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Freitag, 25. Dezember 2020

DAS C-WORT VIIDCLIII - DAS KIND

Ich, die ich an keinen Gott glaube, finde es seltsam anrührend, dass wir jedes Jahr die Geburt eines Kindes feiern. Es gibt keinen besseren Anlass, oder?

Es wurden Menschen verbrannt, weil dieses Kind vereinahmt wurde. Es wurden Kriege geführt, Völker unterdrückt, Frauen- und LGBTQrechte verweigert, Juden gehasst und getötet, Kinder mißbraucht im Namen dieses Kindes. 

Ein Kind, a priori unschuldig, hat das Pech in das Zentrum einer gigantische Propagandamaschine zu geraten. Paulus und Augustinus, die frühen und späteren Päpste, Inquisitoren, Hexenjäger, Evangelikale und Trump mit der ungelesenen Bibel beim Phototermin, alle grabschen sie brutal an dem zarten Baby herum. Jahrhundertelanger Kindesmißbrauch der übelsten Art.

Nehmen wir an, dass die Geburt wie beschrieben stattgefunden hat: Ein zutiefst verunsicherter Mann, eine erschöpfte schwangere Frau, ein Transport-Esel, kein Platz in der Herberge, anstattdessen ein Stall, der Ochse, verwirrte Hirten und drei fremdländische Astrologen mit absurden Geschenken, nicht zu vergessen ein ungeheuerlicher Kindermord kurz zuvor und dann als Höhepunkt ein einzelner Stern. Engel sind dekorierendes Zierrat.

Im Jemen, in Syrien, in Kurdistan, in Nigeria, in Ländern aller Kontinente werden Kinder geboren, unter Umständen, die ich niemals nachvollziehen können werde. 

"... Ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen ein Wohlgefallen." 

Ein Kind wird geboren, in Windeln gewickelt, wehrloser geht nicht. Es kann nicht weglaufen, lächelt um versorgt zu werden und wir machen daraus eine mörderisch moralische Totschlag-Keule. 

Eine gänzlich irre Frau betet für Trump, als er sei der Erlöser, das Kind weint

Das Kind bleibt ein Kind. Aber wer erinnert sich noch daran? War das Kind weiß? War es braun? Uta Ranke-Heinemann hat behauptet, dass unser Verhältnis zur jüdischen Religion ein anderes wäre, wenn Jesus keinen Lendenschurz tragen würde, und wir alle sähen, dass er, als Jude, beschnitten sei.

Laßt uns Kinder lieben. Farbenblind, unterschiedslos, ohne Eigeninteresse, einfach weil sie unschuldig sind.

                                                    Guido Reni Die Beschneidung Jesus


Samstag, 28. November 2020

DAS C-WORT XXIX - Die Abende

Ich bin alleinlebend und keine große Ausgeherin, meist ist eh Abendprobe und wenn mal nicht, finde ich es herrlich entspannend, auf dem Sofa zu sitzen und zu verblöden.

2020. 

Am 1. September diesen Jahres hatte ich meine letzte Premiere, am Abend davor die letzte Abendprobe, seitdem sind meine Abende unverplant und seit dem neuen Lockdown light, sind mir auch die außerhäusigen Unterhaltungsmöglichkeiten verloren gegangen.

Ich bin auf mich selbst (zurück)geworfen. 

Tagsüber, ist das kein Problem, ich habe ein spannendes Projekt in der Recherche, gehe mit Freundinnen spazieren, verbessere meine Kochfertigkeiten, lese, telefoniere, dekoriere, flaniere, natürlich mit Maske, und weiß, dass es mir vergleichsweise ungewöhnlich gut geht.

Am Abend wird es verzwickter. Mein augenblicklich durch die Weltereignisse überfordertes Hirn, weigert sich beharrlich nach 20.00 Uhr, geistig herausfordernde Lektüre aufzunehmen, geschweige denn sie zu verarbeiten. Mein Fernseher und ich sind so notgedrungen Freunde geworden. Ja, es gibt 100 Sender und Netflix, Amazon Prime und Sky, aber auch ebenso viel üblen Schrott.

Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt jhre fahn/
Vnd führt die Sternen auff. Der Menschen müde scharen
Verlassen feld vnd werck / Wo Thier vnd Vögel waren
Trawrt jtzt die Einsamkeit. Wie ist die zeit verthan!
 

Andreas Gryphius

Wenn diese Scheißzeit vorüber ist, werde ich unentwegt Leute innig umarmen, ins Theater/Museum/Schwimmbad gehen, Partys veranstalten, in Restaurants schlemmen, in Bars hocken und Jazz live erleben. 

Oder? Corona erwischt mich. Oder? Ich werde depressiv. Oder? Keine Ahnung.
"Life is what happens to you while you're busy making other plans”. John Lennon

"Leben ist, was Dir passiert, während Du damit beschäftigt bist, andere Pläne zu machen."












Freitag, 30. Oktober 2020

Volker Pfüller - Ein guter Mann

 

IM NEUEN JAHR MUSST DU MIT ALLEM RECHNEN!

Ich war also gewarnt, aber lag trotzdem falsch. 

1978, Alexander Lang inszeniert "Miss Sara Sampson" von Gotthold Ephraim Lessing, das zentrale Trio: Gudrun Ritter, Katja Paryla und Christian Grashoff. Ich, zwanzigjährig, spiele meine erste wirkliche Rolle, die Tochter der Marwood, Arabella, sitze in Volkers Bühne, in dem von ihm entworfenen Kostüm und bin gänzlich ahnungslos, überwältigt in Liebe - zum Theater. 

1981, wieder Alex, wieder Volker, diesmal Büchners "Dantons Tod", im schönsten Kostüm meines Lebens, in einem roten Raum schwebe ich im weißen Empirekleid, ein totgeweihter Engel, weiß geschminkt umschattet von Rot, Ahnung der drohenden, kommenden Brände. Volker hat es mir so sehr leichter gemacht.

Volker, ein gutaussehender Riese von einem Kerl, stabil und warm, idealer Kontrapunkt zu Alexanders schlacksiger Intensität. Immer unangestrengt elegant gekleidet, was schon an sich eine Sensation war in unserer höchst unkleidsamen DDR. 

Er war unser Ruhepunkt.

"Ich habe Theater eigentlich gemacht, weil ich gerne Theater gemacht habe." V.P.

1986, Stella, immer weint eine von uns Frauen, Volker beruhigt, Alex verrät uns nicht, dass wir das Satyrspiel zu Medea sind, das Lachen des Premierenpublikums ist ein Schock. Aber unsere Kostüme, Kleider überlegt mit Gaze, den Schatten der Vergänglichkeit, unsere Gesichter ins Extrem geschminkt, tragen uns durch die Verwirrung.

1995, die Dreigroschenoper, Volker muß betonieren, Alex, irritiert von der Unterhaltsamkeit des Materials, kämpft dagegen an. 120 Vorstellungen machten Mühe.

Ich beginne, mich als Regisseur auszuprobieren. In den Kammerspielen des DT, mein erster Shakespeare, die Zähmung der Widerspenstigen: Volker entwirft die Kostüme. Was waren die bunt und wild und eigenartig. Inge Keller, als Matrone trug einen Hut mit Ente, den habe ich besonders geliebt. Die klassische Gassenbühne, ihre Zentralperspektive ins Extrem getrieben,  erdachte Phillip Stölzl, einer seiner Studenten.

Er hat Türen geöffnet für Begabungen, ihnen Möglichkeiten eröffnet, uneigensüchtig.

Zu Premieren verschenkte er seine Kostümentwürfe, zauberhafte Vorahnungen unserer Rollen.

Für ein Lina Werthmüller Musical in Bremen baute er mir einen italienischen Eissalon in hellblau, rosa und creme, die Schwangerschaft der zentralen Figur verbildlicht durch ihren wachsenden Bauch mittels einer im Sofa versteckten Gasflasche.

Mein Vater in seiner letzten Rolle am Theater 89, Ein Kind unserer Zeit von Horvath, Volkers Plakat trifft es auf den Punkt, ein Mann verstirbt ohne Widerwehr auf eine Bank im Schnee.

Die Kinder-Tier-Gedichte meines Vater illustriert von Volker - er wußte wie Kinder schauen, ohne sie zu verharmlosen.

Dann haben wir uns eine Weile nicht gesehen, wie das so passiert am Theater.

Jahre später in einer kleinen Galerie in der Chausseestrasse, ich tippe ihm auf die Schulter, er dreht sich zu mir um, sieht mich an und sagt: Ich freue mich, dich zu sehen. Ein Glücksmoment. Ich erwerbe einen wunderbaren Holzschnitt von Beckett, so filigran, dynamisch. Er begleitet mich, neben meinem Schreibtisch, täglich.

So tut es auch sein Mann in Rot und eben seine Neujahrskarten.

Wenn die die sterben, die nicht sterben sollten, ist es besonders schlimm. Und viele Arschlöcher leben so sehr lang. 

Ein Künstler und ein Gentleman, wie oft gibt es das? Zu selten.


IM NEUEN JAHR MUSST DU MIT ALLEM RECHNEN! 

Corona 2020 und dann ist auch noch Volker ist gestorben, kurz nach einer letzten Premiere mit Sascha Stillmark in Rudolstadt - er hatte ein gutes Leben, glaube ich.

Samstag, 3. Oktober 2020

Das C-Wort XXVI - Ups!

Der Plan. Meine Freundin und ich wollen in den Herbstferien verreisen, nach Budapest. Ich bin nicht mehr dort gewesen seit irgendwann in den frühen 80ern und Judith hat gute Freunde dort. Perfekt. Die Donau, Jugendstilbäder, tolle Eiscreme und jede Menge schöne Erinnerungen an die Vaci Utca und ihre Buchläden gefüllt mit Westbüchern. Herr Orban versucht seit Jahren mit großer Macht dieses Land in seine private Diktatur-Spielwiese zu verwandeln, aber noch hat er nicht gewonnen. Oder? In die Türkei würde ich augenblicklich nicht reisen. Nach Polen? Europa verändert sich.

Stop. 

Neue Überlegung: was ist mit unserem Carbon-Footprint, na gut, wir könnten mit dem Zug fahren. Aber sollten wir gerade jetzt überhaupt ins Ausland fahren? Vierzehn Tage Quarantäne im schlechtesten Fall. Und das in einem Land, in dem wir nicht mal ein kleines bisschen die Sprache verstehen. Ja ist igen, Restaurant etterem. Da hört's schon auf. Übrigens, Quarantäne heißt karantén. 

Stop.

Unsere Reise nach Budapest wird auf ungenaue Zeit verschoben. Nicht schlimm. Ein läppisches Luxusproblem.

Wir entscheiden uns für eine Inlandreise. Wird es Foer oder Bayern? Nach Bayern ist die Anreise kürzer. Bayern it will be.

Stop.

Und jetzt ist Berlin-Mitte, da wo ich wohne, ein Risikogebiet, ein Hotspot. Was wir für neue Wörter kennenlernen. Fahren wir trotzdem? 

Immer mehr werden als infiziert erkannt, Gott sei Dank, sterben nicht mehr so viele. Noch nicht? Hat sich der Virus verändert, ist die Zielgruppe jung genug, keine üblen Folgen erwarten zu müssen? 

Stop.

Ich weiß es nicht.

Stop.

 


Freitag, 18. September 2020

62 - Es ist besser alt zu werden, als tot zu sein.

Mein Körper ist eine unfaßbar aufregende und herrliche Maschine. 

Bedenkend, was ich alles von ihm verlange, was ich mit ihm anstelle, ist es unfassbar, wie gut er arbeitet, wie zuverlässig, wie geduldig. 

Wie lang ist die durchschnittliche Laufzeit moderner technischer Geräte?

Bei einer Angiographie durfte ich mein Herz sehen, zart, eine Akeleiwurzel, die rhytmisch und elegant ihren zarten Tanz aufführt, der mich am Leben hält. Seit 1958.

Meine Lungen akzeptieren, notgedrungen, das Nikotin, das ich täglich in sie hineinatme. Meine Leber nimmt mir meinen Whisky nicht übel. Meine Galle, meine Niere, meine Därme, meine Bauchspeicheldrüse, sie und viele andere Organe, Adern, Nerven, Sehnen, Muskeln versehen bisher zuverlässig ihren Dienst, mit nur einem Zweck, dem Erhalt meiner Person. 

Und dann die Neuronen und all die anderen durch sie vernetzten Teile meines Hirns - ich denke Mist, ich denke Kluges, ich habe tolle Ideen und dämliche, ich fühle, ich verdränge, ich erinnere mich, ich vergesse - so sehr viel zu tun, und meine "graue Masse" tut seit 62 Jahren dafür ihr Bestes. Ok, Namen sind nicht ihre Stärke, dafür liefert sie exotische Details mit verlässlicher Schnelle. Den Zugang zu ihr zu verlieren, ihre Dienste nicht mehr verlässlich zu erhalten, ist meine größte Angst.

Bisher. Ein bisschen Ärger mit den Zähnen, Paradontose, Implantate helfen, Ödeme auf den Stimmbändern, OP und ich habe immer noch die Rechte an meiner kratzigen, dunklen Stimme. Wasser im Ohr, ein großartiger Arzt hilft, ich kann bis heute sehr gut hören. Proktologische Untersuchungen im Jahresrhytmus, mein Vater ist am Darmkrebs gestorben, kleine Schnippeleien und mein Leben geht weiter.

Insertionstendopathie gluteus medius rechts. Die aktuelle Irritation. Mein rechtes Bein muckert, will nicht so, wie ich es will. Dieses rechte Bein läuft für mich seit 60 Jahren, über Stock und Stein, beim Kinderwatscheln, sportivem Langlaufen, ziellosem Herumwandern, beim Betrachten großer Städte und coronabedingtem Spazierengehen in Berliner Parlks, es läuft, es läuft, und nun will es gerade nicht so richtig. Das darf ich ihm nicht übelnehmen. Mein Gluteus Medius darf nach 62 Jahren auch mal meckern. Das Recht muß ich ihm zugestehen. Ich will meinen Körper nicht als zu besiegenden Feind enmpfinden, sondern als geliebten Mitarbeiter

Der gluteus maximus. Ein schöner Hintern ist eine Freude.

Sonntag, 13. September 2020

Kulturwochenende in Berlin am Ende des Sommers

1
Joachim Meyerhoff liest aus seinem Buch "Hamster im hinteren Stromgebiet".

"ZEIT IST HIRN"

Wir sind sehr viele an diesem Spätsommernachmittag im Freilichtkino Friedrichshain bei einer Veranstaltung von Radio 1. Ganz ungewohnt, solche Menschenmassen. Maske tragen bis zum nummerierten Platz, der Abstand wird eingehalten, die Stimmung ist lässig. Es ist angenehm warm, aber während der anderthalbstündigen Lesung fallen Blätter auf mich. Noch ist Sommer. 

Meyerhoff hat mit knapp über 50 einen Schlaganfall erlitten. Schlagartig hat ihn etwas angefallen. Die Bühne ist sehr weit weg, ein winziger Mann sitzt an einem Tisch und liest seinen Text in ein Mikrophon. Er hält mein Interesse, ich kichere, lache sogar. Das könnte auch mir passieren, jetzt oder morgen. Schwingt da Angst in meinem Lachen? Er ist ein ok Schreiber, aber ein großartig genauer Erinnerer. 

Was seine Kinder, die er ganz offensichtlich sehr liebt, über seine Beschreibungen denken, würde mich interessieren. Jedenfalls bin ich irgendwie froh, dass mein Vater seine Eindrücke meiner Teenagerzeit nicht veröffentlicht hat.

2
RomCom nennen es die Amis, Romantische Komödie, Kiss Me Kosher von Shirel Peleg. Die Produktion entstand an 27 Drehtagen in vier Sprachen – hauptsächlich in Englisch sowie teilweise in Deutsch, Hebräisch und Arabisch - in und um Tel Aviv und Jerusalem.

Die Synchronisation ist die böseste Krux des Films. Eigentlich reden die Figuren in Englisch, Hebräisch und Deutsch und Arabisch miteinander, eigentlich haben sie heftige Akzente, verstehen sich nicht oder nur halb, die deutsche Synchronisation läßt nichts davon erahnen. Die Großmutter zum Beispiel, Deutsch geboren, mit vier Jahren von ihren Eltern versteckt, die im KZ umkamen, und von einer Deutschen gerettet, nach dem Krieg vermutlich nach Israel geflohen und sie raucht Kette - ihre deutsche Stimme spricht ohne Spuren von Jiddisch, ohne Gefühle für die Sprache mit der sie aufwuchs und die sie hassen lernte, ohne die Folgen, die Kettenrauchen auf die Stimmbänder hat. Als wenn man einen Film über den Turmbau zu Babylon in einer allen verständlichen Sprache drehen würde. Faul und unachtsam. Schade.

Dass der Film trotzdem halbwegs funktioniert ist ein Wunder. Moran Rosenblatt & Luise Wolfram spielen das zentrale Liebespaar. Luise Wolfram sieht aus wie die Wiederkunft aller herrlichen Renaissanceportraits, ihre Schönheit unirdisch, ihr Spiel ganz geerdet. Moran Rosenblatt verschenkt ihren Charme freigiebig. 

 

 

Schön, dass das Nicht-Problem der Geschichte die lesbische Liebe ist. Es gibt genug andere Konflikte, den Holocaust, den arabisch-israelischen Dauerkrieg, Palästina, unterschiedliche Erwartungen an eine Beziehung und ehemalige Liebhaberinnen. Ein Film, der der deutschen Falle fast entgeht, er wird fast nie bedeutungsschwanger, immer kurz vorher wird geschnitten oder ein Witz gemacht.

3
Galerie-Wochende in Berlins Mitte - Andreas Greiner - Olafur Eliasson - Andreas Gursky - Robert Capa 1945.

Bei Capa habe ich geheult. 1945, das erste Rosh-ha-Shana nach der Verwüstung in einer kleinen Berliner Synagoge, die noch steht, die Betenden sind amerikanische Soldaten und Überlebende. So viel Trauer in den Augen und Körpern. 

Greiner sollte man sich unbedingt ansehen. Hatte den Namen noch nicht gehört. Er photographiert Bäume, den Wald. Den sterbenden Wald. Ohne Sentimentalität. Seine Bilder sind so bearbeitet und verpixelt, dass sie wie 3D Ölgemälde aussehen. Eine künstliche Intelligenz hat aus 10 000 seiner Harz-Bilder ein Video erschaffen, der Soundtrack ist Mendelsohn-Bartoldys Chorwerk "Abschied vom Walde" in extremer Verlangsamung. Kiefern. Grüne Kiefern. Tote Kiefern. 

Eliiasson - ich habe schon bessere Arbeiten von ihm gesehen, aber immer wieder beeindruckt mich die Verbindung von Technik, Licht und körperlicher Erfahrung, die er ermöglicht.

Gursky - ein Bauhausgebäude in weiß und rot, vier Kanzler von hinten und eine Madonna mit Kind.

Freitag, 11. September 2020

Tasche geklaut - Stop - Und nun?

Ein Treffen in einem Cafe in der Nähe meiner Wohnung, das Gespräch ist interessant, meine Tasche hängt an der Stuhllehne zum Fenster hin. Später rekonstruieren wir, dass ein junges Paar, mit "südeuropäischem" Akzent hinter uns Platz nahm, bestellte, bezahlte und ging. Und meine Tasche wohl mit ihnen.

Um 12 Uhr mittags im hellen Sonnenschein, stehe ich, ohne Schlüssel, ohne Geld, ohne Papiere, ohne Telefon vor meiner verschlossenen Wohnung und begreife wie waghalsig ein Leben ohne in meinem Hirn abgespeicherte Telefonnummern sein kann. (Soll ich sie mir an unzugänglichen Körperstellen eintätowieren lassen?) Die Nummer meiner Eltern als ich Kind war, weiß ich noch, 424511. 

Vier Menschen haben einen Schlüssel zu meiner Wohnung, aber keine ihrer Nummer kenne ich auswendig. Verrückt, keine Nummer, außer meiner eigenen, die mir nichts nützt, weil mein Telefon im Besitz eines Diebes ist, der wahrscheinlich nicht mit mir reden will. 

Bei verschlossener Tür würde der Schlosser die Tür aufbrechen müssen, nicht gut, also muß jemand mit Schlüssel gefunden werden. Hingehen kann ich nicht, denn im Zusammenspiel von Ausweis und Schlüssel könnten die neuen Besitzer meiner Dinge leicht auch noch meine Wohnung besuchen, um von dort das eine oder andere mitzunehmen. Der netteste Hausmeister der Welt bietet mir sein Telefon zu Nutzung an. Ich kann googeln, aber wonach? Kein Mensch setzt seine Nummer noch ins Telefonbuch oder dessen digitales Equvivalent. 

Lange Rede kurzer Sinn, nach einer Stunde verschwitzter intelektueller Akrobatik, Gesprächen mit Fremden und Verwirrten, ist mein Kind, hilfreich wie immer, mit dem Rad und dem Schlüssel auf dem Weg zu mir. 

Zwischendurch bietet mir ein Nachbar Unterschlupf, eine anderer ein neues Vorhängeschloß für den Keller, ein dritter einen Apfel und ein Engel eine Zigarette an. 

Wohnung öffnen, noch alles da, Erleichterung, Schlosser kommt, reizend, gutaussehend, still UND kompetent, wechselt Türschlösser aus.

2688 Festnetz-Anrufe später, (Ja, ich habe noch Festnetz und eine Mailadresse bei AOL!) sind Karten gesperrt, neue bestellt, Anzeige erstattet, Telefon gekauft, gehortetes Bargeld gefunden, Freunde benachrichtigt. Bei den albernen Punktesammelkarten versuche ich es gar nicht, perdu, ein zauberhaftes, gemaltes "Ausweisbild" meiner damals etwa 8-jährigen Nichte auch. 

Der gestohlene Ausweis hatte das einzige gute Passphoto meines Lebens, photographiert in der deutschen Botschaft in London vor 12 Jahren im September, als mir schon einmal die Tasche entwendet worden war. Das neue biometrische Bild zeigt eine verkrampfte Frau mit einem Hängelied, die panisch versucht, den Kopf gerade zu halten und keinerlei Mimik zu zeigen. Etwas, dass mir, wie alle die mich kennen, wissen, sehr schwer fällt. Im Ergebnis sehe ich aus, wie eine mißmutige Kindermörderin.

Ein Absacker Gin Tonic und dummes Fernsehen beenden den Tag.

Um 3 Uhr früh stehe ich im Bett, der Schreck war angekommen.

Leicht sentimentale Fußnote: Die einzige Abbuchung, die von meinem Konto gemacht wurde, vor der Kartensperrung, waren 9 Euro 80 bei MacDonald.

Sonntag, 9. August 2020

DAS C-WORT XXIII - Was steckt hinter dem Allen?

An allem sind die Juden schuld!
Die Juden sind an allem schuld!
Wieso, warum sind sie dran schuld?
Kind, das verstehst du nicht, sie sind dran schuld.
Und Sie mich auch! Sie sind dran schuld!
Die Juden sind, sie sind und sind dran schuld!
Und glaubst du’s nicht, sind sie dran schuld,
an allem, allem sind die Juden schuld!
Ach so!
Friedrich Hollaender

Die Schwelle an der bei mir akute Wut gegen Antisemitismus einsetzt ist ziemlich hoch, aber wenn mir noch jemand, im Zusammenhang mit Corona und den düsteren Mächten, die uns entweder infizieren oder nur vorgaukeln, es gäbe eine Pandemie, irgendwelche youtube Links schickt, die auf satanische Morde, das Trinken von Babyblut oder Fressorgien an Kinderfleisch hinweisen, dann werde ich ungemütlich.
Die dreckige politische Lüge des Mittelalters, dass Juden das Blut christlicher Kinder zum Matze-Backen für den Sabbath benötigen, die immer wieder eingesetzt wurde, um Pogrome anzufeuern, wenn die Schulden bei jüdischen Geldverleihern zu hoch wurden oder eine innenpolitische Ablenkung nötig war, wird wieder einmal hochgekocht. Nein, es wird nicht ausdrücklich von Juden gesprochen, nur von Eliten, den Bankern, den Korporations. Aber impliziert ist es.
Weil im mittelalterlichen Europa Christen kein Geld verleihen durften und Juden nicht in die handwerklichen Zünfte aufgenommen wurden, blieben Lumpensammler, Scherenschleifer und Geldverleiher die fast einzigen für Juden zugänglichen Berufe. Und wenn sie dann erfolgreich waren, nahm man es ihnen übel.
Was mit Überschriften wie "Verhindert Kindesmißbrauch" beginnt, endet mit "Merkel muß weg" oder "Keine Masken". Es werden Zusammenhänge konstruiert, die böse und hintertückisch sind und der hoch zu achtenden Bemühung um Verhinderung des täglich real stattfindenden Kindesmißbrauchs schaden.

An allem sind die Juden schuld.
Und die Radfahrer.
Wieso die Radfahrer?
Wieso die Juden?



https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/psychologie/verschwoerungstheorien/pwiejudenundverschwoerungstheorien100.html

Mittwoch, 5. August 2020

Das C-Wort XXII - Mein Leben als Rentner ohne Rente - oder - WIR SIND DIE ZWEITE WELLE

MEIN LEBEN IN DER ZWISCHENZEIT,
der Zeit zwischen "DAMALS" und "WER WEISS WIE ES DANN SEIN WIRD".

Vorausgeschickt: Dieser Text ist nicht ausgewogen, nicht sachlich, nicht unparteiisch.


"DAMALS" war schon elendig schwierig, Klimakrise, wachsende soziale Ungerechtigkeit, postkoloniale Verelendung und allgemeine Verblödung existierten zeitgleich mit wunderbaren Dingen, wie Erfindungsgeist, Empathie, Verbesserung der Lebenssituation vieler Menschen. Jetzt gibt es das alles nach wie vor und on top of it - das C-Wort mit allen seinen Nöten und Konfusionen. 
Nicht anfassen, nicht anatmen, nicht irre werden.
Am Samstag haben in Berlin Tausende, wenn nicht gar Trillionen meiner Mitbürger das Ende der Pandemie gefeiert. Welches Ende, während anderswo Tausende sterben? FREIHEIT! 

Mindestens 701.278 an oder mit Corona Gestorbene bisher. 
Alle alt und krank? Alle eh schon fast tot? Oder selber schuld? Ist es nur eine Grippe? Gibt es Corona gar nicht? Ist es alles eine weltweite Verschwörung der "Eliten"? FREIHEIT! 
Drosten oder Streeck oder doch Wodargk? Die WHO und China, die USA kontra China. Maske unter der Nase, Schlüpfer unterm Genital. Nasen fordern FREIHEIT. Bekannte drehen durch. G5 und Bill Gates und Chips und Attila und Deep State und Reptiloide. Angela Merkel muß für Alles und Jedes herhalten, sie ist der Teufel, eine Bolschewikin, gekauft vom Kapital. Überhaupt, wir leben in einer linksfaschistischen Corona-Diktatur. Man nimmt uns unsere Meinungsfreiheit. FREIHEIT! 
Holterdipolter, wüst durcheinander, einig nur in der Wissenschaftsfeindlichkeit, dem Mißtrauen gegenüber staatlichen Institutionen und dem Hass auf die mantra-artig FAKE genannten Medien. 
Was genau wollen die dunklen Mächte mit ihrem Corona-Plan erreichen? Ich rede nicht von Q-Anon Idiotien, sondern von den Ideen, die die wütende Mittelschicht, bzw. Teile davon umtreibt. Bei Fridays For Future wurde noch über Strafen wegen Schulschwänzen gebrabbelt und jetzt verwandelt die Maskenpflicht die Leute in FREIHEITSkämpfer. Es kann doch nicht wirklich um den Lappen gehen. Worum also dann? Wie sieht die FREIHEIT aus, nach der sie rufen? Glauben sie wirklich, dass Compact, Rubicon, Telegram sie fairer und wahrhaftiger informieren, als die Fake-Medien?
Mindestens 702.164 an oder mit Corona Gestorbene bisher.
Die Infektionszahlen in einigen Ländern steigen rasant, die Sterberaten nicht ganz so stark, oder nur noch nicht? Ist es schon die Zweite Welle oder das Aufflackern der Ersten? Viele alte Menschen sterben, aber auch junge bleiben nicht verschont. Leichte Verläufe können ungeahnte Spätfolgen nach sich ziehen. Welche? Die Berichte divergieren. Der Impfstoff kommt oder kommt nicht oder ist schon von der USA aufgekauft. In Brasilien herrscht der Wahnsinn, in den USA herrscht - was? Der nackte Kaiser, der häßliche, orange und fett, hysterisiert wegen eines möglichen Wahlverlustes im November gibt er mir ernüchternde Einblicke in den realen Imperialismus. Will man Menschen hassen lernen, muß man auf Youtube seinen Wählern zuhören. In Brasilien, Peru, Israel, auf dem Balkan wird gegen die Krankheit gekämpft, wir kämpfen für FREIHEIT.
WAS IST DAS, DIESE FREIHEIT? Wovon frei? Wofür frei? 
Für eine bessere Welt. Darauf können sich alle einigen. Aber wie sieht die bessere Welt aus? Soll es die der Reichsflaggenträger sein? Denn hier liegt der Hund begraben, in diesem neuen FREIHEITskampf verbünden sich eigentlich unvereinbare Gruppen. Plötzlich ist es nicht mehr schlimm, mit Nazis gemeinsam zu demonstrieren. weil alle FREIHEIT wollen und gegen das Kapital, die Superreichen, die globalen Konzerne zusammenstehen. Und immer wieder "Wir sind das Volk!" Eine Hülse. 
Das schlimmste Zitat? Sich dabeiauf den November 89 beziehend: "Wir haben heute Geschichte geschrieben!" Da fährste von Stuttgart nach Berlin, demonstrierst, niemand bedroht dich, keine Verfolgung droht, dann fährste wieder nach Hause und bist ein Held! So einfach geht das.

Freiheit wird in der Regel als die Möglichkeit verstanden, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auszuwählen und entscheiden zu können. (Wiki)

Und was tue ich inzwischen, in dieser Zeit zwischen "DAMALS" und "WER WEISS WIE ES DANN SEIN WIRD"? Lese viel, lerne thailändisch kochen, gehe spazieren, wandern, paddeln. Ich vermute dahinter eine Verschwörung meiner Freunde, mit dem Ziel mich in DIE NATUR zu locken. Und weil ich diese Leute lieb habe, finde ich mich regelmäßig in brandenburgischen Landschaften, in Berliner Parks oder auf Berliner Seen wieder. So viel Flora, und gelegentlich Fauna, habe ich meinen Lebtag noch nicht gesehen. Aber reizende Gesellschaft versüßt das Übermaß an Grün. Dann sortiere ich Bücher, Klamotten, Krimskrams aus, wie offensichtlich alle anderen auch, wenn ich mir die Kartons mit Ramsch und Zeugs ansehe, die grad überall rumstehen. Wenn schon das Hirn im Chaos ist, versucht man halt die Wohnung in Ordnung zu bringen.
Mindestens 702.330 an oder mit Corona Gestorbene bisher.
Wie "WER WEISS WIE ES DANN SEIN WIRD" aussehen mag, weiß niemand und ich schon gar nicht. Während ich den Text geschrieben habe, sind mehr als eintausend Menschen gestorben.

Donnerstag, 9. Juli 2020

Meine Harzreise

Auf die Berge will ich steigen,
Wo die frommen Hütten stehen,
Wo die Brust sich frei erschließet,
Und die freien Lüfte wehen.

Auf die Berge will ich steigen,
Wo die dunkeln Tannen ragen,
Bäche rauschen, Vögel singen,
Und die stolzen Wolken jagen.

Lebet wohl, ihr glatten Säle!
Glatte Herren, glatte Frauen!
Auf die Berge will ich steigen,
Lachend auf euch niederschauen.  

Heinrich Heine 
Harzreise

Den letzten Abend unserer kurzen Harzreise, die wir wegen miesem Wetter morgen vorzeitig beenden werden, verbringen wir auf dem Gelände des ehemaligen Klosters Drübuck, jetzt ein evangelisches Tagungszentrum, preisgünstig, hocheffizient und angenehm eingerichtet. Im Garten singen alte und nicht so alte Menschen "Jesus is coming, yes I know.", als Kanon, klatschen auf die Eins und ein Schaf blökt den Chorus. Eine mir fremde Welt.


Gestern ein andres Kloster, von einer Stiftung geführt, mit gläsener Rezeption, erstklassig erhaltener romanischer Kirche und Gästezimmern in DDR-Barock - meine Duschtür hing mit letzter Kraft an nur einer Schraube, die Wasserleitung war in schwarzem Gummi auf der Wand verlegt, für das Mobiliar hätte sich Hellerau in Grund und Boden geschämt und dann hat man auch noch versucht uns den doppelten Zimmer-Preis abzunehmen.



Der Harz. Es ist merkwürdig hier. Eine milde, hügelige Landschaft, gesprenkelte Städtchen voller Fachwerkhäuser, farbenfroh in Quedlinburg und Wernigerode, schiefergrau in Goslar.
Die Hochsaison ist in vollem Gange nach monatelanger Einschränkung des Betriebes, aber Sehenswürdigkeiten schließen um 14.00 oder 16.00 Uhr, Läden ebenfalls. Es gibt Unternehmungen, die sich unglaublich anstrengen, interessante und unterhaltsame Erlebnisse zu bieten, und andere benehmen sich, als ob Corona, die vergangenen "Sie werden plaziert"-Zeiten zu ihrer persönlichen Erleichterung zurückgebracht hat. Wie empfindlich ich immer noch bin, nach mehr als dreissig Jahren, diesem dienstunbeflissenen Ton gegenüber.


In der wunderschönen Harzer Schmalspurbahn hinauf zum Brocken, das Ticket kostet 47 Euro , die Toilette heißt noch Abort, ertönt nach jedem Halt ein enthusiastischer Einspieler über die Schönheit des Fichtenwaldes und seine jetzt stattfindende, natürliche Rengeneration zum ursprünglichen Mischwald.
Aber was mein Auge sieht, ist das blanke Gegenteil, tote Bäume, ihre Skelette tragisch aufrecht neben- und hintereinander aufgereiht. Wann werden sie sich niederlegen dürfen? Von fern betrachtet waren es nur vage breite rötliche Schnitte im Leib des Waldes, nun, aus der Nähe, erinnert das Bild an Leichenberge, zu denen sich jeder Vergleich verbietet. Die vor hunderten Jahren gepflanzten Fichten lieferten Bau- und Brennholz für den Bergbau, ein künstliche Monokultur, aber die trockenen Sommer der letzten Zeit öffneten dem schon immer anwesenden Borkenkäfer Tor und Tür und er tut, was er tun muß, er frißt. Vielleicht ist der Regen jetzt ein Segen, vielleicht muß Altes sterben, damit Neues wachsen kann, aber die vielen kahlen, borkenlosen Stämme heute, ihre nadelberaubten Äste und Zweige - ich habe selten so was Trauriges gesehen.







Mittwoch, 17. Juni 2020

Meine Mama - Barbara Marie- war einst ein Kind


Meine Mama.  
Irgendwann irgendwo in Skandinavien, zwischen 1935 und 1941, eher nach 1937. Sie sieht sehr jung aus, vielleicht 7 oder 8. Ihre Kniestrümpfe sind runtergerutscht an ihren dünnen Kinderbeinen. Kinderknie. Die Gelenke wie kleine Wurzelballen zwischen den schmalen Gliedern. Zauberhaft. Die Jacke ist wohl nicht ihre, viel zu groß. Was hat sie da an der Leine? eine Puppe, eine Wurzel? Den Blick kenne ich. Von mir. Defensiv, wenn Du mir frech kommst, haue ich Dir eine runter. 
Sie ist mit ihren Eltern und ihrem Bruder auf der Flucht vor den Faschisten. Das sieht man nicht, aber ich weiß es. 1933 aus Deutschland von einer mutigen Calvinistin herausgeschmuggelt, mit kurzem Zwischenstop in der abweisenden Schweiz, ging es danach nach Dänemark, Schweden & Finnland. In Dänemark lernte sie die Sprache, hatte Schulfreunde, in Schweden lernte sie auch und hatte aber schon weniger Freunde, Finnland mit seiner so sehr fremden Sprache ließ ihr nur ein Jahr Zeit und nur eine Freundin. Ein kurzer Zwischenstopp im stalingepeinigten Russland und dann ging es, lebensrettend, nach Los Angeles, Santa Monica. 
Sie war im Herzen eine Amerikanerin, bis zum Schluß. Auch wenn sie als deutsche Jüdin dort nie willkommen war. Aber die Samstage im Kino, drei Filme für einen Dollar, die Bananasplits und die Sprache, eine, die sie Zeit genug hatte, wirklich zu lernen, haben sie geprägt. Ich, eine ältere Dame, habe dieses Photo heute durch Zufall zum ersten Mal gesehen, meine alte Mutter, als sie ein Kind war. Ein trauriges Kind. Ich könnte heulen, aber ich will nicht. 
Tausende traurige, dünne, ungelenke, heimatlose Kinder in Flüchtlingslagern überall auf der Welt.



Sonntag, 7. Juni 2020

Das C-Wort XXI - Disziplin

Es ist knallhart, dieses Probieren in Corona-Zeiten.
Meine Spieler sind Helden, spielgeil und gleichzeitig vernünftig. Ja, das geht.
Nicht anfassen! Nicht küssen! Nicht ohrfeigen! Nicht streicheln!
Wird leise gesprochen, dürfen wir nackt bleiben, gesichtsnackt, mit Mimik und Schweiß.
Aber bei lautem Sprechen oder Singen werden sechs Meter Abstand verlangt  und sofort rauf mit den Plastikschilden!
Für viel Geld gibt es entspiegelte Schilde, aber das Geld haben wir nicht!
Also sehe ich im schlimmsten Fall kein Gesicht, sondern nur den Widerschein eines oder mehrerer Scheinwerfer!
Die Stimmen meiner Spieler schallen von ihrem Schild zurück, der Zuhörende hört eine durch den Kunststoff abgedumpfte Version.
Auf der Pro-Seite: wird jemand aggressiv, verwandelt sich die Maskenbewaffnung des Gegenübers in eine starke Theater-Haltung.
Unser Stück verlangt meistens Abstand, GottseiDank!
Wir alle wissen, dass wir ein gefährliches Spiel spielen und die Intimität der Proben tut ihr Eigenes, unseren Regelgehorsam zu gefährden.
Und nun, nach einer corona-unwissenden Probenphase bis zu drei Wochen vor der Premiere und einer zweiwöchigen corona-geprägten jetzt im Mai & Juni, soll unsere Premiere im September sein.
Aber in den Unterbrechungsmonaten verändere ich mich, denke neu, denke anders, meine Weltsicht verändert sich.
Was wird uns im September passieren? Welche Regeln gelten dann? Wie denke ich dann?
Wieviele Zuschauer dürfen wir einlassen? Genug, um unser finanzielles Überleben zu ermöglichen?
Die bremer shakespeare company ist ein teilsubventioniertes privates Theater und verhält sich in dieser Krise ungewöhnlich sozial. Ausgefallene Vorstellungen wurden bezahlt, Mein Honorar zu mehr als der Hälfte ausgezahlt.
In unseren Proben treffen Kompromissbereitschaft und anarchisches Spielbedürfnis aufeinander und wir nutzen jede Möglichkeit der Unterwanderung, was bleibt uns anderes übrig?
I wish.
Ach wäre doch alles anders!
Ach wäre der Mistkerl Trump nicht psychotisch.
Ach wäre Hautfarbe eine Nebensächligkeit.
Ach wäre die Welt einsichtiger.
Ach wäre ich vorsichtiger.
Corona ist eine Spaßbremse!
Und ein Killer!

Samstag, 23. Mai 2020

Das C-Wort XX - Bösewichte

Erinnert ihr euch an die Bösewichte eurer Jugend?
Die Hexe mit ihrem Appetit auf Kinderfleisch und der bedauernswerten Kurzsichtigkeit. Die Stiefmutter, besessen von der eigenen Schönheit, gezwungen auf allerlei lächerliche Verkleidungen zurückzugreifen. Die bösen Stiefschwestern, dümmlich, selbstsüchtig und eitel. Kneif deine Wangen, wenn Du kein Rouge hast! Auric Goldfinger mit der weißen Perserkatze und den Piranhas, der die Weltherrschaft plante. Gute Bösewichte sind was Großartiges. Nicht, wie fast alle Nazis in fast allen Filmen, nicht finster blickende, brüllende Pappmaché Figuren, sondern charmante, verführerische, undurchsichtige Gestalten mit Untiefen und überraschend, verstörend sympathischen Seiten.

ABER JETZT wird ernsthaft behauptet:
Anne Frank befand sich auch im Lockdown ( Sven Liebich) , der Wissentschaftler Drosten ist wie Mengele, die Gefährdung der Impfgegner gleicht der der Juden im III. Reich und die Corona-Einschränkungen dem Ermächtigungsgesetz von 1933, wir leben in einer faschistischen Diktatur, Bill Gates oder Rothschild oder die Bilderberger oder DIE Juden sind darauf aus uns zu knechten, 5G tötet tausende Vögel und verbreitet nebenbei den Corona Virus, Merkel ist ein Reptiloid - WtF? 
Während wir, im Vergleich zu anderen Ländern, unter anderem Brasilien und die USA, relativ unversehrt, ich betone "relativ", durch die nun (hoffentlich) abebbende Coronakrise waten, beschließen einige meiner Mitbürger, sich zu Opfern unerträglicher Unterdrückung zu erklären und dabei unsere gemeinsame schwierige Geschichte zu vergewaltigen. Wo sind die Gaskammern, die Massenerschießungen, die Verhaftungen, die Folter, die Mundtotmachung? Diese trendigen Opfer können die Verweigerung ihrer Meinungsfreiheit in vielerlei Kameras und Mikrophone brüllen und was passiert ihnen? In der DDR wären sie in ein Stasi-Gefängnis verfrachtet worden, unter den Nazis ins KZ. Hier und heute werden ihre Ausweis-Informationen aufgenommen. O weh!
Ich habe gravierende Schwierigkeiten mit der Ungerechtigkeit, die ein grundlegendes Prinzip unserer Gesellschaftsornung ist, aber ich ziehe doch, widerwillig, unsere hinkende, bucklige Demokratie all den anderen real existierenden Formen und Verkrüppelungen vor. Hier noch einmal ein Churchill Zitat: "Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen - abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind." 
Es ist eine beschissene Zeit. Bedrückend. Viele von uns sorgen sich um ihre Zukunft. Kinder vermissen ihre Spielkameraden, Jugendliche die ihnen zustehende Sorglosigkeit, Mütter sind überbelastet, die Gewalt in Familien nimmt zu, Kleinunternehmer bangen zu Recht um ihre Zukunft, Künstler, gute und weniger gute, stehen vor dem Nichts - ABER wir sind nicht völlig verlassen. 
Wir leben nicht in Favelas, sind nicht Bewohner eines Landes ohne medizinische Grundversorgung, unsere vielgeschmähte Frau Merkel ist in der Lage wissenschaftliche Daten zu verarbeiten, wir werden versorgt, wenn wir erkranken.

Ist da gar keine Erleichterung? Wir verzeichnen nur "8261" Tote zum jetzigen Zeitpunkt, nicht mehr, nicht 100 000, nicht 500 000, wie es der mißmutige Herr Castorf benannte. Nicht mehr tote Großväter, Großmütter, Dicke, Zuckerkranke, Raucher, Asthmatiker? Solche die selber schuld sind oder sowieso nicht mehr lang leben?
 Dankbarkeit. Das klingt demütig, und ist vielleicht angebracht.


Freitag, 15. Mai 2020

Das C-Wort XIX - Unnormal Normal oder Normal Unnormal

Tagesablauf: 

Der Koffer ist gepackt und enthält (Ein erstes Mal!) Desinfektionsmittel, meinen antiken DDR-Impfausweis und eine kleine Sammlung von Gesichtsmasken.

Um 5 Uhr klingelt der Wecker, dann schnell zum Bahnhof für den Zug um 6.40 Uhr nach Bremen via Hamburg. (Meine erste Zugfahrt in acht Wochen.). Der Zug ist merkwürdig leer, die Maske über drei Stunden erträglich.

(Um 11.00 Uhr bin ich im Theater, zum ersten Mal in acht Wochen). Ein gutaussehender Amtsarzt verkleidet sich in einen langen grünen Kittel und Mundschutz plus Plastikvisier und nimmt uns allen einen Corona-Abstrich ab. 10 cm in die Nase geht bei mir gar nicht, ein zweiter Versuch im Rachen klappt. Die Ergebnisse bekommen wir morgen. Wenn nur einer von uns positiv testet ... 14 Tage Quarantäne?

Dann verpasst mir der hübsche Arzt eine Pneumokokkenimpfung für den Fall des Falles. Nur ein kleiner Pieks, erst am Abend wird der Arm schmerzen.

Um 12.00 Uhr ist dann richtiger Probenbeginn. (Der ersten Probe in acht Wochen.) Die Spieler legen ihre Gesichtsschilde aus Plastik an. (Alice fiel in den Brunnen und durch den Spiegel.) Ihre Visiere spiegeln die Neonröhren des Arbeitslichtes, jede Kopfbewegung erzeugt ein kleines glitzerndes, funkelndes Feuerwerk über ihren Gesichtern. 

Um 14.00 Uhr folgt ein gemeinsam vereinzeltes Mittaggessen an von einander entfernten Tischen. Es schmeckt, wie immer, großartig. (Mit so vielen Leuten war seit acht Wochen nicht mehr in einem Raum - Maske auf, Maske ab, Hände desinfizieren.) Essen mit Maske geht nicht.

Um 15.00 Uhr folgt mein Einzug in die Theaterwohnung. Danach noch schnell der Einkauf des Nötigsten - Kaffee, Milch, blabla. (Die letzten acht Wochen habe ich jeden Tag gekocht, das werde ich jetzt in der fremden Küche erstmal nicht mehr können.)

Um 19.00 Uhr Abendprobe - was passiert mit dem Erarbeiteten unter den neuen, irren Bedingungen? Unser Stück spielt in der Hölle, also hätten die Figuren keinen Grund sich vor einem Virus zu fürchten. (Aber die Schauspieler haben einen.)

Hinter ihren Visieren klingen die Stimmen anders, wie aus zu kleinen Tonstudios oder wie aus einer Plastiktonne. Der Stirnreif drückt, die Schilde verändern die Sicht, manchmal sieht man das eigene Spiegelbild. (Gibt es entspiegelte Plastikfolie?) Es ist anstrengend. Kopfschmerzen. Instinktive Reaktionen ohne Sicherheitsgedanken sind erstmal nicht möglich. Jede Stunde lüften wir, um die Aerosolhäufungen wegzublasen. 

Die "Metaebene" unseres Stückes ist die neue deutsche Rechte, die sich gerade in die aus Verunsicherung und Denkfaulheit geborene Querfronten einparkt, Corona schützt uns nicht vor faschistoide Gedankenwelten.

Jetzt, um 24 Uhr, bin ich knülle.

 © Bild: cover-covid
 

Sonntag, 10. Mai 2020

Das C-Wort XVIII - Demonstrationen

Wir demonstrieren - ein merkwürdiger Vorgang. Mehr oder weniger Menschen treffen sich und laufen langsam, stockend eine lange Weile auf vorgeplantem Weg, um ihre Zustimmung, Ablehnung, Empörung, Überzeugung durch eben dieses Bewegen zum Ausdruck zu bringen.

Eine Demonstration (von lateinisch demonstrare, zeigen, hinweisen, nachweisen) im politischen Sinne ist eine in der Öffentlichkeit stattfindende Versammlung mehrerer Personen zum Zwecke der Meinungsäußerung.

Meine ersten Demonstrations-Erfahrungen in den Tiefen der DDR waren geprägt vom jährlichen Aufmarsch der Berliner Bühnen zum 1. Mai, da bin ich als Baby im Kinderwagen mitgefahren worden, als ungeduldiges Kind, als unwillige Jugendliche und schließlich als pflichtbewußtes Mitglied des Deutschen Theaters. Mit Politik, so verdrängte ich lange, hätte das wenig zu tun, es schien mir mehr wie ein jährliches Rendezvous mit den Leuten von den anderen Berliner Theatern, ein Mini-Ferienlager.
Treffpunkt irgendwo ums Rathaus rum, dann Latschen unter Beschallung. "Du brauchst keine Brille, um Deinen Weg zu finden" sang, wahrscheinlich, der Oktoberclub und ich, schwer kurzsichtig, hatte meine Zweifel. Zum offiziellen Höhepunkt an der Tribüne auf dem Marx-Engels-Platz vorbei, vorbei an hölzern winkenden, greisen Politikern, mysteriösen, chinesischen Delegierten und "unser" Hans-Peter Minetti, Mitglied des ZK der SED, der ekstatisch grinsend mit beiden Händen wild wackelte, während der Wind seine dreifach über den Kopf gelegte Haarsträhne in ein halbmeterlanges Fähnchen verwehte. Erst danach begann das Eigentliche, Eisbein und Erbspüree im BE. Kollegen treffen, quatschen, ein heiterer, geselliger Tag, vorstellungsfrei. 
Und es gab auch die Luxemburg/Liebknecht Demo am 15. Januar, dem Gedenktag ihrer Ermordung, ein, im Rückblick, surrealer Vorgang, um die zu ehren, die beim Anblick der Realitäten der DDR, in Tränen der Wut ausgebrochen wären. 

Uralter DDR Witz. Karl Marx wird durch DNA-Cloning wieder zum Leben erweckt. Er bekommt eine Stunde Redezeit im DDR-Fernsehen, die wird aber durch Sondermeldungen des ZK der SED immer weiter verkürzt. Am Ende bleiben ihm fünf Minuten. Er schweigt lange, sehr lange und sagt dann: " Proletarier aller Länder, Entschuldigung."

1989. Im Oktober sah ich, wie friedlich Demonstrierende von der Volkspolizei brutal zusammengetrieben wurden und im November, wie ein Volk die Strasse mit Würde für sich zurückeroberte. Aber "Wir sind das Volk" verschob sich schnell zu "Wir sind ein Volk" und eine gänzlich neue, andere Zeit begann.

Zwischendurch bin ich nur einmal marschiert, was für ein grässliches Wort, für den Bau des neuen Gebäudes der Schauspielschule "Ernst Busch".

Ein neues Kapitel, so dachte ich, begann mit der "Glänzenden Demonstration" gegen die AfD-Kundgebung in Berlin, Tausende in goldener Kostümierung, meist strahlend leuchtenden Feuerschutzplanen, liefen bei der im Mai 2019 durch Berlin, später dann noch einmal. Friedliche, heitere, herrlich bunte Spaziergänge gegen Rechts.

Und jetzt. Jetzt. 
Hygienedemos. Querfront, Unruhe, nervöse Aggression und unterschwellige Propaganda. Manche halten das Grundgesetz in der Hand, andere tragen die silberne Querdenkerbommel um den Hals, manche meditieren für den Frieden, manche schwafeln von jüdischen, imperialistischen, reptiloiden Verschwörungen. Der frishgegründete "Widerstand 2020" will viel und weiß nur nicht genau was. Alt-Nazis, AfDler, Antifa-Anhänger, Öko-Hippies, Psychotiker, Q-Anon-Gläubige, Impfhasser, durchschnittliche Dumpfbacken, wohlstandsverwahrloste Yuppies und verängstigte Menschen aller Schichten, deren Sorge und Verunsicherung, sie verzweifelt nach Erklärungen und Schuldigen suchen läßt. 
Einer vergleicht die Eindämmungsversuche der Regierung mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Eine Frau, die Impfungen ablehnt, trägt den gelben Judenstern des Dritten Reiches, mit der Inschrift "Nicht geimpft". Schwitzige und nervende Stoffmasken werden zu Körperverstümmelungen hochstilisiert, das Verbot von Parties zu unmenschlicher Isolation. Und wir durften wochenlang nicht einkaufen gehen!

Ist es Bill Gates, der uns durch subkutane Chipeinpflanzung gleichschalten will? Ist es die Mafia? Ist es MacDonald? Oder die Nazis, die unterirdisch am Südpol oder auf den Mond weiterb agieren?Wird die Zwangsimpfung kommen, wenn es einst ein Impfserum geben wird? Wird das Bargeld abgeschafft werden, um uns alle in den Würgegriff der Banken zu zwingen? Wer will die Welt regieren?

Nur zum Atemholen: die da über die brutalen Eingriffe in ihre Freiheit schimpfen, tuen es, während sie nicht verhaftet, erschossen oder sonstwie verletzt werden. Es wurden keine Parteien verboten, keine Wahlen abgesagt, keine Zeitungen verboten.

Was ist mit uns los? Wir haben Glück, nicht so viele Tote wie New York oder Bergamo oder wer weiß wo. Wir haben Glück im Unglück. Ein wohlhabendes Land mit medizinischer Versorgung für jeden, auch wenn es Privatversicherte unverdient besser haben. Wir hatten einen bequemen Lockdown, mit Spaziergängen und der Möglichkeit jederzeit Lebensmittel u.ä. einzukaufen. Hier wird niemand verhungern. Das ist anderswo anders. In Indien, im Iran, in New York.
 
Vielleicht geht es einfach vorbei, vielleicht kommt die gefürchtete Zweite Welle. Wer weiß es.
Und das ist der Punkt. Ich weiß es nicht. Und scheinbar weiß es niemand mit Sicherheit. Also wasche ich brav meine Hände und stülpe eine blöde Maske über mein Gesicht. 
Und abschließend ohne direkten Zusammenhang, zum Muttertag, ein Photo, das ich liebe:


Montag, 27. April 2020

Das C-Wort XVII - Wirre Gedanken

Gestern benannte eine Unterstützerin der irrwitzig vermischten Demonstrationen vor der Volksbühne unseren augenblicklichen Zustand auf Facebook als "Berufsverbot".
Berufsverbot? Irgendwie sollten Bezeichnungen doch eine Beziehung zum Bezeichneten haben. Wir erleben die Verbreitung einer sehr ansteckenden Krankheit, sie verbreitet sich durch Tröpfcheninfektion, ergo wäre die Ausübung unseres Berufes unter den bisher üblichen Bedingungen eine akute Gefährdung des Lebens der Beteiligten, der Spieler und der Zuschauer.
Berufsverbot? Oder verantwortliches Verhalten unsererseits unter den gegebenen Umständen? Tieftraurig, ja, sozial von noch nicht endgültig einschätzbarer, aber sicher tiefgreifender, Wirkung, aber es ist kein Verbot, sondern ein Gebot der Stunde. Mir werden nicht meine demokratischen Grundrechte verwehrt, sondern ich bin aufgefordert, mich als Bürger verantwortlich zu verhalten.
Berufsverbot? Ich weiß nicht, ob die verordneten Maßnahmen zu weit gehen oder nicht weit genug gehen, ich bin kein Doktor, um den blonden orangegefärbten Präsidenten zu zitieren. Aber ich weiß, dass ich es nicht sicher weiß. Und das ist schon viel heutzutage. Ich möchte nicht durch dieses Virus sterben und niemanden anstecken. Also informiere ich mich vielseitig und kontrolliere meine Informationen so weit es mir möglich ist.
Die Volksbühne, der Platz davor - warum treffen sich die Protestierenden gerade hier? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Bei diesen Demos mischen sich frohgemut ganz weit Rechte, Irre und irgendwie Linke auf dem Rosa-Luxemburg-Platz und fordern verschiedenste Dinge. Wenn ich mal von den völlig bekloppten Verschwörungstheoretikern absehe, scheinen auch normal intelligente Personen jetzt gerade gehäuft abzudrehen.
Das wir achtsam sein müssen, dass diese oder ähnliche Einschränkungen nicht beibehalten werden nach dem der Virus unter Kontrolle ist, versteht sich von selbst. 

© Foto: Tomas Kittan

Mittwoch, 22. April 2020

Das C-Wort XVI - Es wird zu viel gemeckert.

80 Pegida-Anhänger durften gestern Abend mit staatlicher Genehmigung einen Abendspaziergang durchführen. Sie begannen, zahlenmäßig etwas reduziert, auf dem Platz vor der Semper-Oper, ehemals der "Adolf-Hitler-Platz", und liefen mit Schutz-Masken, gut desinfiziert und unter Einhaltung des 1,50 Meter Mindestabstandes durch Dresden. 80 für 80 Millionen' war der Titel dieser Unternehmung. 80, warum 80? 88 wäre doch stimmiger, oder? Zu offensichtlich?

Pegida - Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes - das Abendland, da wo die Sonne untergeht. Pegida fordert:
  1. ein neues Zuwanderungsgesetz, das „unkontrollierte, quantitative“ Zuwanderung beenden und „qualitative Zuwanderung“ nach dem Vorbild Kanadas und der Schweiz fördern solle,
  2. die Aufnahme eines Rechts und einer „Pflicht zur Integration“ in das Grundgesetz
  3. konsequente Ausweisung bzw. ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für „religiöse Fanatiker und Islamisten“, die in heiligen Kriegen kämpfen würden,
  4. direkte Demokratie durch Volksentscheide auf Bundesebene,
  5. ein Ende der „Kriegstreiberei mit Russland und ein friedliches Miteinander der Europäer“ ohne die „Kontrolle aus Brüssel“,
  6. mehr Mittel für die innere Sicherheit Deutschlands, besonders für die Polizei.
Mehr Mittel für die Polizei? 
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/rechtsextremismus-in-deutschland-wie-rechts-ist-die-polizei-a-1290326.html

Was ist mit uns los? Bemerken wir überhaupt noch in welch schwieriger und doch letztendlich privilegierten Situation wir uns befinden? Wir durchleben eine weltweite Krise in einem der, für den Fall solch einer Katastrophe, bestausgestattensten Ländern der Welt. Corona-Deluxe. 
Das heißt nicht, hier gäbe es keine existentiellen Einbrüche, keine Menschen in bedrohlicher Not, keine Sorge, keine Angst, aber wenn wir unsere Lage mit der anderer Nationen, anderer Länder vergleichen? Dann geht es uns gut. Relativ. Oder? Unverdientermaßen, durch den Zufall der Geburt, leben wir in einem Land mit einem ziemlich gut funktionierenden Sozial- und Gesundheitssystem. Wir sind Glückskinder! 

Aber wir meckern. 
Merkel ist doof oder Söder oder Laschet oder Drosten. Schutzmaßnahmen - von wegen, Freiheitsberaubung! Alte weiße Männer sollen halt einfach sterben. Alte weiße Frauen übrigens auch. Sollen die Alten doch in Quarantäne gehen, und die Asthmatiker, die Diabetiker, die Raucher, die an Immunschwäche Leidenden. Warum müssen immer die Jungen zahlen.
Bill Gates will uns alle unterjochen, G5, Chemtrails und oder China wollen uns fertig machen. Falls eine impfung gefunden wird, muß man die als guter Impfgegner ablehnen. 80 Quadratmeter sind zu viel, sind zu wenig. Wenn Friseursalons öffnen dürfen, warum nicht auch Tätowierstudios? Überforderte Yuppie Familien vergleichen ihre soziale Distanzierung mit einem Gefängnisaufenthalt. Corona ist wie Grippe. Corona gibt es gar nicht, weil man keinen kennt, der es hat. 
Überhaupt alle sind gegen uns.  
Und mein Liebling: jeder Mensch mit Google-Zugang weiß besser, wie mit der Pandemie umzugehen wäre, als Leute, die Jahre über Viren und Epedemien, Pandemien studiert und gearbeitet haben. Früher war jeder Fußball-Nationaltrainer, heute ist jeder Virologe. 

Was ist mit uns los?

Wir stehen einer Bedohung gegenüber, der wir egal sind, Hasstiraden gegen den Virus mögen erleichtern, werden ihn oder vielmehr die Trillionen hoch 15 Covid-19 Viren aber nicht erreichen. Also suchen wir uns andere Ziele für unsere zur Wut umgeformte Angst, denn irgendjemand muss doch Schuld sein. 

Gerade das, was ich als sehr vertrauenserweckend erlebe, dass Politiker und Fachleute ihre Unsicherheit eingestehen, laut sagen, sie wissen manche Dinge nicht mit Sicherheit, wird durch die Meckerer als verächtliche Schwäche ausgelegt. Jede Gruppe sieht sich als die vernachlässigste, die der es schlimmer geht als allen anderen und meckert sich in haltlose Empörung. 

Ich sehe es so: momentan weiß niemand genau was DAS RICHTIGE ist. Herr Drosten scheint nicht blöd zu sein, Mai Thi Nguyen-Kim auch nicht. Merkel ist wissenschaftlich vorgebildet und, so scheint es mir, durch DDR Erfahrung äußerst achtsam bei der Einschränkung jeglicher Freiheiten. 

Herr Wodarg trat bei Eva Hermann auf, was mich mißtrauisch macht. Herr Püschel aus Hamburg trauert keinem nach, der sowieso demnächst gestorben wäre.

Ja, ich weiß, ich werde sterben. Ja, es ist unvermeidlich. Aber wie lebt eine Gesellschaft weiter, die ihre Schwachen, ihre Hilfsbedürftigen dem Tod überläßt, um wieder auf NORMAL zurückgehen zu können?

DER SERVIETTENBAUM