Montag, 18. Januar 2016

Eigentlich keine Geschichte

Meine erste Nachtschicht. 

Johanna, pflegerische Hilfskraft - neunzehn Jahre alt, aufgeblasen vom Gefühl der Unbesiegbarkeit und Selbstgewissheit, noch nichts erlebt habend, aber alles wissend, erscheint zum Dienst auf der Station 21 des Krankenhauses Friedrichshain, der um 22.00 Uhr beginnt. 

Acht Stunden nur ich und siebzehn Zimmer mit vielleicht fünfzig chirurgischen Patienten und natürlich der Arzt vom Dienst. Nur muß der noch drei andere Stationen versorgen und operieren und, wenn möglich, auch mal kurz schlafen und ist also nur im Notfall zu rufen. 

Ich bin pflegerische Hilfskraft, aber Schwestern sind knapp, ich habe Abitur und ganze drei Monate Arbeitserfahrung, also wird das schon klappen. Hybris - ich kannte das Wort damals noch nicht, aber es trifft.

Gott sei Dank ist niemandem etwas passiert!

Also, ich erscheine zum Nachtdienst, die Station wird mir übergeben, die Spätschicht geht, ich bleibe allein.

In Zimmer 209 liegt eine wunderschöne, alte Dame, Näherin von Beruf, das eine Bein, das, welches das Maschinenpedal betrieben hat, ist deutlich dicker als das andere. Sie war noch nie im Krankenhaus, noch niemals krank. 

Nachtdienste werden alleine absolviert, Schwesternmangel halt, also beginnt das Waschen der Bettlägrigen um 4.00 Uhr. Vier Patienten waschen, pro Person 30 Minuten und um 6.00 Uhr kommt die Frühschicht. Die Betten haben keine Motoren, nur Muskelkraft und Mithilfe des Patienten ermöglichen eine wirklich gründliche Wäsche.

Der alten Dame geht es nicht gut, aber ihr höfliches Wesen läßt sie heiter und verharmlosend mit mir schwatzen. Sie hat Kinder, viele, Enkelkinder, noch viel mehr. Sie hatte ein gutes Leben, sagt sie. 

Unser Chefarzt Professor Doktor Schmauß, in der DDR lebender Bayer, rabiater Choleriker und phantastischer Chirurg stellt vorsorglich immer einige Piccoloflaschen Sekt, Marke Rotkäppchen, in den Stationskühlschrank, "falls jemand Lust darauf hat". 

Ich schlage der Dame vor ein Glas Sekt zu trinken. Sie stutzt, denkt nach, stimmt zu. Und wir beide trinken süßen Sekt aus Zahnputzgläsern um 4.30 Uhr in der Früh. Eine Orgie für sie, die nie die Gelegenheit hatte Unsinn zu treiben. Für mich eine tiefe Erinnerung bis heute.

Eine Woche später ist sie gestorben, während ich keine Schicht hatte. Ihre vielen Nachkommen waren sehr traurig. Sie haben sie offensichtlich sehr geliebt. 

Sterben ist einzigartig, der Tod ist es nicht.


1 Kommentar:

  1. Wunderschön. Ich hab' mir Eure Gesichter vorgestellt. Beim Sekt trinken. Wie im Landschulheim. Nachts. Heimlich. Gemeinsam. Leise. Mit Freude am Tun. Wunderschön.

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