Sonntag, 11. Dezember 2022

Pinocchio nacherzählt von Guillermo del Toro

Pinocchio. 

10 oder 11 Verfilmungen gibt es. Niedliche Grillen, liebende, väterliche Gepettos, freche Pinocchios, mal animiert, mal mit menschlichen Darstellern. Immer fehlte mir etwas, zu süß. zu moralisierend und immer auf Kosten der anarchischen Lebenslust der kleinen hölzernen Kreatur. 

Wie im deutschen Struwelpeter wird in dieser italienischen Geschichte ein Kind zurecht gestutzt. Um ein "wirklicher" Junge zu werden, bezahlt Pinocchio am Ende einen hohen Preis, einschließlich  seiner Autonomie.

Das Verrückte ist, dass Collodi, Kind seiner Zeit, trotz seiner geradezu sich ins Auge und Herz bohrenden, pädagogischen Absichten, ein viel wilderer und darum wahrhaftiger Phantast war, als es seinen Absichten entsprochen und gedient hätte. 

Schlangen lachen sich tot, brutale Puppenspieler niesen aus Mitleid, der übelste Bösewicht ist so hoch wie breit und hat eine sanfte, weiche Stimme. 

Guillermo del Torro packt seiner Titelfigur ein schweres Gewicht auf die zarten Schultern. Mussolini, den italienischen Faschismus, Unsterblichkeit und einen leidgeprüften, wahrhaft guten Vater, der seinen Sohn verloren hat. Nicht das Kind ist der Held, sondern der Vater.

Ein Kind, wenn auch aus Holz, voll von Lebenslust und Neugier, erobert sich die Welt, mit den zu erwartenden katastrophalen Erlebnissen. Es will werden, wie die anderen Jungs, ein "richtiger, braver Junge. Angepasst. Selbstlos, ohne sein Selbst. 

 

Die blaue Fee, wird bei Del Torro zu einer eigenartigen Mixtur aus Sphinx und Alien, anstatt der ambivalenten Vorgabe von aus Leiden geborener, erpresserischer Maria und wütendem, totem Kind. Und sie hat mich heftig genervt. 

Das Pinocchio, eine Holzpuppe, nicht so einfach sterben kann, es sei denn, er verbrennt, ist eine herrliche Allegorie der Unsterblichkeitsgewissheit kleiner Kinder, aber hier wird daraus ein angestrengtes Szenario über die unausweichliche Bedeutungsschwere der menschlichen Sterblichkeit.

Kein Szenarium bisher hat, so scheint es mir, das Kind ernst genommen. Geworfen in die Welt, ihr ausgeliefert, kämpfend um seine Eigenartigkeit, seine Unschuld.

4 Kommentare:

  1. Danke! Ich sehe jetzt Pinocchio mit anderen Augen.
    Mehr davon!

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Das wird die nächsten drei Monate mein zentrales Thema. Ich versuche gerade eine Pinocchio-Version für Erwachsene zu entwickeln.

      Löschen
    2. Unter anderem hat mir der Hinweis auf die Unsterblichkeitsgewißheit von Kindern gefallen. Ich halte das für ein ganz wichtiges Entwicklungsmerkmal. Erwachsene täuschen sich in dieser Hinsicht meistens. Sie meinen, sie wüßten, daß sie sterblich sind. Tatsächlich kann sich aber keiner den eigenen Tod vorstellen. Es handelt sich lediglich um abgeleitetes Wissen; abgeleitet vom Tod der anderen.

      Ich finde es großartig, daß Sie an einer Erwachsenenversion von Pinocchio arbeiten. Könnte sein, daß er uns mehr zu sagen hat als unseren Kindern.

      Löschen
    3. "Unter anderem hat ..."
      Das war von mir. Hab nicht gemerkt, daß ich anonym war.

      Löschen