigen Bilder und Rhythmen auf, die weder realistisch noch abstrakt sind, sondern den Raum erschaffen, in dem die Erzählung sich vollenden kann.“
Mitglied der Truppe von A. Mnouchkine
Mein blaues Klavier

Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.
Es steht im Dunkel der Kellertür,
Seitdem die Welt verrohte.

Es spielten Sternenhände vier –
Die Mondfrau sang im Boote.
– Nun tanzen die Ratten im Geklirr.
Zerbrochen ist die Klaviatur.
Ich beweine die blaue Tote.

Ach liebe Engel öffnet mir
– Ich aß vom bitteren Brote –
Mir lebend schon die Himmelstür,
Auch wider dem Verbote.

Else Lasker-Schüler

© A. Lacombe

Volksweise

Mich rührt so sehr
böhmischen Volkes Weise,
schleicht sie ins Herz sich leise,
macht sie es schwer.

Wenn ein Kind sacht
singt beim Kartoffeljäten,
klingt dir sein Lied im späten
Traum noch der Nacht.

Magst du auch sein
weit über Land gefahren,
fällt es dir doch nach Jahren
stets wieder ein.


Rainer Maria Rilke

Donnerstag, 10. November 2016

3 Tage im November

Drei Tage Paris - Montagmittags bis Donnerstags am Vormittag. 

Charles De Gaulle, der Flughafen ist häßlich, grau, unübersichtlich, Orly viel angenehmer. 
Die Stadt ist sich gleich und anders. Junge schwarzgekleidete Uniformierte mit geladenen Maschinenpistolen im Anschlag stehen, lustig schwatzend vor der Comédie-Française, beim Verlassen der Metro wird meine Tasche geprüft, an Schuleingängen hängen Zettel mit Terrorwarnungen, die Hotels klagen über fehlende ausländische Gäste.

Sofort nach meiner Ankunft Besuch einer Ausstellung in der ehemaligen Oberschule von Patrice Chéreau. Alte Männer schwärmen von ihren wilden Sechzigern, nicht dem sechzigsten Jahrzehnt ihres Lebens, sondern den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, das kenne ich doch irgendwoher? Altachtundsechziger nerven. Ich bin ein Altachtundsiebziger. 
Aber die Photos zeigen junges Theater, irgendwo zwischen Brecht, RAF und Moliere. Seine Arbeiten kenne ich leider nur von Aufzeichnungen, und natürlich seine Filme. Schade.
Noch heute sind diese Schulen, Kaderschmieden der Elite Frankreichs, eines adelsfreien Klassensystems.

An diesem ersten Abend in der Comédie-Française "Die Verdammten" nach dem Drehbuch von Lucino Viscontis Film in der Regie von Ivo van Hove.

https://www.youtube.com/watch?v=MFRZZ2k2iGk

Ich hatte so Vieles, ausschließlich Begeistertes, über den Regisseur gehört und war froh, eine der schwer umkämpften Karten zu bekommen. Meine Freundin liebt das Namedropping und so verhalf der Name meines Ahnen zu zwei Freikarten. Warum nur? Ist mir noch neu.
Ein belgischer Regisseur inszeniert einen italienischen Text über den Untergang einer deutschen Industrialistenfamilie während der Nazizeit mit französischen Schauspielern im Frankreich von heute. Die Europäische Union als realer Theatervorgang.
Er ist ein toller Handwerker. Video, Soundscape, Arrangements, choreographierte Umbauten, das Spiel hinter der Bühne und auf ihr verflochten, verwoben - perfekt. Die Spieler sind tief versunken in ihren Figuren, solch psychologisch bestimmtes Theater habe ich lang nicht mehr gesehen. Die Umbauenden, ganz in schwarz, funktionieren perfekt und werden doch nie Teil der Geschichte.
Wenn der SA-Sohn mit seinem Liebhaber bayrische Tänze tanzt und auf der Leinwand synchron viele, viele, andere Männer mittanzen wird es großes Theater. Schüsse fallen, Schnitt, Blutlachen sind zu sehen, während auf der Bühne immer noch zwei nunmehr nackte Männer tanzen. Der Röhm-Putsch gänzlich überhöht. 
Keine Minute ist langweilig und doch, scheint mir, als sei der Regisseur der erotischen Faszination der Dekadenz, die bei Visconti immer von gefährlicher Wut begleitet wird, letztendlich unterlegen. Zu schön sind die Untaten, zu leidend die Täter. Was will er mir erzählen? Unverschämte und doch erlaubte Frage. Es bleibt die große Form. 
Was ist es, das Lust an Destruktion so anziehend macht? Katholizisismus? Homoerotsche Männergemeinschaft?

Einen Tag später: im Centre Pompidou eine Magritte-Ausstellung: La trahison des images - Der Hochverrat der Bilder. Was für ein großer Maler und was für eine pädagogisch gutgemeinte öde Ausstellung. Die Bilder kämpfen geradezu gegen die detaillierten Erklärungsversuche. Alles ist logisch, philosophisch nachvollziehbar und biographisch abgesichert. Die Bilder siegen, aber nur knapp.


Das Rote Modell 1935

Am 9. November 2016 gewinnt Donald Trump die Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, kurz der USA. Am 9. November, für uns Deutsche eh schon ein vollbeladenes Datum. Mir ist schlecht. Ich begreife wieder einmal wie kurzsichtig meine politischen Hoffnungen sind. 1989 habe ich nicht mit der Wiedervereinigung gerechnet und jetzt nicht mit der Kraft des vollendeten, schamlosen Populismus. 50 Prozent der amerikanischen Bevölkerung sind nicht zur Wahl gegangen. 50 Prozent. Wie entsteht solche schreckliches Desinteresse? Er will eine Mauer, eine Mauer!, ich bin ostdeutsch und mauergeprägt, eine Mauer Richtung Mexiko bauen, er will, dass Mexiko diese Mauer bezahlt, und doch wählen ihn 23 % der mexikanischen Bevölkerung der USA? Was ist das? Er ist Isolationist und Protektionist, oder einfach nur jemand, der immer das sagt, was gehört werden will. Er ist unberechenbar und bald im Besitz der atomaren Codes, Herr des roten Knopfes, der unser aller Leben auslöschen kann.

http://www.independent.co.uk/news/world/americas/us-elections/donald-trump-refuses-to-rule-out-using-nuclear-weapons-in-attack-on-europe-a6961101.html 

Und dann, gestern Abend, nach Einkaufstour und sehr französischem Mittagessen, ein Besuch in der Cartoucherie der großen Arianne Mnouchkine - eine lange U-Bahnfahrt, dann ein Bus, Ankunft in der ehemaligen Munitionsfabrik, die Mnouchkine und unzählige Mitarbeiter in ein Theater verwandelt haben, in dem sie leben und arbeiten. Weil ich dieses Modell so liebe, fällt es mir schwer, zu sagen, das der Abend, eine erste Vorführung vor zahlendem Publikum, die Premiere ist erst in zwei oder drei Wochen, gräßlich kitschig und verharmlosend war. 

Drei Tage Paris und die Welt ist eine andere.