Sonntag, 27. Oktober 2013
Die DDR und der Atomschlag - Irrsinn selbst erlebt
Ungenaue Erinnerungen:
Das Jahr ist 1976, ich bin Schülerin der 11. Klasse am Grauen Kloster oder, wie sie offiziell genannt wird, der Zweiten Erweiterten Oberschule in Berlin Mitte am Hausvogteiplatz. Jeden Morgen führt mich mein Schulweg am Französischen Dom vorbei, an dem ein einsamer Steinmetz Restaurationsarbeiten durchführt, ich habe nie mehr als diesen einen Mann gesehen.
Ein neues Lehrfach wird eingeführt: der Wehrkundeunterricht. In meiner Erinnerung lautete der erste Satz des Lehrbuchs: "Der Feindesangriff kann Dich in der Schule, beim Sport oder in der Freizeit treffen."
Wir marschieren im unregelmäßigen Gleichschritt durch die eckigen Umgänge unsereres Schulgebäudes, das einstmals ein Gefängnis oder Krankenhaus gewesen sein muß. Für den Fall eines atomaren Angriffes wird uns dringend geraten, unsere Kleidung in übermangansaures Kali (Kaliumpermanganat) zu tauchen, um sie strahlenabweisend zu machen. Das Wort Kaliumpermanganat, ein rotes kristallines Pulver für Sitzbäder bei Blasenentzündungen, ist ein fester Bestandteil meiner Erinnerungen, und wird sie wahrscheinlich erst im Endstadium einer möglichen Alzheimererkrankung verlassen. Die Plastikhülle des Personalausweises der DDR könnte zur Herstellung einer Schutzbrille dienen und für den atomaren Schutzkeller muß unbedingt ein Eimer mit Deckel (!) angeschafft werden, der dann als Latrine dienen soll.
Ein ungewöhnlich heißer Sommer in Biesenthal, wir fahren für zehn Tage ins GST-Lager. Die GST ist die Gesellschaft für Sport und Technik, ein verlogener, idiotischer Titel für eine paramilitärische Organisation von Laien und Volltrotteln. 30 Siebzehnjährige marschieren durch brandenburgische Kiefernwälder, einige der Mädchen in Stöckelschuhen. Beim "Anprobieren" eines monströsen Atomschutzanzuges werden zwei Teilnehmer ohnmächtig. Beim regnerischen Nachtmarsch liegt unser magerer FDJ-Sekretär im Gebüsch und schießt mit feucht gewordenen Knallplätzchen, die nur noch ein müdes Pffft! von sich geben, auf uns, um zu prüfen, ob wir uns auch wirklich, der Anweisung folgend, in Richtung des imaginierten Atomschlages auf den nassen, sandigen Boden werfen. Mein Freund ist GST-Gruppenführer und küßt mich fünf Minuten vor dem gebrüllten "AUFSTEHEN" liebevoll wach. Da ich völlig unfähig bin ein Gewehr zu bedienen, schießt bei der Prüfung zur "Goldenen Fahrkarte" ein Mitschüler für mich, gewinnt den ersten Platz und vom geteilten Preisgeld kaufe ich meinen ersten Staubsauger.
In Berlin-Mitte hängt über mehrere Monate ein Großtransparent an einer Häuserwand mit roten Worten auf schwarzem Grund: "Wir fordern eine Welt ohne Atome!".
Stanislaw Lem hat in einem seiner Bücher bemerkt: " im Fall eines Atomangriffs werde ich mich auf den Boden werfen, mir eine Zeitung auf den Kopf legen und ganz langsam in Richtung des nächsten Friedhofs robben."
Skuld Norne schrieb:
AntwortenLöschenIch kann mir vorstellen, dass du diese Erinnerung nicht vergisst. Da ich das Glück hatte, mein Abi 1959 zu machen, blieb ich von solchem "Unterricht" noch verschont.
Frank Sollmann
was waren das für wahnsinnige zeiten --- irgendwie werd ich aber das Gefühl nicht los, dass sie entweder nie vorbei waren oder wieder im Anmarsch sind. diesmal vermutlich digital. hauptsache die angst ist geschürt und das ist sie.
Anna Else Bärbel Goldbeck-Löwe
Kinder in westdeutscher "Wirtschaftswunderzeit" lernten per MickyMaus und Walt Disney "Unser Freund das Atom" kennen. http://www.duckipedia.de/index.php5?title=Unser_Freund_das_Atom
Unser Freund das Atom (im Original "Our Friend the Atom") ist ein dokumentarierender Fernsehfilm aus der 3. Staffel der Sendereihe Disneyland. Er wurde am 23. Januar 1957 erstausgestrahlt.
Diese Szene ist derart bizarr, dass man sie für eine irrwitzige Komödie halten könnte.
AntwortenLöschenWir wissen, diese Erinnerung beschreibt einen Aspekt einer perfekt durchstrukturierten wirklichen Wirklichkeit.
Und wir erinnern uns, dass es mutige Eltern und Schüler gab, die sich trotz Repressalien gegen den Wehrkundeunterricht auflehnten.
Hans-Uwe Klügel
AntwortenLöschenDie Mädels durften bei solchen Märschen auch mal ne (natürlich ohne westliche Werbung beschriftete)PLASTE Tüte tragen,während die Jungs in den GST-Lagern in "Schnuffivollmaske" bekamen....Köstlich!
Zum Glück leben wir heute im Zeitalter des Datenkriegs,da schwitzt man nicht so sehr...........Danke Johanna
Burkhard Ritter
In der Schule wurde ich nicht damit konfrontiert aber im Berufsleben. Das nannte sich "Zivilverteidigung". Mußten nichts selbst durchführen sondern wurden über Lichtbildvorträge über die Gefahren eines Atomkrieges informiert. Als ob nach einem Atomschlag ein Überleben möglich wär.
Anna Else Bärbel Goldbeck-Löwe
Sure. Just duck and cover!
Michael Dressel
Oh, The sweet memories.
Katharina Palm
Oh ich erinnere mich gut: Marschieren mit Gasmaske auf dem Schulhof, die Unterteilung in gerechte und ungerechte Kriege und die ordentliche Mitschrift, wie ich unseren Keller in einen Atomschutzkeller umbaue, damit wir schön abwarten können bis die NVA draußen alles sauber gemacht hat. Außerdem sind im Kriegsfall die DDR-Kunstlederjacken viel besser als die Westlederjacken, denn "unsere" Jacken halten den Atomstaub ab.
Goncalo Alvez
AntwortenLöschenerinnert sich an Gullydeckel in Straßen des westlichen
"Zonenrandgebiets", die viel größer als die Norm waren.
Es gab ja nischt im Zonenrandgebiet,
aber Minen hatten wir, die Truman-Doktrin und Ruinen.
Übrigens:
Die Begründung der USA war:
"Die andere Lebensform gründet sich auf den Willen einer Minderheit, den diese der Mehrheit gewaltsam aufzwingt."
Wer ist heute die Minderheit, die der Mehrheit den Willen aufzwingt?
Tipp.: Was ist das schon, sie auszurauben gegen sie zu gründen
Frank Schlößer
Sollte man sich nicht auch was Weißes überwerfen oder alles weiß anstreichen? Das reflektiert die atomare Strahlung und die Hitestrahlung besser als schwarzes Zeug. Also ich war mir sicher: Wenn ich beim Atomschlag alles richtig mache, dann sterben nur die anderen.
Frank Schlößer
Ja, und um das Untergeschoss unserer Neubauschule lagen Betonplatten. Die musste man bloß anklappen, die Grube auffüllen und schon hatte man einen praktischen Bunker. Und zwei Türen im Kellergang waren aus Metall, mit Dichtungen und großen Exzenterhebeln.
seltsamer weise kann ich mich ueberhapt nicht an wehrkunde mehr erinnern - ein weisser fleck auf der landkarte der erinnerungen ueber die enorme idiotie...1976 war ich in der siebenten klasse...wahrscheinlich hat mein gehirn automatisch parziellen alsheimer angeordnet...und immerhin ist nen staubsauger rausgesprungen...graue vorzeiten...
AntwortenLöschenGoncalo Alvez
AntwortenLöschenJedenfalls habe ich immer eine Papiertüte und eine Aktentasche dabei.
Die, über den Kopf gehalten, schirmen ionisierende Strahlen wirkungsvoll ab.
Auch der NSA kann einen dann nicht mehr sehen.
Gabriele Bigott-Kleinert
"Nur streichen, nicht tupfen" riet uns - Studenten der Theaterwissenschaften" - ein Hirni bei einer Atomschutzbelehrung im GST-Lager. Das hat uns so empört, daß wir einen Aufruf verfaßten, in dem wir mehr gegen diese Bedrohung tun wollten, z.B. Anti-Atomkriegsmärsche. Der Aufruf wurde in der Zeitung "Forum" veröffentlicht, dann brach die politische Hölle los. Unsere Jungen wurden aus dem Studium heraus zur Armee geholt, Arbeiter aus dem Aluwerken Leipzig mußten sich in einem Artikel in der Leipziger Volkszeitung gegen uns empören...und..und...kann man eigentlich gar nicht witzig drüber schreiben.
Johanna Schall
Manno! Irrsinn. Aber, was nicht streichen, sondern tupfen? Die weiße Farbe zur Reflektion der Strahlung von den Fenstern?
Gabriele Bigott-Kleinert
Nee, die Brandwunden, die sollten dann nur ganz sorgsam behandelt werden. Er hat uns das auch vorgeführt. Dann kriegte eine von uns quasi einen fast hysterischen Anfall, damit begann alles. Als meine Tochter in Leipzig für eine Doku recherchierte stieß sie auf unseren Aufruf, - was für gute Kinder wir doch waren, dachte ich, als ich es wieder las, den Artikel der aufgehetzten Aluwerker habe ich auch noch. Vielleicht schreib ich das auch alles mal. - Nicht hier, innerhalb einer Geschichte. Falls es mir gelingt.