Donnerstag, 20. April 2023

Nächtliche Gedanken

Neuerdings habe ich merkwürdige Unterhaltungen mit einer lieben Freundin, wird die Klimakatasrophe oder Deepfakes das Ende unserer Welt einläuten? Verkehrte Welt, wir diskutieren die Varianten ihres Untergangs. Wann ist es normal geworden über das Ende der Welt zu reden? Gab es diese Gespräche schon seit je? Apokalypsen wurden zyklisch wohl schon immer vorausgesagt und fast jede Generation meinte, ihre Zeit wäre schlimmer, als alle davor. Aber. Aber jetzt? Klima in katastrophalem Zustand, Krieg allüberall und in unserer Nachbarschaft, KI, Deepfake und der Rechtsrutsch ganzer Demokratien. Schlimmer?

Heute Abend in der Schaubühne The Wooster Group mit einer Hommage an Tadeusz Kantor, den polnischen Theatergott. 

Merkwürdig.

Ein polnischer Jude, dessen Vater in Ausschwitz umkam und der im katholischen Polen der Stalinzeit aufwuchs, erschafft theatralische Ereignisse über sich selbst, sein Leid, seine Hoffnungen, seine Erwartung oder Ersehnung des Todes. Der Abend auf den sich die Rekonstruktion beruft, hieß "Ich werde nicht wiederkehren" und war eine Collage all seiner vorherigen Inszenierungen. Der Titel bezieht sich auf ein Stück von Stanislaw Wyspiański über Odysseus, der nach seinen Irrfahrten in Ithaka ankommt, alle Freier tötet und dann feststellt, das er nicht einfach wieder zurückkommen kann, weil er ein anderer geworden ist. 

Eine New Yorker Institution, eben jene Wooster Group untersucht 2022/23 das Werk dieses Mannes, der 1990 starb.

Theater verschwindet mit seinen Akteuren, keine Kränze usw., hier wird ein Wiederbelebungsversuch unternommen. Und das funktioniert in Momenten. Die Synchronisation von alten Probenmitschnitten und akut erlebter Darstellung ist spannend. Vieles war mir zu selbstreferentiell, Theater, das Theater kommentiert. Aber ein Moment ist stark und erschütternd. Ein junger Mann aus New York singt ein Lied, das ein Jude, Azriel David Fastag, auf dem Transport nach Treblinka geschrieben hat und dessen Melodie auf abenteuerliche Weise überlebt hat. Juden haben es gesungen, während sie in die Gaskammer gingen.

Ani Ma'amin - I believe - Ich glaube

I believe / with complete faith / in the coming of the Messiah / in the coming of the Messiah I believe / though he may delay / every day / I believe.

Ich glaube / mit tiefem Glauben / an die Ankunft des Messias / an das Kommen des Messias glaube ich / auch wenn er etwas zu spät kommt / ich glaube. 

Trauriger geht nicht.


with a complete faith10
in the coming of the Messiah
in the coming of the Messiah I believe
though he may delay
still every day
I believe
https://lyricstranslate.com/de/ani-maamin-i-believe.html
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in the coming of the Messiah
in the coming of the Messiah I believe
though he may delay
still every day
I believe
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in the coming of the Messiah I believe
though he may delay
still every day
I believe
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Was ich habe, will ich nicht verlieren

Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin

Thomas Brasch 1977

Was die Dramaturgie der Schaubühne darüber schreibt:

»A PINK CHAIR (In Place of a Fake Antique)« unternimmt eine szenische Rekonstruktion des vorletzten Stücks von Tadeusz Kantor, »I Shall Never Return«. Der polnische Theatermacher und Künstler, der in seinen wegweisenden Arbeiten immer wieder die Grenzen zwischen bildender Kunst und Theater überschritt, inszenierte das Stück 1988 kurz vor seinem Tod und wirkte selbst darin mit. Zusammen mit Kantors Tochter Dorota Krakowska als Leiterin sowie Probenaufzeichnungen der Inszenierung begibt sich The Wooster Group auf eine Expedition in die Vergangenheit der europäischen Theateravantgarde und auf die Suche nach einer verlorenen Zeit – und wiederholt damit ein Wagnis, das auch Kantors Schauspieler_innen virtuos in »I Shall Never Return« unternahmen. Diese Inszenierung, die irgendwo zwischen Ithaka und einem polnischen Gasthaus angesiedelt ist, erscheint wie ein Vermächtnis Kantors, in dem er frühere Stücke, u. a. seine erste Arbeit »Die Rückkehr des Odysseus«, auf die Bühne zurückholt und in der sich alles um das zentrale Motiv des Abschieds dreht. In bildstarken surrealistischen Szenen tauchen Wiedergänger_innen alter Figuren auf. Über die Geschichte dieser wie aus einem Stummfilm gefallenen Charaktere wird immer wieder auch bruchstückhaft Kantors eigene Biografie zusammengesetzt, die von Verlust, Krieg und dem ständigen Bewusstsein um Vergänglichkeit und Tod geprägt ist. Es ist ein visionäres Spektakel, halb Alptraum, halb Groteske, und eindrückliches Beispiel für das, was Kantor selbst sein »Theater des Todes« nannte. Ein Theater des Todes, das The Wooster Group mit ihren Spieler_innen nun wieder zum Leben erweckt, indem sie die Rekonstruktion der Rekonstruktion versucht.

Mittwoch, 19. April 2023

Ein Maler schreibt ein Gedicht

Gefunden in

Paris Magnétique

einer Ausstellung über jüdische Künstler in Paris 1905 bis 1940

im Jüdischen Museum Berlin

 

Den ermordeten Künstlern


Ob ich sie alle gekannt habe? Ob ich in ihrem Atelier gewesen bin?

Ob ich ihre Kunst von nah und fern gesehen habe?

Und jetzt trete ich aus mir heraus, aus meinen Jahren,

und gehe an ihr unbekanntes Grab.

Sie rufen mich, sie ziehen mich in ihre Grube – mich

Den Unschuldigen, den Schuldigen.

Sie fragen mich: Wo bist Du gewesen?

- Ich bin entflohen ...

Sie hat man zu den Todes-Duschen geführt,

wo sie ihren Schweiß schmeckten.

Da sahen sie das Licht

Ihrer ungemalten Bilder.

Sie haben die ungelebten Jahre nicht gezählt,

welche sie gespart und aufbewahrt hatten,

für die Erfüllung ihrer Träume

schlaflose, verschlafene.

Sie haben in ihrem Kopf jenen Kindheitswinkel –

gesucht, in dem der sternumkränzte Mond

ihnen eine helle Zukunft versprach.

Die junge Liebe im finsteren Zimmer, im Gras

Auf Bergen und Tälern, die aufgeschnittene Frucht,

mit Milch begossen, mit Blumen bedeckt,

verkündete ihnen ein Paradies.

Die Hände ihrer Mutter, ihre Augen,

begleiteten sie zur Bahn,

zu fernem Ruhm.

Ich sehe: Da schleppen sie sich nun – in Lumpen

barfuß, auf stummen Wegen.

Die Brüder von Israëls, Pissaro und Modigliano, unsere Brüder.

Es führen sie in Stricken, die Brüder von Dürer, Cranach und

Holbein – zum Tode in die Krematorien.

Wie kann ich, wie soll ich Tränen vergießen.

...

Marc Chagall


 

Sonntag, 9. April 2023

Sonne und Beton - Ein Film

Walter Adolf Georg Gropius (* 18. Mai 1883 in Berlin; † 5. Juli 1969 in Boston, Massachusetts) war ein deutscher (seit 1944 US-amerikanischer) Architekt und Gründer des Bauhauses. Beginnend 1960 entwickelte er das Wohnbau-Projekt Gropiusstadt in Berlin-Neukölln. Die rund 18.500 Wohnungen der von Walter Gropius geplanten Trabantenstadt wurden zu 90 Prozent als Sozialbauwohnungen errichtet. Seit den 1980er Jahren gilt die Gropiusstadt als sozialer Brennpunkt. 

Levy Rico Arcos, der Hauptdarsteller.

Der Film: Vier Jungen, 15, 16 Jahre alt, leben in eben dieser Gropiusstadt, jetzt, 2023, nicht mehr als 15 Kilometer von mir in Berlin-Mitte, dem wahrscheinlich gentrifiziertesten Teil meiner Stadt, entfernt. Mit ihnen erlebe ich eine fremde Welt, die meiner bekannten benachbart ist und doch nur in Momentaufnahmen von ihr aus sichtbar.

Ein Film über eine mir nahezu gänzlich unbekannte Kultur. Na klar, ich schnappe täglich Gesprächsfetzen in der U- oder S-Bahn auf oder wenn ich gelegentlich in Neu-Kölln bin und meine älteste Freundin ist Lehrerin an einer Brennpunktschule in dem Bezirk und sie erzählt viel. Ich habe auch erlebt, wie sich ihr Wortschatz verändert hat in der täglichen Konfrontation mit ihren Schülern. Verrückterweise hatte ich die ersten 15 Minuten sogar Schwierigkeiten dem Dialog zu folgen, bis ich mich in dieses fremde Deutsch eingehört hatte, alle, biodeutsch oder ganz oder teilweise anderen Regionen entstammend sprachen ein anderes, exotisches Deutsch, gespickt mit "ficken", "Hurensohn", "schwul" und erstaunlich und erschreckend phantasievollen Zusammenstellungen von Verbalinjurien aller Art. Gewalttätige Sprache ist offensichtlich oder oder besser offenhörlich überlebenswichtig in solchen Zusammenhängen. 

Diese Kinder sind in Not, Gewalt in unterschiedlichsten Formen gehört zu ihrem Alltag. Sie erleben sie. Sie üben sie nach streng hierarchischen Regeln aus. Sie klammern sich an sie, wie an eine Boje im Sturm. Sie werden von ihr überwältigt und gebrauchen sie ohne sichtbare Skrupel. Kein Geld in einer Welt voller Verlockungen, keine Macht über den Gang des eigenen Lebens, keine nachlebbaren, glaubwürdigen Regeln nach denen sie sich richten könnten.

Die Spieler sind gecastete Laien, aber wahrlich bedacht und genau gecastet. Levy Rico Arcos spielt Lukas, Vincent Wiemer Julius, Rafael Luis Klein-Hessling Gino, Aaron Maldonado Morales Sanchez und alle drumherum. 

Ich habe große Teile des Films durch meine angstvoll gespreizten Finger gesehen, obwohl die eigentliche Brutalität nicht gezeigt wurde, nur Intention von Gewalt, nicht die Treffer. Die Geräuschemacher und Schnittmeister haben tolle Arbeit geleistet.

Hingehen, angucken, erschrecken, nachdenken.