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Sonntag, 26. März 2017

Meine Lieblingsnichte lernt Metrik

Meine zauberhafte Lieblingsnichte hat sehr viel Hausaufgaben, zu viele. Sie lernt und büffelt und versucht, die vielen verschiedenen Dinge in ihren Kopf zu stopfen. Niemand sagt ihr, wozu, keiner erklärt, warum.

Dann kam die Metrik ihres Wegs.

Wortmusik. Worte stärker als Worte. Worte in Rhythmen. Manchmal Worte, die sich reimen. Jambus, Daktylos, Trochäus, Kreuzreim, Stabreim, abab oder abab oder aab ccb. Das klingt technisch, ist aber Wunderhandwerk in den richtigen Händen. Es kann der Wendepunkt sein: wird das Mädchen Sprache lieben und Spaß mit ihr haben oder uninteressiert mit ihr rumschlampen?

Die Beispiele im Unterrichtsmaterial sind schauderhaft unsinnlich. Kein Bezug zum Leben meiner sehr lebendigen, heutigen Kleinen, kein für sie wiedererkennbares Gefühl, kein Witz in Sichtweite. Aber alle Regeln werden sauber befolgt und können abgefragt, abgehakt werden.





Die Nichte strauchelt, weil sie sich langweilt, kein Vergnügen finden kann.

Ich wühle durch meine Bücher. Wie kann ich ihr den nötigen Genuß verschaffen, sie bewahren vor der allbekannten Sprachidiotie? Der Vernachlässigung dessen, was uns von allen anderen Tieren unterscheidet.

Wir beginnen mit Heine -

Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen Andern erwählt;
Der Andre liebt eine Andre,
Und hat sich mit dieser vermählt.

Das Mädchen heiratet aus Ärger
Den ersten besten Mann,
Der ihr in den Weg gelaufen;
Der Jüngling ist übel dran.

Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.

Könnte ein Rap sein und die Geschichte wiedererkennt auch eine Zwölfjährige. Der Reim ist halbwegs rein. Der harte Bruch zum letzten Vers ist kostbar. ABCB. Jambus und Anapäst. 1/2 und 1/1/2 wechseln im Rhytmus, wie der sprunghafte Herzschlag der unglücklichen Liebe.

Sie grinst.

Schiller  "Der Handschuh"

AAB CCB - AA BB CC DD - ABCBDCEEFFD...
Coole Geschichte, das Metrum wechselt genauso überraschend, wie die Handlung sich unverhofft wendet und die Nichte hat den verflixten Schweifreim, den sie sich nicht merken konnte (aab ccb), mal vor die Augen und in die Ohren bekommen.

Zweites Grinsen.

Und zum Abschluß noch ein Kindergedichte von Brecht. Die haben wir dann zusammen getrötet.

Es war einmal ein Schwein
Das hatte nur ein Bein.
Einmal war es in Eil
Da rutschte es auf dem Hinterteil
Ins Veilchenbeet hinein:
Es war ein rechtes Schwein.
 

Es war einmal eine Kellerassel
Die geriet in ein Schlamassel
Der Keller, in dem sie asselte
Brach eines schönen Tages ein
So daß das ganze Haus aus Stein
Ihr auf das Köpfchen prasselte.
Sie soll religiös geworden sein.

Es war einmal ein Huhn
Das hatte nichts zu tun.
Es gähnte alle an.
Doch als es so den Mund aufriß
Da sagte ein Hund: Je nun
Du hast ja keinen einzigen Zahn!
Da ging das Huhn zum Zahnarzt
Und kaufte sich ein Gebiß.
Jetzt kann es ruhig gähnen
Mit seinen neuen Zähnen!

Geht doch, jetzt hat das Kind wieder gute Laune.

Donnerstag, 5. Januar 2017

John Höxter - Der Dante des Romanischen Cafes



Ich bin noch ein ungeübter Selbstmörder

Vom Romanischen Café ist nichts übrig, da wo Tauentzien und Budapester Straße zusammentreffen, gegenüber der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, erhebt sich heute das Europa-Center.
John Höxter war einst ständiger Gast dieses Cafes. Er war ein nicht sehr fleissiger Dichter & Maler, ein Junkie, ein Talent, ein Schnorrer, ein Unikum, ein blasser Schatten unserer gemeinsamen Geschichte.
Nach den Novemberpogromen 1938 hängte sich John Höxter, deutscher Jude aus Hannover, um der "dauernd wachsenden Entwürdigung" zu entgehen, im Grunewald an einem Baum auf.


Wir sitzen im Café auf Verdacht
Wir wissen nicht, wo wir bleiben zur Nacht.
Wir schlafen uns in der Ringbahn aus; wo wir erwachen,
Sind wir zu Haus.
Aus "Apropoésies bohémiennes" 1927


Wenn ich wollte, was ich könnte,
Könnt' ich eher, was ich wollte;
Doch wie will ich wollen können,
Und wie kann ich können wollen
Ohne Muß zum Können wollen,
Da man wollen kann, wer muß!
Müßt' ich wirklich, was ich müssen wollte,
Könnt' ich sicher, was ich können muß.
Seht! Ein Mann, der manches können könnte,

Wenn der gute Mann nur wollen wollte.
Er verstummt und macht vorzeitig Schluß,
Weil (nach Nathan) kein Mensch müssen muß!


IGNORABIMUSELMANISCH

Ich will das Wie nicht wissen noch das Was;
Den Nießnutz nur von Ja und Nein (für Naß!),
Den echten Schein der Summe des Seins,
Der Dreiheit, der Zweiheit und der Eins.
(Die Drei dehnt des Denkens dunkle Dimension,
Zwei spiegelspaltet, Zwist und Zwang zum Lohn,
Die einsame Eins kann nichts weiter tun
Als im Ueberallhier immernun zu ruhn.)
Die Welt ward bestmöglich effektuiert,
Unterleibnitz hat nie Oberleibnitz geniert;
Ich vermißmutmaße in seinem Attest
Einen schwer zu tragenden, peinlichen Rest.
Gern verzicht’ ich auf Fichtes Weltvernicht-ichtung,
Aus Hegelexegese les’ ich Hexendichtung,
Der juvenile Absolütiti
Liegt mir so fern wie Otahaiti;
Indifferentier und kosmosaisch
Scheint die Kompr0misere mir höchst prosaisch!
Trotz des Erkenntnisbetriebes Ungewissensbissen
Sperrsitz’ ich fröhlich v o r den Weltkulissen.

SO LEBTEN WIR

Ende Oktober ließ der Jenaer Verein  POESIE SCHMECKT GUT e.V. vor dem neuen „Romanischen Cafe“ in Berlin mit Unterstützung der Initiative Stolpersteine Charlottenburg-Wilmersdorf einen Stolperstein für John Hoexter verlegen: „Im Anschluss an diese Verlegung besuchten wir den Jüdischen Friedhof in Berlin-Weissensee und wollten dort die Grabstätte von John Hoexter besuchen. In der Friedhofsverwaltung gab man uns einen detaillierten Plan, der es uns erst ermöglichte, die Begräbnisstelle überhaupt zu lokalisieren. Der Anblick, der sich bot, schockierte zutiefst. Tief erschüttert mussten wir feststellen, dass jede Spur von einem Grab nicht nur getilgt oder nie existent war, sondern dass direkt auf dem Fleck, unter dem John Hoexter begraben liegt, ein Müllcontainer für Grababfälle stand. Wir haben den Container entfernt und eine kleine provisorische Grabstätte hergerichtet. Dieses nur notdürftige Provisorium möchten wir nun gerne durch eine würdige Grabstelle ersetzt wissen." 


Friedrich Hollaender schrieb über Höxter diese Strophe 
(aus der Revue "Bei uns um die Gedächtniskirche rum"):
Ich pendle langsam zwischen allen Tischen.
Ab zwanzig Uhr beherrsch ich dieses Reich.
Ich will mir einen edlen Gönner fischen.
Vor mir sind Rassen und Parteien gleich.
Irrenärzte, Komödianten,
Junge Boxer, alte Tanten,
Jeder kommt mal an die Reihe
Jeder kriegt von mir die Weihe:
Könnse mir fünfzig Pfennige borgen?
Nur bis morgen?
Ehrenwort!
John Höxter Bildnis einer Dame mit Hut
Und Höxter hat das letzte Wort:
»Fremde Städte schaffen uns’re Moden
Ernten sammeln wir auf fremden Boden
Fremde Worte bilden uns’re Sprache
Fremde Nöte wurden uns’re Sache ...«

BUCKOWER ELEGIEN - Traurig


Deutschland - Ostgebiete - 1953 und 1954

Ein nicht mehr junger Dichter sitzt an einem wunderschönen Ort im Brandenburgischen und schreibt Gedichte. Er hat bis dahin ein anstrengendes Leben geführt. Aus der Kleinstadt in die Großstadt, aus der Heimat vertrieben in die Fremde, die ihn nicht willkommen heißt, und dann wieder zurück nach Hause mit großer Hoffnung, vielleicht auch wider besseres Wissen. Und nun, kurz vor seinem Tod, von dem er noch nichts weiß, aber vielleicht eine Ahnung hat, das Herz schlägt schneller, will er wahrhaftig sein, ideologiefrei, doch angstvoll und vorsichtig. Denn der Verlust der Hoffnung wäre wahrhaft tödlich.

1

DER BLUMENGARTEN
Am See, tief zwischen Tann und Silberpappel
Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten
So weise angelegt mit monatlichen Blumen
Daß er vom März bis zum Oktober blüht.
Hier, in der Früh, nicht allzu häufig, sitz ich
Und wünsche mir, auch ich mög allezeit
In den verschiedenen Wettern, guten, schlechten
Dies oder jenes Angenehme zeigen.

2

GEWOHNHEITEN, NOCH IMMER
Die Teller werden hart hingestellt
Daß die Suppe überschwappt.
Mit schriller Stimme
Ertönt das Kommando: Zum Essen!
Der preußische Adler
Den Jungen hackt er
Das Futter in die Mäulchen.

3

RUDERN, GESPRÄCHE
Es ist Abend. Vorbei gleiten
Zwei Faltboote, darinnen
Zwei nackte junge Männer.
Nebeneinander rudernd Sprechen sie. Sprechend
Rudern sie nebeneinander.

4

DER RAUCH
Das kleine Haus unter Bäumen am See
Vom Dach steigt Rauch
Fehlte er
Wie trostlos dann wären
Haus, Bäume und See.

5

HEISSER TAG
Auf den Knien die Schreibmappe
Sitze ich im Pavillon. Ein grüner Kahn
Kommt durch die Weide in Sicht. Im Heck
Eine dicke Nonne, dick gekleidet. Vor ihr
Ein ältlicher Mensch im Schwimmanzug, wahrscheinlich ein Priester.
An der Ruderbank, aus vollen Kräften rudernd
Ein Kind. Wie in alten Zeiten! denke ich
Wie in alten Zeiten!

6

BEI DER LEKTÜRE EINES SOWJETISCHEN BUCHES
Die Wolga, lese ich, zu bezwingen
Wird keine leichte Aufgabe sein. Sie wird
Ihre Töchter zu Hilfe rufen, die Oka, Kama, Unsha, Wetluga
Und ihre Enkelinnen, die Tschussowaja, die Wjatka.
Alle ihre Kräfte wird sie sammeln, mit den Wassern aus siebentausend Nebenflüssen
Wird sie sich zornerfüllt auf den Stalingrader Staudamm stürzen.
Dieses erfinderische Genie, mit dem teuflischen Spürsinn
Des Griechen Odysseus, wird alle Erdspalten ausnützen
Rechts ausbiegen, links vorbeigehn, unterm Boden
Sich verkriechen - aber, lese ich, die Sowjetmenschen
Die sie lieben, die sie besingen, haben sie
Neuerdings studiert und werden sie
Noch vor dem Jahre 1958 bezwingen.
Und die schwarzen Gefilde der Kaspischen Niederung
Die dürren, die Stiefkinder
Werden es ihnen mit Brot vergüten.

7

GINGE DA IN WIND
Könnte ich ein Segel stellen.
Wäre da kein Segel
Machte ich eines aus Stecken und Plane.

8

DER RADWECHSEL
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

9

DIE LÖSUNG
Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

10

BÖSER MORGEN
Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit
Heut eine alte Vettel. Der See
Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren!
Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel.
Warum?
Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend
Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und
Sie waren gebrochen.
Unwissende! schrie ich
Schuldbewußt.

11

DIE NEUE MUNDART
Als sie einst mit ihren Weibern über Zwiebeln sprachen
Die Läden waren wieder einmal leer
Verstanden sie noch die Seufzer, die Flüche, die Witze
Mit denen das unerträgliche Leben
In der Tiefe dennoch gelebt wird.
Jetzt
Herrschen sie und sprechen eine neue Mundart
Nur ihnen selber verständlich, das Kaderwelsch
Welches mit drohender und belehrender Stimme gesprochen wird
Und die Läden füllt – ohne Zwiebeln.
Dem, der Kaderwelsch hört
Vergeht das Essen.
Dem, der es spricht
Vergeht das Hören.

12

GROSSE ZEIT, VERTAN
Ich habe gewußt, daß Städte gebaut wurden
Ich bin nicht hingefahren.
Das gehört in die Statistik, dachte ich
Nicht in die Geschichte.
Was sind schon Städte, gebaut
Ohne die Weisheit des Volkes?

13

DER EINARMIGE IM GEHÖLZ
Schweißtriefend bückt er sich
Nach dem dürren Reisig. Die Stechmücken
Verjagt er durch Kopf schütteln. Zwischenden Knieen
Bündelt er mühsam das Brennholz. Ächzend
Richtet er sich auf, streckt die Hand hoch, zu spüren
Ob es regnet. Die Hand hoch
Der gefürchtete S. S. Mann.

14

LEBENSMITTEL ZUM ZWECK
An Kanonen gelehnt
Teilen die Söhne Mac Carthys Schmalz aus.
Und in unendbarem Zug, auf Rädern, zu Fuß
Eine Völkerwanderung aus dem innersten Sachsen.
Wenn das Kalb vernachlässigt ist
Drängt es zu jeder schmeichelnden Hand, auch
Der Hand seines Metzgers.

15

BEI DER LEKTÜRE EINES SPÄTGRIECHISCHEN DICHTERS
In den Tagen, als ihr Fall gewiß war
Auf den Mauern begann schon die Totenklage
Richteten die Troer Stückchen grade, Stückchen
In den dreifachen Holztoren, Stückchen.
Und begannen Mut zu haben und gute Hoffnung.
Auch die Troer also ...

16

TANNEN
In der Frühe
Sind die Tannen kupfern.
So sah ich sie
Vor einem halben Jahrhundert
Vor zwei Weltkriegen
Mit jungen Augen.

17

DER HIMMEL DIESES SOMMERS
Hoch über dem See fliegt ein Bomber.
Von den Ruderbooten auf
Schauen Kinder, Frauen, ein Greis.
Von weitem
Gleichen sie jungen Staren, die Schnäbel aufreißend
Der Nahrung entgegen.

18

LAUTE
Später, im Herbst
Hausen in den Silberpappeln große Schwärme von Krähen
Aber den ganzen Sommer durch höre ich
Da die Gegend vogellos ist
Nur Laute von Menschen rührend.
Ich bin's zufrieden.

19


DIE MUSEN
Wenn der Eiserne sie prügelt
Singen die Musen lauter.
Aus gebläuten Augen Himmeln sie ihn hündisch an.
Der Hintern zuckt vor Schmerz
Die Scham vor Begierde.

20

VOR ACHT JAHREN
Da war eine Zeit
Da war alles hier anders
Die Metzgerfrau weiß es.
Der Postbote hat einen aufrechten Gang.
Und was war der Elektriker?
 


Bertolt Brecht: Buckower Elegien
In: Bertolt Brecht: Gedichte 2. Sammlungen 1938-1956. Berlin, Weimar, Frankfurt am Main 1988. S. 305-315. Kommentar S. 444-450
Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Band 12

Montag, 3. Oktober 2016

Nicolas Born - ein noch nie gehörter Name


Ich gebe zu, daß ich schöne Gedichte schreiben wollte, und einige sind zu meiner größten Überraschung schön geworden.

Mein zufälliger, nachlässiger Blick auf den Küchentisch eines Freundes, auf dem eine Hör-CD mit dem Photo eines schönen jungen Mannes auf dem Cover liegt. Dieser Mann starb mit nur 41 Jahren an Krebs. 

Müssen wir diesen Tod nicht besonders hassen, ganz egoistisch, weil er uns um einen Teil unseres eigenen Wesens gebracht hat, das, in uns nur latent, sich in ihm verwirklicht hatte?  
Günther Kunert


In den wenigen Jahren vor diesem Tod schrieb Nicolas Born Gedichte und Romane. Seine Tochter hat sie posthum veröffentlicht. 

 
Selbstbildnis

Oft für kompakt gehalten
für eine runde Sache
die geläufig zu leben versteht-
doch einsam frühstücke ich
nach Träumen
in denen nichts geschieht.
Ich mein Ärgernis
mit Haarausfall und wunden Füßen
einssechsundachtzig und Beamtensohn
bin mir unabkömmlich
unveräußerlich kenne ich
meinen Wert eine Spur zu genau
und mach Liebe wie Gedichte nebenbei.
Mein Gesicht verkommen
vorteilhaft im Schummerlicht
und bei ersten Gesprächen.
Ich Zigarettenraucher halb schon Asche
Kaffeetrinker mit den älteren Damen
die mir halfen
wegen meiner sympathischen Fresse und
die Rücksichtslosigkeit mit der
ich höflich bin.


aus: Gedichte, 2004, Wallstein-Verlag, hrsg. von Katharina Born

Eine Liebe

In Köln-Knapsack küßte ich eine Frau
unter einer Brücke 1963.
Wie ihr Gesicht war
so mag ich Gesichter.
Dann hieß sie Heidelinde
das sagte sie.
Ich möchte wissen
wie sie mich dabei ansah.
Draußen war es zu kalt.
Wir verabredeten uns auf einen Zufall.
So bald komme ich nicht mehr nach
Köln-Knapsack.


IM INNERN DER GEDICHTE


Du kannst nicht davon leben
mit der Wirklichkeit zu konkurrieren
noch kannst du von der Wirklichkeit leben
aber du kannst einen Eingriff überleben
und alles zurück kriegen
und durch Das Leben gehen
durch schnell verfallende Bilder
das warst du
du und Das Werdende Leben
Personen keuchend unter ihren Grabsteinen
Mit einer ungeheuren Anstrengung
von dir und allen Vorfahren
blendest du dich aus
Land und Wasser sind geblieben
der Himmel ist geblieben
und du bist geblieben
du hast dich auf nichts einzurichten
kleine Sonnen erleuchten deine Demokratie Und
du wählst das Leben und den Tod
du hast viele Schöne Stimmen
du bist Viele
deine Haut ist deine Haut Und endlich
nichts als Haut
du bist der Unternehmer des Lebens
der Veranstalter weißer Erscheinungen
du bist der RaumMensch im Freien
der Autor des Laufs der Geschichte
du bist imstande Zeit zu drucken wie Bücher
du wiegst und siebst und liebst

Und im Wind
wehen die Ruinen der Diktatmaschinen
die Unvernunft steht in voller Blüte
du bist die Blüte und die Unvernunft
du bist Tag und Nacht bei Tag und Nacht
du bist der Mörder
kreisend in der eigenen Blutbahn
du bist Vater und Sohn
du bist der ausgeschlachtete Indianer
und der registrierte Indianer
du bist alle Farben und Rassen
du bist die Witwen und Waisen
du bist die Rebellion der Gefangenen
du bist Geheul ohne Aufenthalt
Messerwürfe Schüsse
du bist der phantastische Sportler der TraumMeilen
der Bildersturm im Haupt der Demokratie
du bist der Sprengmeister aller Ketten
du bist die geheim leuchtende Parole
die Banderole
die Avantgarde der FreiKüchen
du bist Mensch Und
Tier wenn es den Tod fühlt
du bist allein und du bist Alle
du bist dein Tod und du bist der Große Wunsch
du bist der Plan den du ausbreitest Und
du bist dein Tod

Montag, 8. August 2016

WIEN 2 - Vor und hinterm Heldenplatz

An einem der Eingangstore zum Heldenplatz:

 
HELDENPLATZ
Am 15. März 1938 verkündete Adolf Hitler vom Balkon der Neuen Burg aus den versammelten Wienern auf dem Heldenplatz den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Ernst Jandl beschreibt das so:

der glanze heldenplatz zirka
versaggerte in maschenhaftem männchenmeere
drunter auch frauen die ans maskelknie
zu heften heftig sich versuchten, hoffensdick
und brüllzten wesentlich.

verwogener stirnscheitelunterschwang
nach nöten nördlich, kechelte
mit zu-nummernder aufs bluten feilzer stimme
hinsensend sämmertliche eigenwäscher.

pirsch!
döppelte der gottelbock von Sa-Atz zu Sa-Atz
mit hünig sprenkem stimmstummel.
balzerig würmelte es im männechensee
und den weibern ward so pfingstig ums heil
zumahn: wenn ein knie-ender sie hirschelte.

Ernst Jandl

Und gleich hinterm Heldenplatz ist das Museumsquartier mit dem Leopoldmuseum:
 
EGONSCHIELE EGONSCHIELE EGONSCHIELE EGONSCHIELE EGONSCHIELE

 Vestibül des Leopold-Museums mit Licht/Schatten Effekten

Schwarzhaariges Mädchen mit hochgeschlagenem Rock 1911

 Selbstportrait ???

Osen 1910 Mit angelegten Handspitzen

LINKS UND RECHTS
 


 
RECHTS


Wally Neuzil und Egon Schiele 1912

Haus am Fluß 1915
-------------------------------------


Gustav Klimt Sehr große Pappel am Attersee 1902/03

KLEINER NACHTRAG ZU GESTERN
 
Ehrentafel für die im Kampf gegen die Türken gefallenen ehrsamen Wiener Handwerker

Und am Rande:

Ein Orientteppichladen, der wie ein orientalischer Teppichladen aussieht.

Samstag, 26. September 2015

Flüchtlinge - Walter Benjamin starb heute vor 75 Jahren



Ein Flüchtling, ein verfolgter Mann, dem die nationalsozialistische Regierung Deutschlands jede Möglichkeit genommen hatte, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, allein in einem spanischen Dorf, er hat die Pyrenäen von Frankreich aus in einem ihn überfordernden Fußmarsch überwunden, nun will Spanien ihn nicht nach Amerika gehen lassen, in das ferne rettende Land. Freunde haben ihm ein Visum erkämpft, doch er wird Amerika nie erreichen. Eine Überdosis Morphium beendet sein Leben. Erst im Massengrab verbuddelt, dann umgebettet, niemand weiß wohin.
Wir alle würden versuchen, der Vernichtung zu entfliehen, ob aus Hunger, in Hoffnung auf ein besseres Leben oder aus Angst vor Verfolgung - jeder von uns.


In dieser ausweglosen Situation habe ich keine andere Möglichkeit, als sie zu beenden. Mein Leben wird ein Ende finden in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, wo mich niemand kennt. ich bitte Sie, meine Gedanken meinem Freund Adorno zu übermitteln und ihm die Situation zu erklären, in der ich mich gesehen habe. Es bleibt mir nicht genügend Zeit, all die Briefe zu schreiben, die ich gerne geschrieben hätte.

Abschiedsbrief W.B. von Henny Gurland aus dem Gedächtnis rekonstruiert 

Zum Freitod des Flüchtlings W. B.

Ich höre, daß du die Hand gegen dich erhoben hast
Dem Schlächter zuvorkommend.
Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend
Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben
Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten.

Reiche stürzen. Die Bandenführer
Schreiten daher wie Staatsmänner. Die Völker
Sieht man nicht mehr unter den Rüstungen.

So liegt die Zukunft in Finsternis, und die guten Kräfte
Sind schwach. All das sahst du
Als du den quälbaren Leib zerstörtest.


Bertolt Brecht

Benjamins Weg in die Freiheit, sein Weg in den Tod. http://www.zeit.de/2010/37/Walter-Benjamin-Weg

W. B.

Einmal dämmert Abend wieder,
Nacht fällt nieder von den Sternen,
Liegen wir gestreckte Glieder
In den Nähen, in den Fernen.

Aus den Dunkelheiten tönen
Sanfte kleine Melodien.
Lauschen wir uns zu entwöhnen,
Lockern endlich wir die Reihen.

Ferne Stimmen, naher Kummer -:
Jene Stimmen jener Toten,
Die wir vorgeschickt als Boten
Uns zu leiten in den Schlummer.


Hannah Arendt

Mittwoch, 29. Juli 2015

Edna St. Vincent Millay


Ich bin mir bei ihr nie sicher, ob das Poesiealbumsverse sind oder Poesie.

Epitaph

Heap not on this mound
Roses that she loved so well:
Why bewilder her with roses,
That she cannot see or smell?

She is happy where she lies
With the dust upon her eyes.
Das kann ich nicht übersetzen. Nur in Prosa also:
 
Nachruf
 
Überschütte diesen Hügel nicht mit Rosen, 
Die sie so geliebt hat. 
Warum sie mit Rosen verwirren, 
Die sie nicht sehen oder riechen kann. 
 
Sie ist glücklich wo sie liegt, 
Mit dem Staub auf ihren Augen.

Time does not bring relief
 
Time does not bring relief; you all have lied
Who told me time would ease me of my pain!
I miss him in the weeping of the rain;
I want him at the shrinking of the tide;

The old snows melt from every mountain-side,
And last year's leaves are smoke in every lane;
But last year's bitter loving must remain
Heaped on my heart, and my old thoughts abide!

There are a hundred places where I fear
To go, ... so with his memory they brim!

And entering with relief some quiet place
Where never fell his foot or shone his face.
I say, "There is no memory of him here!"
And so stand stricken, so remembering him!

 
Die Zeit bringt keine Erleichterung
 
Die Zeit bringt keine Erleichterung; ihr habt alle gelogen,
Die mihr sagtet: Zeit würde meinen Schmerz lindern!
Ich vermisse ihn beim Weinen des Regens;
Mich verlangt es nach ihm beim Zurückweichen der Flut;

Der alte Schnee schmilzt von allen Bergseiten,
Und die Blätter des
letzten Jahres sind Rauch in allen Gassen;
Doch letzten Jahres bitteres Lieben muß bleiben
Geschüttet auf mein Herz, und meine alten Gedanken gehorchen.

Es gibt hunderte Orte die ich fürchte aufzusuchen...
So randvoll sind sie mit Erinnerungen an ihn!

Und wenn ich mit Erleichterung ein ruhiges Plätzchen betrete,
Wo er nie seinen Fuß setzte und sein Gesicht niemals schien...
Sage ich: Hier gibt's keine Erinnerung an ihn!
Und so stehe ich schmerzerfüllt, so an ihn denkend!

First Fig

My candle burns at both ends; 
It will not last the night;

But ah, my foes, and oh, my friends-- 
It gives a lovely light!

Erste Feige

Meine Kerze brennt an beiden Enden; 
Sie überdauert nicht die Nacht;

Doch ah, meine Feinde und oh, meine Freunde -- 
ein schönes Licht hat sie gemacht!

Second Fig

Safe upon the solid rock the ugly houses stand: 
Come and see my shining palace built upon the sand! 
 
Zweite Feige
 
 Sicher auf festem Stein stehn die häßlichen Häuser - Wand an Wand:
Komm und sieh mein leuchtendes Schloß gebaut auf Sand!