Montag, 16. Mai 2011

Interview mit Pierre Sanoussi-Bliss

“Happy days are here again, the skies above are clear again, so, let's sing a song of cheer again.”


Geboren in Berlin-Ost, welcher Stadtbezirk? Ich bin aus Mitte.  (
*** = Pierre )

*** Ich bin auch ein Mittiger! Charité. Damals Baracke. Heute wieder.

Du bist ausgebildeter Koch, hast Du je in dem Beruf gearbeitet, und wenn in welcher Gaststätte? Wurde der Gast platziert? Musstest Du Salatbeilagen anrichten, Weißkohl, Rotkohl und das obligate einsame Salatblatt?

 
*** Koch hab ich gelernt, weil ich irgendwas Kreatives machen wollte. Jodelkurse gabs ja nicht im Osten. Gearbeitet hab ich in diesem Job nie.  War als Basis gedacht. Hatte auch meinen Gastronomiestudienplatz schon in der Tasche, als die Schauspielschule dazwischenkam.

Deine Schauspielschule war die „Ernst-Busch“, eine Institution, wie sehr fühlst Du dich noch heute durch die Ausbildung dort geprägt? Wer war Dein Lieblingsdozent und warum?

*** Geprägt werde ich mich durch diese Schule wohl immer fühlen. Ich habe gelernt zuzuhören und mich als Teil eines Ensembles zu begreifen, wenn ich auf der Bühne oder vor der Kamera stehe. Die Übung nützt. Auch privat. Das soll bitte nicht arrogant klingen, aber ich habe bestimmt schon manche Szene gerettet, indem ich mich "anders geprägten" Kollegen angepasst habe (ohne mich unter den Scheffel zu stellen), die dachten, sie hätten die Spielkunst erfunden. Dadurch wurde das ein oder andere sicher erst sendefähig... Lieblingsdozenten hatte ich nicht. Ich kann nur wiedergeliebt lieben. Ich hatte nicht das Gefühl, dass an der Schule wirklich jemand an mich glaubte. Ich war der erste (männliche) Schwarze an einer DDR-Schauspielschule und musste mich dafür rechtfertigen, dass mir Steppen am Arsch vorbei ging. Da merkte ich die Absicht und war verstimmt. Hab dann allerdings mit der Musical-Hauptrolle in der Rock-Oper "Rosa Laub" am Metropol-Theater einen schönen Erfolg gefeiert. Und meine Eltern im Stück waren weiss und die Rolle auch, und keinen im Publikum hat`s gejuckt. In Dresden übrigens auch nie, wo ich sechs Jahre am Staatsschauspiel engagiert war und vom russischen Kolchosbauern bis zum französischen Prinzen alles mögliche gespielt habe.
 

Gestern habe ich eine Dokumentation über Stephen Fry und Hugh Laurie gesehen, die sich in Cambridge auf der Uni kennengelernt haben, Matthias Freihof und Du, wart ihr in einem Studienjahr an der Busch? Ihr arbeitet immer wieder zusammen, wie hilfreich ist die Vertrautheit solch einer langen Freundschaft?

*** Der Freihof und ich haben uns gehasst, als wir uns damals trafen. Er fand mich unmöglich (was ich war) und ich dachte, was für ein selbstgefälliger Fatzke (...). Aber irgendwie hat es nach zwei Monaten Zinggg gemacht und wir waren übergangslos die besten Freunde. 180-Grad-Wende aus dem Stand. Hab ich noch nicht analysiert. Ich hatte jedenfalls plötzlich einen Bruder. Wir verstehen uns wortlos und ich hab die Zusammenarbeit mit Matthias nie als ZusammenARBEIT empfunden. Da gibts kein Hauen und Stechen. Privat auch nicht.

Ich muss gestehen, dass ich mit misstrauischer Vorsicht ins Kino gehe, wenn ein deutscher Film läuft. Ewig die gleichen fünf Hauptdarsteller, oft keine Geschichten, sondern Absichten und der Humor.... Nun habe ich, in Vorbereitung auf dieses Gespräch, gleich zwei erfreulich unbehäbige, schräge und witzige deutsche Filme gesehen, „Keiner liebt mich“ (1994) und „Zurück auf Los“ (2000), beide sind mit Dir und Deiner Arbeit aufs Engste verbunden. Im ersteren spielst Du Orfeo, einen warmherzigen, bankrotten, traurigen Hochstapler, der seine Eurydike durch die grandiose Inszenierung des eigenen Todes vor dem Tod aus Lebensangst errettet. Und in deinem von Dir auch geschriebenen Regiedebut, ist es Sam, den Katastrophenmagneten mit seinem beneidenswerten, nicht zu erschütterndem Glauben an die Liebe. Wenn ich richtig geguckt habe, taucht „Bin ich schön“ in deinem Film sogar einmal als Schriftzug im Spiegel auf? Könnte man sagen, dass es sich um Teil 1 und 2 eines Filmes handelt?

*** Das ist auf den Punkt beobachtet, Johanna. Ich hatte nach den Dreharbeiten von Dörries "Keiner liebt mich" noch soviel Rollen"fleisch" übrig, dass ich mir ein weiteres Steak in die Pfanne hauen konnte. Orfeo ist ja eigentlich sehr todessehnsüchtig und ich habe Sam in "Zurück auf Los!" lebenshungrig wieder auferstehen lassen. Zumal ich mir auch die Frage beantworten wollte, was aus Orfeo eigentlich geworden ist. Er verschwindet ja in "Keiner liebt mich" einfach so. Allerdings mit viel Getöse. Die Dörrie konnte mir die Frage auch nicht beantworten. Aber dass ihn Ausserirdische geholt haben, mochten wir beide nicht glauben...

Beide Filme, obwohl im Abstand von 6 Jahren gedreht, spielen in dieser eigenartigen Zwischenzeit, wo die DDR schon nicht mehr richtig Osten, aber auch noch nicht wirklich Westen war, in so einer Art Zwitterwelt. ‚Grabower Küsschen’, pfeifende Wasserkessel und selbst das Geschirr lassen fast vergessene Erinnerungen wach werden. Doris Dörrie kommt aus Hannover, Maria Schrader auch, du bist Ost-Berliner, wie produktiv habt ihr eure verschiedenen Biographien nutzen können?

*** Die Dörrie hat sich nach unserem Kennenlernen so dermaßen auf meine Biographie gestürzt, dass ich dem Ganzen irgendwann Einhalt gebieten musste. Rudimente in "Keiner liebt mich" sind noch "... Aha. Gelernter Koch. Geboren in Ost-Berlin..." Und über die Schrader kann ich nichts sagen. Wir hatten absolut keinen Draht zueinander, was man dem Film glücklicherweise nicht ansieht. Hab keine Ahnung, warum. Hat uns aber beide nicht gestört. Grabower Küsschen esse ich heute noch, mein Wasserkessel pfeift elektronisch und auf meinen Gläsern steht "SUPERFEST"...

Orfeo und Sam – Ein und derselbe Mensch zu unterschiedlich Zeitpunkten?

*** Orfeo und Sam - Ein und derselbe Mensch zum gleichen Zeitpunkt. Wir sind EIN Volk.


Auch wenn die beiden Filme ein verwandtschaftliches Verhältnis haben, sind sie doch auch sehr unterscheidbar, Deiner ist schneller, ordinärer, sexier, manchmal auch ein bisschen sentimentaler. War Doris Dörrie eine Art Mentorin für Deinen ersten eigenen Film?

*** Als ich das Drehbuch für "Zurück auf Los!" fertig hatte, habe ich es der Dörrie gezeigt. Sie rief mich dann kurz an und sagte, sie würde gern die Regie machen. Kritiklos. Als "Das kleine Fernsehspiel" sich dann entschied, das Ding zu finanzieren, war die Bedingung, dass es nicht die Dörrie dreht. Sie war ihnen zu etabliert. Muss man sich auch leisten können. Sie hat gelacht. Ich habe mir dann zwischen mir als Hauptdarsteller und mir als Autor ein junges Regietalent vorgestellt, welches sich verwirklichen will (Nackenhaarekräuseln)... und es lieber selbst machen wollen. Das ZDF hatte keine Einwände. Auch nicht, als Doris dann eine Rolle im Film übernahm. Wir Newcomer.

Ein Hochstapler als tragischer Held, überhaupt bieten beide Filme einen sympathischen Mangel an herkömmlicher Küchen-und Sofamoral. Üblicherweise ist die in Filmen vorkommende Definition von Liebe, egal ob hetero, schwul oder sonstwie, in unseren Landen, wie in Hollywood, immer noch im Muster der romantischen Zweisamkeit gestrickt. Hier aber, erlebe ich Liebe, wie ich sie kenne, in all ihrer Unbeschreibbarkeit, Vertracktheit und Absurdität, aber auch ohne die modische destruktive Selbstbemitleidung. Würdest Du die beiden Filme als Liebesfilme beschreiben?

*** Absolut sind das Liebesfilme. Aber vielleicht mehr, weil sie einfach mit viel Liebe gemacht sind, ohne die Liebe erklären zu wollen. Geht nämlich nicht und damit eine zu vernachlässigende Grösse. Prall rein und schwups! wieder raus. "Das Leben, die alte Sau." lasse ich Manne in "Zurück auf Los!" sagen. Ich stimme zu.

Erleben wir die Geschichte in Doris Dörries Film hauptsächlich aus der Sicht von Fanny Fink (Maria Schrader), wechselt bei „Zurück auf Los“ die Perspektive auf Orfeo/Sam, wie ist Orfeo aus dem Zimmer in dem Hochhaus rausgekommen?

*** Da haben die Dörrie und ich keine Antwort drauf. Siehe oben. Auf alle Fälle liegt er am Filmbeginn von "Zurück auf Los!" als Sam Knall auf Fall wieder auf der Strasse, weil er grade von einem Leichenwagen über den Haufen gefahren wurde (eigentlich hätte ich die Dörrie den fahren lassen sollen, fällt mir eben so bei...). Und Schwarzenegger wird doch als Terminator auch immer so auf die Erde zurück gebeamt.

Das Motiv der karnevalesk verkleideten Leute, die immer mal wieder durchs Bild laufen, scheint mir, auch eins der verbindenden Elemente zu sein und die Drag Queen Auftritte, besonders Du als Nana Mouskouri. Was ist die Faszination für dich als Mann an Karaoke -Gesang in Frauenkleidern? Die Kostümierungen sind herrlich, aber warum nicht selber singen? Zumal Du das ja offensichtlich gut kannst? Ist es die ‚Verfremdung’ durch die Frauenstimme?

*** Habe ich ehrlich gesagt keine Ahnung, was sich die Dörrie dabei gedacht hat. Stand so da. Mach ick so. Für die Frau würde ich auch Maden und Känguruhoden vor der Kamera fressen. Selbst wenn sich mir der Sinn nicht erschlösse und hoffentlich liest das hier niemand von RTL.

Mein Liebling in „Zurück auf Los“ war die Schnittcollage, wo Pascal und Du singen und die beiden Jungs im Sessel wunderbar anzusehenden Sex haben, in beidem geöffnete Münder, das gesungene O und das O des Orgasmus. Sehr schön. Thomas Plenert hat hinter der Kamera gestanden, ich habe ihn bei „Blonder Tango“ (Lothar Warnecke) als einen risikofreudigen Wilden mit liebevoll gnadenlosem Blick erlebt. Wie habt ihr zusammengearbeitet?

*** Thomas ist toll. Er hat diesen dokumentarischen Blick. Ist ja sein Stall. Ich hatte genaueste Vorstellungen, wie diverse Einstellungen aussehen sollten. Ich hatte sie teilweise sogar im Drehbuch notiert. Wo bei uns Schauspielern sonst steht "stürzt herein. lächelt" stand dann eben "die Kamera beginnt auf... und schwenkt weiter zu..." War kein Problem mit Thommy. Wir haben nach dem Drehtag immer alles für den nächsten Tag besprochen und er hat dann dem Ganzen beim Dreh das Sahnehäubchen verpasst und mir im besten Falle Einstellungen untergejubelt, auf die ich nie gekommen wäre. Und da liebte jemand Schauspieler, wenn er durch die Linse guckte. Die Kamera allein kann sowas nicht.


Wie hast Du den Wechsel von „nur“ Schauspieler zu regieführendem Spieler erlebt? Ich habe mich erst einmal und dann auf dem Theater selbst inszeniert, und bemerkt dass man der eigenen Eitelkeit gegenüber sehr achtsam seien muss. Mir hat geholfen, dass in der Produktion Freunde besetzt waren, die mich gut genug kannten und mochten, um mich auch mal vor mir selbst zu schützen. Wie war das bei „Zurück auf Los“, wo Du ja in fast jeder Szene anwesend bist?

*** Ich habe einfach mitgespielt, Johanna. An den ersten beiden Tagen habe ich mir auf der Ausspielung unmittelbar nach der Aufnahme immer noch angeschaut, was ich grad gemacht habe. Dann hab ich nur noch Thommy und dem Spielerherzchen in mir vertraut. Flutschte. Alle wussten ja, wozu sie gebeten waren und hatten Spass an der Freud. Kraft durch Freude! Triumph des Willens!... Oh! Ähh, sorry... Wie war die Frage?

Am Ende bietet der Film nacheinander mögliche Schlüsse an, gab es mal einen anderen Schluss, als den den wir sehen?


*** Nein. Aber genau das wollte ich. Kein-Schluss-Schlüsse. Die letzte Seite fehlte allerdings in der ersten Kopie fürs ZDF. Copyshopfehler. Das ZDF hätte den Film aber auch so gemacht. Ich habe mich nur beim ersten Treffen mit dem Redakteur gewundert, warum er immer von so einem traurigen Ende sprach. Dabei hatte ich doch noch nie was Hoffnungsvolleres geschrieben!


DDR Schlager, Veronica Fischers Stimme, als Teil unseres gemeinsamen Unterbewusstseins. Als mein damaliger Freund zum NVA „Ehrendienst“ musste, habe ich tagelang „Klar wird ich warten“ auf dem Plattenspieler gehabt. Was hörst Du heute?

*** "Mach dir keine Sorgen um mich. Klar, ich warte auf dich..." Die DDR-Schlager fand ich nicht durchgehend toll. Hatte ein kleines Segment, in dem sich die Fischer, Holger Biege und die viel unterschätzte Angelika Mann mit ihrer Janis-Joplin-Röhre, sowie Angelika Weiz und noch ein paar Leutchen tummelten. Die Phudhys (wie schreibt man die?) nicht. Heute höre ich eigentlich alles gern, was Dreck in der Stimme hat. Das geht von Aretha Franklin über Patti LaBelle bis zu Luther Vandross, Barry White, Sade, Oleta Adams und Pascal von Wroblewsky.  Bin da irgendwo Anfang 80er steckengeblieben. Wenig weiss, seh ich grade. Muss ich mal drüber nachdenken...

In einer Szene im Bad sprühst Du Parfum und schreitest dann durch die Wolke, dass kenne ich nur von einer sehr koketten, sehr alten Freundin, wunderbar. Welches Parfum wäre Deine Wahl für dieses Ritual?

*** Ich habe (Stand 16. Mai 2011) 187 verschiedene Parfüms auf meinem Badezimmerschrank. Wenn ich Dir die Frage ehrlich beantworten soll,  müssten wir den Rest des Interviews nächsten Monat weiterführen, sag ich dann mal kokett.



Wann folgt der nächste Film? Warum die lange „Pause“? Ist es die Finanzierung oder braucht ein neues Drehbuch einfach viel Zeit?

*** Ein neues Drehbuch habe ich seit drei Jahren fertig. Es heisst "Weiber" und ist überall mit den besten Kritiken abgelehnt worden, die ich je für ein Drehbuch bekam. Es geht halt ordentlich zur Sache, aber bei dem "Mut" und Sendefähigkeitsverständnis einiger Redakteure heutzutage, müsste ich es erst nochmal von Inga Lindström bearbeiten lassen (welche eine sehr gute Freundin von mir ist, die sich sehr schön aufregen kann, dass selbst ihre Liebes-Schmonzetten nochmal glattgebügelt werden). Vielleicht mach ich das Buch selbst im nächsten Jahr. Material braucht man keines mehr. Machen wir eine Sommersause. Die "Weiber" haben in dem Sinne kein Verfallsdatum.

„Der Nix“ Ein erotisches Kinderbuch - das ist mir zuerst aufgefallen, die meisten Bücher für Kinder sind seltsam unsinnlich und prüde. Dabei kann man doch gerade bei Kindern beobachten, mit welcher Sinnlichkeit sie der Welt begegnen, wie sie sich das Leben mit ihren Sinnen erobern. Der Nix, wer ist das?

*** Es ist gar ein homo-erotisches Kinderbuch. "Der Nix" sind alle, die ein bisschen anders sind, ungenormt, und ihren Platz in der Welt suchen. Ich wollte ein bisschen Mut machen, damit, dass es immer Gleichgesinnte gibt, auch wenn man sich manchmal auf diesem Planeten sehr allein fühlt. Ich habe "Der Nix" inzwischen über 40mal vor Kindern von 8 - 89 gelesen und immer grossen Zuspruch geerntet, auch wenn viele den Subtext nicht verstanden haben. Für die ist es dann einfach eine schöne Geschichte... und das ist auch gut so.

„Die Rede des Schauspielers Pierre Sanoussi Bliss auf dem Integrationsgipfel 2006“ – wenn Schauspieler politische Reden halten, wirkt das oft verklemmt und altklug. Du hast das schlau vermieden, indem du sehr persönlich, sehr berlinisch, sehr geradeaus gesprochen hast.
„Ich fühl mich doch gottverdammt wohl in meiner Haut! Würde ich sie sonst zu Markte tragen?“
„Wir sind Möbel, die auch in dieses Haus gehören. Die schön sind und kostbar und die man gern in der Wohnung SIEHT und VORZEIGT und die ab und an mal Pflege brauchen, sonst ist früher oder später der Wurm drin.“
Auch in dem Kurzfilmdrehbuch, FARBFILM, dass ich auf Facebook gefunden habe, kreist Du um diesen Punkt. Mir ist erst in meinem Jahr in Kanada klar geworden, wie reinweiß sich Deutschland noch immer darstellt. In Toronto stellt sich jeder automatisch mit einer kurzen Zusammenstellung seiner familiären Herkunftsländer vor, ohne dass jemand auf die Idee käme sein „Kanadier-Sein“ in Frage zu stellen. Aber auf dem Theater und in vielen kanadischen Filmen entfärbt sich das Ganze wieder und wird, nicht so extrem wie hier, aber die kulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung bedenkend, doch sehr, sehr einfarbig. Steven Colbert, einer meiner amerikanischen Komiker Idole, sagt immer von sich, er sei völlig farbenblind, was ihn in die Lage versetzt sich über alle Farben, Religionen und politischen Richtungen gleichmäßig lustig zu machen. Wenn ich einem Mit-Deutschen gegenüber erwähne, dass ich Jude bin, erlebe ich immer wieder heftige Ausbrüche von allgemeiner Zuneigung zu unseren jüdischen Mitbürgern.
Was ist los? Was können wir tun?

*** Gute Frage.

Als Sammy Davis jr. gefragt wurde, was sein (Golf) Handicap sei, hat er geantwortet: My handicap? Man, I am a one-eyed black Jew! THAT`S my handicap!
Solche Witze macht man in Deutschland nicht. Begegnest Du häufig solch verkrampfter politischer Korrektheit?


*** Ich habe keine Antwort auf das ganze Dilemma. Die Integrationsgipfel-Rede könnte ich jährlich halten und es wäre in den Kies gepupt. Ich werde kein Umdenken mehr erleben. Ich mag auch nicht mehr ständig Balken aus den Augen operieren. Bin kein Augenarzt. Vielleicht ist das alles ja genetisch bei den Leuten. Herr Sarrazin, übernehmen Sie! Ich knutsch derweil Stevie Wonder. Der sagt: "Blind ist nicht schlimm. Hauptsache, ich bin nicht schwarz."

In der Krimi Serie „Der Alte“ spielst Du seit vielen Jahren den Assistenten des Kommissars mit dem schönen Namen Axel Richter, macht das nach wie vor Spaß? Zwei Deiner Serienkollegen hatten doch einen Kurzauftritt in „Zurück auf Los“, nicht?

*** Hatten sie! Und klar macht das Spass! Nach München ans Set ist immer auch ein bisschen wie nach Hause kommen. Wo gibts das noch beim Film? Selbst, wenn ich zum 100sten Mal frage, "Wo waren sie gestern gegen 22 Uhr?". Wir haben immer tolle Gastkriminelle und ich fang doch nicht an zu zicken, wenn ich mit Nöthen, Landgrebe, Froboess, Lothar, Zischler, Sass, Teuscher, Stappenbeck, Feifel, Striesow, Kriener, Mendl, Maertens, Schmiedinger, Sutter, Kremer, Reinecke, Ratte-Polle uswuwsusw... zusammenarbeiten kann! Bin i deppert? "Der Alte" läuft in 107 Ländern. Das reicht auch für das Luxusweibchen in mir. Den Rollennamen Axel Richter hab ich mir selbst geben dürfen. Mein Vorgänger hiess Henry Johnson und ich fand, es ist an der Zeit, den Leuten da draussen (und beim ZDF) zu verklickern, dass ein Schwarzer auch Olaf Müller heissen kann. Fällt mir doch der Heiner ein: "Der Neger ist sein eigener Regisseur. Er zieht den Vorhang, schreibt den Plot, souffliert... auf dem Theater seiner schwarzen Rache." Schön, oder?


Atombombe – eine Rede zum WeltAidsTag 2008:
„Aber, macht euch keine Gedanken! AIDS ist heilbar! Was soll die Panikmache? Die Medizin kriegt das schon in den Griff! Und ein paar Colleteralschäden muss man schon verkraften können. Schließlich kann einem ja auch an der nächsten Hausecke eine Atombombe auf den Kopf fallen.“
Diesem „das haben wir doch längst im Griff Denken“ im Bezug auf AIDS und seine Behandlung, begegne ich viel, besonders unter jüngeren Leuten. Glaubst Du, dass die öffentliche Debatte zu harmlos geführt wird? Das schlechte Gedächtnis der Menschen und ihre Fähigkeit zu verdrängen, wie kann man damit umgehen, ohne zu predigen?


*** Man kann Leute mit der PR beauftragen, die nicht selbst verklemmt sind. In Deutschland wird für afrikanische AIDS-Waisen gesammelt. Schön weit weg. Und unsere Jugend denkt inzwischen AIDS sei heilbar. Dann kann man mit den Milliönchen, die in halbherzige Kampagnen gepumpt werden auch Lotto spielen. Wann lief der letzte AIDS-Hilfe-Spot im TV? Und zwar am Nachmittag, vor der Seifenoper? "Rita, wat kost`n die Kondome?!" (Ende 80er?) kann doch nicht schon alles gewesen sein. Und was ist am Predigen so schlecht? Die Bibel wirkt ja auch flächendeckend. Hab ich gehört.

Du bist ehrenamtlicher Botschafter der Stiftung Kinderhospiz Mitteldeutschland Nordhausen e.V. in Tambach-Dietharz, wie kam es dazu? Was ist Deine Arbeit in diesem Zusammenhang?

*** Ehrlich gesagt, stelle ich nur meine Visage zur Verfügung und sammel Geld, wo ich kann. Ich habe im "Tatort-Quiz" der ARD im letzten Jahr zBsp. über 4000 € für die Stiftung gewonnen. Mache auch Benefiz-Kochen und dergleichen, wenn ich gefragt werde. Aber ich traue mich nicht zu den betroffenen Kindern. Es geht nicht. Ich kann weder eine Lesung für sie machen, noch mich sonst vor Ort sinnvoll betätigen. Es hätte niemand etwas davon. Sterbende Kinder brächten mich um.

Erich Kästner - Traurigkeit die jeder kennt

Man weiß von vornherein, wie es verläuft.

Vor morgen früh wird man bestimmt nicht munter.

Und wenn man sich auch noch so sehr besäuft:

die Bitterkeit, die spült man nicht hinunter.

Die Trauer kommt und geht ganz ohne Grund.

Und angefüllt ist man mit nichts als Leere.

Man ist nicht krank. Und ist auch nicht gesund.

Es ist, als ob die Seele unwohl wäre.

Man will allein sein. Und auch wieder nicht.

Man hebt die Hand und möchte sich verprügeln.

Vorm Spiegel denkt man: "Das ist dein Gesicht?"

Ach, solche Falten kann kein Schneider bügeln.

Vielleicht hat man sich das Gemüt verrenkt?

Die Sterne ähneln plötzlich Sommersprossen.

Man ist nicht krank. Man fühlt sich nur gekränkt.

Und hält, was es auch sei, für ausgeschlossen.

Man möchte fort und findet kein Versteck.

Es wäre denn, man ließe sich begraben.

Wohin man blickt, entsteht ein dunkler Fleck.

Man möchte tot sein. Oder Gründe haben.

Man weiß, die Trauer ist sehr bald behoben.

Sie schwand noch jedes Mal, so oft sie kam.

Mal ist man unten, und mal ist man oben.

Die Seelen werden immer wieder zahm.

Der Eine nickt und sagt: "So ist das Leben."

Der andre schüttelt seinen Kopf und weint.

Wer traurig ist, sei´s ohne Widerstreben!

Soll das ein Trost sein? So war´s nicht gemeint.

Erich Kaestner  (1899-1974)

 

Sonntag, 15. Mai 2011

Theater hat auch eine verrückte Tante im Ensemble 4


Der Trinker (meist männlich) - es gibt ihn in drei, höchst unterschiedlichen, Variationen. 
Da wäre das trinkende Genie oder der geniale Trinker, fast alle Vertreter der übergeordneten Gruppe halten sich dafür, die wenigsten sind es. Er ist ein Mysterium, sein Gehirn, alkoholmariniert, produziert Grossartiges, selbst volltrunken, spricht er auf der Bühne klar und verständlich, seine Spieleinfälle sind unerklärbar und zauberhaft, seine Aura atemberaubend. Als Partner stellt er eine Herausforderung dar, ich erinnere mich, wie ein Kollege sich genüßlich verweigerte, mir einige für den Fortlauf des Stückes notwendige Informationen zu geben, die meiner Figur unmöglich bekannt seien konnten, und nicht weil er seinen Text nicht erinnerte, sondern aus kindlich bösartigem Vergnügen an der Provokation. Man wächst daran, auch wenn man sich gelegentlich beim Durchspielen phantasievoller und schmerzhafter Tötungsversuche erwischt. Er ist ein grandioser, unermüdlicher Kantinenclown und auf wunderbare Weise am nächsten Morgen um Punkt zehn probenfähig. Besitzer einer tiefinneren Traurigkeit, die er bekämpfen muss und koste es den Verstand. Wenn diese Ausnahmen, aus gesundheitlichen oder spirituellen Gründen, aufhören zu trinken, passiert oft Trauriges, sie strahlen nicht mehr, nurmehr ein Schatten ihres vormaligen ständig gefährdeten Selbst, werden sie ordentliche, brave Schauspieler. Dafür leben sie länger, als die die weitertrinken. Und die, die durchhalten, sprich weitersaufen, bezahlen einen hohen Preis, mit zunehmendem Alter und abnehmender Widerstandskraft des Körpers, rutschen sie in die zweite Kategorie: den gewöhnlichen Alkoholiker. Kommt er heute, oder nicht, in welchem Zustand?
Was soll man dazu sagen. Es ist eine Krankheit. Wir ignorieren es so gut oder schlecht es geht, reden nur ungern darüber. Ein kranker Mensch. Es gibt ihn in allen Professionen.
Und dann all die, die jeden Abend schnell mal 10 Bier trinken und die, die vor der Vorstellung ein Sektchen kippen und in der Pause und danach. Manchmal werden "trockene" Wochen eingelegt, Selbstexerzitien zur Selbstversicherung. Ein Beruf, wie unserer, in dem das Selbstwertgefühl in starkem Maße von einem schwerlich beeinflußbaren Außen bestimmt wird, gibt der Sehnsucht nach dem Rausch guten Boden. (Wobei ich hier nicht dem Vorurteil, alle Schauspieler seien Trinker und Hedonisten, das Wort reden will. Oder doch?)
 
Der Tod und der einsame Trinker
Eine Mitternachtscene.

"Guten Abend, Freund!"

        "Dein Wohl!"
"Wie geht's?"
        "Dein Wohl!"
"Schmeckt's?"
        "Dein Wohl!"
"Du zürnst mir nicht mehr?"
        "Dein Wohl!"
"Im Ernst?"
        "Dein Wohl!"
"Hab Dank!"
        "Dein Wohl!"
"Aber -"
        "Dein Wohl!"
"Zuviel!"
        "Dein Wohl!"
"Nun -"
        "Dein Wohl!"
"Wie du willst!"
        "Dein Wohl!"
"Narr!"
        "Dein Wohl"
"Genug!"
        "Dein -"

Christian Morgenstern

Viktor Oliva: Der Absinthtrinker (1901)

Filmtipp:
Ein Draufgänger in New York oder My Favorite Year, Film gedreht 1982 mit Peter O'Toole in der Hauptrolle, Regie: Peter Bejamin. Basierend auf Erlebnissen von Mel Brooks, dem Produzenten, als er für eine Unterhaltungsshow beim Fernsehen arbeitete und Errol Flynn, betrunken wie eine Raderhacke als Gast erschien. O'Toole ist brillant, er weiss wovon er spielt!



Radehacke: im gemeinen Leben einiger Gegenden, eine Haue oder Hacke, mit einer nach der Quere gehenden breiten Schärfe zum raden, d. i. reuten oder ausrotten, daher sie im Hochdeutschen richtiger Reuthaue heißt (Oeconomischen Encyclopädie 1773 - 1858 von J. G. Krünitz)
In der Online Enzyclopädie: »Nach dem Fusel biste blau wie ’ne Radehacke.« Abgeleitet vom Schwindelgefühl, das seit dem 16. Jh. in folgender Wendung ausgedrückt ist: »Mir wird blau (schwarz) vor Augen.« Der Betrunkene ist so voll wie die mit Erde, Unkraut und Wurzeln gefüllte Radehacke.
oder in "Die Richtigen Berliner in Wort und Redensarten": Die blanken Stellen bei neuen Rübenhacken waren immer blau gestrichen.

Repost, verändert - Helene Weigel