Deutschland - Ostgebiete - 1953 und 1954
Ein nicht mehr junger Dichter sitzt an einem wunderschönen Ort im Brandenburgischen und schreibt Gedichte. Er hat bis dahin ein anstrengendes Leben geführt. Aus der Kleinstadt in die Großstadt, aus der Heimat vertrieben in die Fremde, die ihn nicht willkommen heißt, und dann wieder zurück nach Hause mit großer Hoffnung, vielleicht auch wider besseres Wissen. Und nun, kurz vor seinem Tod, von dem er noch nichts weiß, aber vielleicht eine Ahnung hat, das Herz schlägt schneller, will er wahrhaftig sein, ideologiefrei, doch angstvoll und vorsichtig. Denn der Verlust der Hoffnung wäre wahrhaft tödlich.
1
DER BLUMENGARTEN
Am See, tief zwischen Tann und Silberpappel
Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten
So weise angelegt mit monatlichen Blumen
Daß er vom März bis zum Oktober blüht.
Hier, in der Früh, nicht allzu häufig, sitz ich
Und wünsche mir, auch ich mög allezeit
In den verschiedenen Wettern, guten, schlechten
Dies oder jenes Angenehme zeigen.
2
GEWOHNHEITEN, NOCH IMMER
Die Teller werden hart hingestellt
Daß die Suppe überschwappt.
Mit schriller Stimme
Ertönt das Kommando: Zum Essen!
Der preußische Adler
Den Jungen hackt er
Das Futter in die Mäulchen.
3
RUDERN, GESPRÄCHE
Es ist Abend. Vorbei gleiten
Zwei Faltboote, darinnen
Zwei nackte junge Männer.
Nebeneinander rudernd Sprechen sie. Sprechend
Rudern sie nebeneinander.
4
DER RAUCH
Das kleine Haus unter Bäumen am See
Vom Dach steigt Rauch
Fehlte er
Wie trostlos dann wären
Haus, Bäume und See.
5
HEISSER TAG
Auf den Knien die Schreibmappe
Sitze ich im Pavillon. Ein grüner Kahn
Kommt durch die Weide in Sicht. Im Heck
Eine dicke Nonne, dick gekleidet. Vor ihr
Ein ältlicher Mensch im Schwimmanzug, wahrscheinlich ein Priester.
An der Ruderbank, aus vollen Kräften rudernd
Ein Kind. Wie in alten Zeiten! denke ich
Wie in alten Zeiten!
6
BEI DER LEKTÜRE EINES SOWJETISCHEN BUCHES
Die Wolga, lese ich, zu bezwingen
Wird keine leichte Aufgabe sein. Sie wird
Ihre Töchter zu Hilfe rufen, die Oka, Kama, Unsha, Wetluga
Und ihre Enkelinnen, die Tschussowaja, die Wjatka.
Alle ihre Kräfte wird sie sammeln, mit den Wassern aus siebentausend Nebenflüssen
Wird sie sich zornerfüllt auf den Stalingrader Staudamm stürzen.
Dieses erfinderische Genie, mit dem teuflischen Spürsinn
Des Griechen Odysseus, wird alle Erdspalten ausnützen
Rechts ausbiegen, links vorbeigehn, unterm Boden
Sich verkriechen - aber, lese ich, die Sowjetmenschen
Die sie lieben, die sie besingen, haben sie
Neuerdings studiert und werden sie
Noch vor dem Jahre 1958 bezwingen.
Und die schwarzen Gefilde der Kaspischen Niederung
Die dürren, die Stiefkinder
Werden es ihnen mit Brot vergüten.
7
GINGE DA IN WIND
Könnte ich ein Segel stellen.
Wäre da kein Segel
Machte ich eines aus Stecken und Plane.
8
DER RADWECHSEL
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?
9
DIE LÖSUNG
Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?
10
BÖSER MORGEN
Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit
Heut eine alte Vettel. Der See
Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren!
Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel.
Warum?
Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend
Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und
Sie waren gebrochen.
Unwissende! schrie ich
Schuldbewußt.
11
DIE NEUE MUNDART
Als sie einst mit ihren Weibern über Zwiebeln sprachen
Die Läden waren wieder einmal leer
Verstanden sie noch die Seufzer, die Flüche, die Witze
Mit denen das unerträgliche Leben
In der Tiefe dennoch gelebt wird.
Jetzt
Herrschen sie und sprechen eine neue Mundart
Nur ihnen selber verständlich, das Kaderwelsch
Welches mit drohender und belehrender Stimme gesprochen wird
Und die Läden füllt – ohne Zwiebeln.
Dem, der Kaderwelsch hört
Vergeht das Essen.
Dem, der es spricht
Vergeht das Hören.
12
GROSSE ZEIT, VERTAN
Ich habe gewußt, daß Städte gebaut wurden
Ich bin nicht hingefahren.
Das gehört in die Statistik, dachte ich
Nicht in die Geschichte.
Was sind schon Städte, gebaut
Ohne die Weisheit des Volkes?
13
DER EINARMIGE IM GEHÖLZ
Schweißtriefend bückt er sich
Nach dem dürren Reisig. Die Stechmücken
Verjagt er durch Kopf schütteln. Zwischenden Knieen
Bündelt er mühsam das Brennholz. Ächzend
Richtet er sich auf, streckt die Hand hoch, zu spüren
Ob es regnet. Die Hand hoch
Der gefürchtete S. S. Mann.
14
LEBENSMITTEL ZUM ZWECK
An Kanonen gelehnt
Teilen die Söhne Mac Carthys Schmalz aus.
Und in unendbarem Zug, auf Rädern, zu Fuß
Eine Völkerwanderung aus dem innersten Sachsen.
Wenn das Kalb vernachlässigt ist
Drängt es zu jeder schmeichelnden Hand, auch
Der Hand seines Metzgers.
15
BEI DER LEKTÜRE EINES SPÄTGRIECHISCHEN DICHTERS
In den Tagen, als ihr Fall gewiß war
Auf den Mauern begann schon die Totenklage
Richteten die Troer Stückchen grade, Stückchen
In den dreifachen Holztoren, Stückchen.
Und begannen Mut zu haben und gute Hoffnung.
Auch die Troer also ...
16
TANNEN
In der Frühe
Sind die Tannen kupfern.
So sah ich sie
Vor einem halben Jahrhundert
Vor zwei Weltkriegen
Mit jungen Augen.
17
DER HIMMEL DIESES SOMMERS
Hoch über dem See fliegt ein Bomber.
Von den Ruderbooten auf
Schauen Kinder, Frauen, ein Greis.
Von weitem
Gleichen sie jungen Staren, die Schnäbel aufreißend
Der Nahrung entgegen.
18
LAUTE
Später, im Herbst
Hausen in den Silberpappeln große Schwärme von Krähen
Aber den ganzen Sommer durch höre ich
Da die Gegend vogellos ist
Nur Laute von Menschen rührend.
Ich bin's zufrieden.
19
DIE MUSEN
Wenn der Eiserne sie prügelt
Singen die Musen lauter.
Aus gebläuten Augen Himmeln sie ihn hündisch an.
Der Hintern zuckt vor Schmerz
Die Scham vor Begierde.
20
VOR ACHT JAHREN
Da war eine Zeit
Da war alles hier anders
Die Metzgerfrau weiß es.
Der Postbote hat einen aufrechten Gang.
Und was war der Elektriker?
Bertolt Brecht: Buckower Elegien
In: Bertolt Brecht: Gedichte 2. Sammlungen 1938-1956. Berlin, Weimar, Frankfurt am Main 1988. S. 305-315. Kommentar S. 444-450
Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Band 12
Bitte die Farbwahl aendern, grau auf schwarz ist bei mir leider unlesbar.
AntwortenLöschenLeider nimmt der Blog momentan keine Farbänderungen an. Der ist bockig.
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