Ein gewöhnliches Stück Holz. Eine Marionette ohne Führungskreuz und -fäden. Frei sich zu bewegen. Ein Junge aus Holz.
Eine Geschichte über Kindererziehung, die Bürger des 19. Jahrhunderts mussten sicherstellen, dass ihre Kinder gute Erben werden würden und Collodi, der Autor unserer Geschichte, stimmt ihnen zu und doch läßt seine überbordende Phantasie, es nicht zu, dass sein Text nur eine Moralpredigt wird.
Vier Schauspieler und eine Musikerin, eine Bühnen- und Kostümbildnerin, eine Maskenbauerin, zwei Schneiderinnen, drei technische Fachkräfte. Sieben Wochen Proben durchmischt mit reichlich zu spielenden anderen Vorstellungen. Sieben Wochen, um eine Geschichte für Kinder in eine Geschichte über unsere Kindheit zu verwandeln.
Es war einmal … ein König! Nein, falsch! Es war einmal ein gewöhnliches Stück Holz.
Photo Marianne Menke
Eigentlich soll das gewöhnliche Stück Holz ein Tischbein werden. Aber es kommt anders, der alte Geppetto schnitzt sich daraus eine
Marionette, die ihn immer lieben soll und mit der er sich ein Zubrot verdienen will.
Aber es kommt anders, Pinocchio, die Holzpuppe, hat eine laute Stimme, schräge Ideen, übermütigen Eigensinn, großzügiges Mitgefühl, reichlich Neugier und ungebremsten Mut und rennt von einem Abenteuer ins nächste. In brenzligen Situationen lügt er auch gelegentlich und dann wird seine Nase länger.
Blaue Fee: Das Lügen lange Nasen macht, habe ich mir ausgedacht, weil lange Nasen viel lustiger sind als kurze Beine!
Und jedes Mal wenn Pinocchio haarscharf einer Katastrophe entkommt, denkt er bei sich: Ich möchte so sehr ein braver Junge werden, um jeden Preis!“ Wie hoch ist der Preis? Was muss er aufgeben, um ein „braver“ Junge zu werden? Nicht mehr wild, zutraulich und warmherzig, sondern angepasst, artig, arbeitsam. Menschwerdung kostet.
Am Schluss schaut ein Junge namens Pinocchio auf seinen nun leblosen Holzkörper und denkt: „Wie lustig war ich, als ich eine Marionette war und wie glücklich bin ich jetzt, wo ich ein braver kleiner Junge bin!“
Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, um brave Jungen zu werden? Wie lang sind unsere Nasen?
So viele Wörter in einem Wort, pino und io und ochio und pinco, Pinie und ich und Auge und Dummkopf, Holzköpfchen. So viele sich scheinbar widersprechende Züge in der einen Figur, in Pinocchio. Die Marionette, die keine Fäden braucht, die eigenständig laufen, rennen, lachen, sprechen und lügen kann. Pinocchio kann lügen, kann etwas erfinden, auch wenn er es meist nur tut, um einer Strafe zu entgehen. Aber er kann es. Und er kann träumen. Auf diesem Planeten können nur wir Menschen Geschichten erfinden, alle anderen Lebewesen sind an die Wahrheit gefesselt. Wir können uns Dinge ausmalen, die es nicht gibt oder noch nicht gibt. Wir können unsere Geschichte immer wieder anders erzählen, neu erfinden, verbessern. Was für ein Geschenk. Geschichten, halten die Welt am Leben, die Welt würde ohne sie, aufhören zu existieren, heißt es im Imaginarium des Doktor Parnassus. Und unser kleiner Holzkopf hat dieses Geschenk auch erhalten und dann kommen die Menschen und wollen ihm dieses Geschenk entreißen, sie tun es auf vielerlei Art, mit Gewalt, Drohung, Erpressung, Manipulation. Manche berufen sich dabei darauf, ihn zu lieben, andere geben zu, dass es ihnen nur um ihren Vorteil geht. Aber alle wollen ihn anders als er ist. Entweder wollen sie ihn töten oder ihn zu einem braven Jungen machen. Kommt fast auf dasselbe hinaus, oder? Pinocchio will ein richtiger Junge werden, wie alle anderen, und als er es geschafft hat, liegt der alte Pinocchio, die Holzpuppe, das wilde Kind mit verrenkten Gliedern in der Ecke.
Eine Geschichte, die wir alle gelebt haben. Wir kommen in die Welt, schreiend und voll Energie und ohne Wissen über Grenzen und wir werden eines Besseren belehrt. Regeln. Regeln. "Regeln sind alles was wir haben."
Photos Marianne Menke
Wie wird eine Nase länger auf der Bühne? Wie sieht ein Kater aus, ein Fuchs, ein Gorilla, eine blaue Fee, eine Grille? Kein Video, keine Bühnenzüge, nur Schauspieler, Masken, Licht, Kostüme und Theatertricks, leicht zu durchschauen, doch magisch. Vier Schauspieler und eine Musikerin füllen die Bühne, erschaffen eine Welt, die dicht bevölkert ist.
Ein Schauspieler mitte Fünfzig rennt wochenlang mit einer vorläufigen Maske im blauen Babystrampler herum, eine Schauspielerin spricht so hoch, dass einem fast die Trommelfelle einreißen, eine andere verkrampft ihren schönen Mund, um ihn der Harlekinmaske anzupassen, die Musikerin, als Schnecke besetzt, wird immer langsamer, außer wenn ihre Finger über die Tasten flitzen. Sie bedient auch eine Kreissäge, allerlei Holz, eine Mühle, eine Glocke und unzählige andere geräuscherzeugende Gegenstände und sie isst, langsam, Salat. Sie singen, sie tanzen, sie spielen Tiere, ohne zoologische Imitationen, sie ziehen sich geschätzte 100 Mal in höchster Eile um und können dann, den Eindruck erwecken, alle Zeit der Welt zu haben. Sie sind Zauberer.
Ich liebe Theater. Und glücklicherweise lieben es einige andere auch.