Sonntag, 26. März 2023

Probieren ist wunderbar. Die Hexenjagd.

Ich bekomme ein Angebot von einem Theater und lese daraufhin ein Stück. 

Dann ist mir schon alles passiert, entnervtes in die Ecke werfen, Liebe auf den ersten Blick, völlige Verwirrung, Erweckung meines Forscherdrangs, extreme Abneigung und faszinierte Fremdheit. 

Wo ist der Punkt, an dem ich einsteigen kann? Was irritiert mich? Wo knarrt es in der scheinbar kohärenten Erzählung? Bei Shakespeare heißt es: "There's the rub." "Da liegt der Hund begraben." "Das ist des Pudels Kern." Da passt was nicht, da lauert ein Widerspruch, da kann ich ansetzen zu meiner persönlichen Entdeckungsfahrt.

Wie Alice brauche ich einen Brunnen, in den ich fallen kann.

Wir haben "Hexenjagd" von Arthur Miller probiert. "The crucible" im Original, der Schmelztiegel oder die Feuerprobe und, damit deutsche Zuschauer besser vorbereitet sind, Hexenjagd. Was für ein gut konstruiertes, gedachtes und gekonntes Stück von geradezu widerlicher Aktualität. A well made play nennen es die Briten.

Worum geht es? Der gesellschaftliche Konsens ist im Wanken, deshalb wird noch genauer auf die Einhaltung der Regeln geachtet, Ausbrüche werden hart geahndet, harte moralische Urteile werden gefällt und Widerspruch nicht geduldet, das ist die Ausgangssituation. Das ist unsere Ausgangssituation, damals bei den Puritanern im 17. Jahrhundert, 1953 in den USA, hier im Heute und auch im Theater.

Was passiert? Junge Frauen tanzen nachts im Wald, Lust, Befreiung, Entäußerung. Da ist Liebe und Trauer um Verlust, Sehnsucht nach Freiheit, die ausgelebt werden. Sie werden erwischt. Aus Angst vor Bestrafung lügen sie und ihre Lügen passen anderen Leuten aus verschiedensten Gründen gut in den Kram, daraus entsteht: Verleumdung. Die Lügen werden größer, kaum weiß noch jemand wo die Wahrheit aufhört und die Lüge anfängt. Ein Wahrheitsgemetzel beginnt. Menschen werden beschuldigt ohne den Hauch einer Unschuldsvermutung. 

Euer Ehren, wir sind hier, um herauszufinden, was niemals niemand jemals gesehen hat.

Was ist wahr? Wer lügt? Aus welchen Gründen lügt man? Wovor hat man Angst? Wann glaubt man die eigene Lüge?

Die Verführung und Zerstörungskraft der Lüge sind gigantisch. Die Lüge ist allgegenwärtig, oft gut verkleidet, bietet Bestätigung, Wohlbefinden, Sicherheit. Die Wahrheit liegt, wie Ionesco sagt, zwischendrin, ist anstrengend, ambivalent, unbequem, im schlimmsten und besten Fall von explosiver Veränderungskraft. Aber erkennt man die Wahrheit noch, wenn man die Lüge gewohnt ist? Fake news sind Fake Wahrheiten. Und mittlerweile scheint es mir, als seien gefühlte Wahrheiten für viele wahrer, als wissenschaftliche Fakten. Wahr, wahrer, am wahrsten. Die Erde ist flach, Trump ist cool, Putin verteidigt Russlands Rechte, Chemtrails überall.

Das Stück spielt in einem kleinen Ort in Massachuchetts, Salem. Jeder kennt jeden, jeder "weiß" alles über jeden. Also sind alle Spieler immer auf der Bühne, jeder hat seinen Stuhl, sie lauschen aus dem Hintergrund, reagieren. Jeder Szene ist nur ein Möbel zugeordnet, Bett, Tisch, Mülltonne, Kaffeeautomat. Die Kostüme sind an Uniformen erinnernde Einteiler mit sehr individuellen Details in Blautönen. Wenig Maske.

Die Schauspieler, was kann ich sagen, eine Freude, ein Erlebnis, ein Abenteuer. Hin- und herhgehetzt zwischen Weihnachtsmärchen, regulären Vorstellungen, Lesungen etc. kommen sie, um etwas Neues zu probieren. Erstmal habe ich die Samstag-Proben gecancelt, irgendwann müssen sie doch mal ausschlafen, ihre Kinder bespielen, Text lernen oder Schlittschuh fahren, oder? Und ihre Laune ist besser am Montagmorgen. Und sie haben geschuftet, so viel Klappsätze und merkwürdige Formulierungen, so emotional und genau gedacht. Gelacht haben wir auch viel, unbedingt notwendig bei solch teuflischem Text. Und immer wenn vom Teufel die Rede ist, schnipsen alle über die linke Schulter. 

Währenddessen ist das Theater in Greifswald wegen anstehender Sanierung schon seit Juni geschlossen und die zugesagte Ausweichspielstätte wurde, trotz Zusage, nicht zur Verfügung gestellt. Drei Jahre soll es dauern, also wahrscheinlich fünf? Harte Zeiten. Ich wünsche diesem Ensemble in diesen harten Zeiten nur Gutes, das Beste. 

https://www.vanheesen.de/


Bühne: Nicolaus Heyse / Kostüme: Jenny Schall / Musik: Ludger Novak

Spieler: Markus Voigt, Nora Hickler, Philipp Seidler, Anjo Czernich, Katharina Rehn, Amelie Kriss-Heinrich, Gabriele Völsch, Lutz Jesse, Susanne Kreckel, Philipp Staschull, Jan Bernhardt, Hannes Rittig

Mädchen aus Salem: Pauline Altendorf, Marlene HeßeHenriette Held, Adele Mesing, Charlotte Brunk, Timea Daedelow, Freya Kairies, Frida Krüger, Jördis Werner

Al Pacino als Teufel in dem Film "im Auftrag des Teufels" 

Für wen schuftet ihr? Für Gott? Das ist es? Für Gott? Naja, ich sag euch, lasst mich euch ein bisschen Insider-Information über Gott geben. Gott schaut gern zu. Er ist ein Witzbold. Denkt mal drüber nach. Er gibt dem Menschen Instinkte. Er gibt euch dieses außergewöhnliche Geschenk und was tut Er dann? Ich schwöre, für Sein Amusement, für Sein privates Vergnügen, setzt Er die Regeln in Opposition. Das ist der größte Gag aller Zeiten. Gucke, aber fass nicht an. Fass an, aber schmecke nicht. Schmecke, aber schlucke nicht. Ihr erinnert euch an Clinton und Monica Lewinsky? Und während ihr von einem Fuß auf den anderen hüpft, was tut Er? Er lacht sich seinen kranken, verfluchten Arsch ab. Er ist ein Geizhals. Er ist ein Sadist. Er ist ein nie erreichbarer Vermieter. Den Anbeten. Niemals! ... Warum nicht? Ich bin hier unten mittendrin seit die ganze Sache begann. Ich habe jedes Begehren das im Menschen geweckt wurde genährt! Ich habe mich um seine Wünsche gekümmert und ihn nie verurteilt. Warum? Weil ich ihn nie zurückgewiesen habe trotz seiner Unvollkommenheit. Ich bin ein Fan des Menschen. I’m a fan of man! Ich bin ein Humanist. Vielleicht der letzte Humanist. Wer, der bei klarem Verstand ist, kann leugnen, dass dieses Jahrhundert ganz und gar meines ist? Jetzt ist meine Zeit. Es ist unsere Zeit.

O – raison d'esclave

"Krücken, Krücken! gebt uns Krücken!

Ach, wie geht die Menschheit lahm,

seit man, neu sie zu beglücken,

ihr die alten Stützen nahm.

 

Brillen, Brillen! gebt uns Brillen!  

grün und blau und gelb und rot!

Volles Licht ist für Pupillen

unsrer Art der sichre Tod.

 

Lügen, Lügen! gebt uns Lügen!

Ach, die Wahrheit ist so roh!

Wahrheit macht uns kein Vergnügen,

Lügen machen fett und froh!

 

Gängelbänder, Schaukelpferde,

Himmel, Hölle und Moral –

und dich selbst gib deiner Herde

neu zurück, o großer Baal!

 

Christian Morgenstern



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