Donnerstag, 3. September 2015

Meine Mutter ist gestorben

Meine Mama ist tot. Ich habe sie lieb gehabt und jetzt ist sie weg.

Jemand postet ihre Todesanzeige und ein fescher junger Mann kommentiert: "Endlich BB ohne BBS!"

Barbara Brecht-Schall war auch einmal Schauspielerin, sie gehörte zur BE-Familie und trug ihre Rolle mit Stolz – den schlechten Ruf, eine Verhinderin zu sein. Heute gibt es wieder Leute, die Stücke lieber in ihrer Textgestalt sehen als in der freien Fantasieform eines Regisseurs. Nur: Das müssen Theaterleute entscheiden, wie sie zu Brecht finden, mit ihm umgehen. So wie er umgegangen ist mit anderen zu seiner Zeit. Wenn Erben mit Argusaugen wachen, riecht es nach Willkür und gestrigem Mief; auch bei Kurt Weill gibt es Probleme mit den Rechte-Habern. Barbara Brecht-Schall sah darin ihre Lebensaufgabe: Brecht zu bewahren als Standbild. Eine doch eher traurige Berühmtheit. 
Schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel.

Was wissen diese Leute? 
Der Skandaal um Baal! (Brechts Reime sind die besten! Zitat meiner Mutter) 
Ein paar Dramaturgen im Residenztheater machen ihre Hausaufgaben nicht - nein, wir reden nicht mit der alten doofen Tante, die wird schon kuschen, die ist alt, und ein pissiger Skandal, neudeutscher Art wird geboren. Sie unterschreiben einen Vertrag, den sie nicht einzuhalten gedenken und verstecken sich dann hinter verlogener kunstliebender empörter Attitüde. Und ich muß nun mitansehen wie meine Mutter als sture, dumme, uneinsichtige NichtsweiteralsTochter beschrieben wird. Brecht ist jahrelang der meistgespielteste deutsche Autor, aber sie ist eine Verhinderin der übelsten, miefigen, und natürlich auch geldgierigen Sorte. 
Frank Castorf hat einen großartigen "Baal" inszeniert und war zu faul oder zu feig, sich mit einer älteren Dame auseinanderzusetzen. Aber sie ist blöd? Nennt das Ding um in "Baal Apocalypse" frei nach bb und alles ist ok. Aber nein, ein Skandal ist schicker. Dämlich. Weil der Theaterabend, den ich gesehen habe, war erstaunlich und wahrhaftig.
"Die Dreigroschenerbin" - What the fuck? - Sie verbietet, weil die Inszenierung nicht ihre klar formulierten Regeln einhält (Striche und Umstellungen nach Wunsch, aber keine Fremdtexte). Sie verdient also weniger durch das Verbieten, und ist doch nur gierig?
Mit drei Jahren als Hochverräterin angeklagt und von einer mutigen Calvinistin aus dem plötzlich lebensgefährlichen Heimatland geschmuggelt, über Wien, Zürich, Dänemark, Schweden, Finnland, die UdSSR in die USA entkommen. Ohne Heimat, ohne Muttersprache, ohne ausreichendes Geld. Gerettet durch die uneigennützige Hilfe erstaunlicher Menschen, kam sie 1947 zurück in das zerstörte und verlogene neue Deutschland und lernte Deutsch, lebenslang schrieb sie in amerikanischer Art und las lieber Englisch. 
Sie hat mir die alten Hollywoodfilme nahegebracht, im Dritten Programm, Fred Astair und Cary Grant und Walter Huston. Sie hat nie auf einem Stuhl sitzen können, wie "normale" deutsche Mütter, sie saß bequem, mit einem Fuß auf dem Stuhl. Sie hat mir Johnny Dodds vorgespielt und Rudyard Kipling vorgelesen. Mir vorelisabethanische Gedichte als Einschlafhilfe rezitiert. 
Sie hatte eine kindlich beschützende Beziehung zu ihren Eltern. Rettet ihr mich, rette ich euch? 
Castorf ist ein großer, möglicherweise genialer Regisseur, aber, dass jetzt jeder mittelbegabte Künschtler meint, dass seine Interpretation spannender und relevanter sei, als das geschriebene Kunstwerk, macht mich mißtrauisch. Ich wäre gern Castorf oder Petras, bin ich aber nicht. Ich kann, was ich kann. Und das ist nicht wenig. Stücke sind Material, aber nicht zu zermetzelnde Feinde. 

Das hat eine Freundin aus alter Zeit geschrieben und es ist wahr:
Liebe Hanna, es ist wirklich Äonen von Jahren her: nach einer Theateraufführung saßen wir beide um Mitternacht erzählend auf der Bettkante Deiner Mama. Und plötzlich stand sie auf, ging den langen Gang zur Küche und kam mit zwei großen Gläsern Pimms zurück: Longdrink, Strohhalm, Gurke! und die lässige Aufnahme von zwei Teenagern in den Kreis der Erwachsenen.


3 Kommentare:

  1. Der schönste Name

    Der schönste Nam' im Erdenrund
    Das schönste Wort im Menschenmund
    Ist: Mutter!

    Ja, keines ist so tief und weich,
    So ungelehrt, gedankenreich,
    Als: Mutter.

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  2. Wunderbar! Auf den Punkt formuliert. Und so traurig...

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  3. Liebe Johanna, mein Beileid. Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte, so auch unter ihrem. Und es macht mich stolz und froh, auch wenn nur als modeste Randfigur, daran teilgenommen zu haben - sowohl in wunderbaren, als auch in weniger schönen Stunden. Wie das Leben es nun mal ist. Sei umarmt von deinem entfernten, aber nahen Verwandten...
    LG
    Vladi

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