Sonntag, 13. Juni 2021

Machtmißbrauch, Sexismus, Rassismus = Theater?

Die, meist schmuddeligen Bretter, die mir, irrerweise, immer noch die Welt bedeuten, haben einen ganz eigenen Geruch. Schweiß, geflossen aus Angst und Leidenschaft, Schminke, fettig und süßlich, Staub, immer Staub, erhitzter Staub unter Scheinwerfern, kalter Staub wiederverwenderter Kulissen, die Ausdünstungen von Menschen, spielender Menschen, Menschen im Lampenfieber, helfender Menschen, schauender Menschen. Und die Ausdünstungen aller vergangenen Vorstellungen, der gelungenen und der vergeigten, vermischen sich in diesem stinkenden, duftenenden Mischmasch. Menschen, die diesen Geruch lieben, sind nicht besonders, aber eigenartig. Sie stürzen sich in einen Beruf, der weder sozial, noch finanziell vielversprechende Angebote macht, die Arbeitszeiten sind Scheiße, Anerkennung ungewiss, aber sie, wir wollen, wir müssen diesem Duft nachjagen. Junkies, hooked on theatre.

Seit September 2020 habe ich den nicht mehr gerochen. Ein Junkie auf Entzug.

Machtmißbrauch, Sexismus, Rassismus = Theater?

In letzter Zeit lese, höre ich, wenn über diesen für mich magisch parfümierten Raum gesprochen wird, mindestens einen der drei anderen Begriffe auch. 

Es fing ganz wunderbar an, endlich wird das archaische Machtsystem des deutschen Stadttheaters in Frage gestellt. Endlich. Das Ensemblenetzwerk gründet sich, der GDBA wacht auf. Ein Aufbruch in wütender Liebe zum Theater.

Die Organisationsform des deutschen Stadttheaters wurzelt im Feudalismus und bewirbt sich gleichzeitig um Aufnahme ins Weltkulturerbe. 

Bei Wiki finde ich, dass "ursprünglich am feudalen Hof ein Intendant der Verwalter des (z. B. königlichen oder fürstlichen) Fundus oder der Kleiderkammer war, im Absolutismus bezeichnete man hiermit den Steuereintreiber." Die nahezu ungebremste Machtfülle des Intendanten begünstigt seinen Mißbrauch dieser Macht. 

Die Gagen für die meisten Schauspielerinnen und Schauspieler sind geradezu lächerlich niedrig und ungerecht verteilt zwischen den Geschlechtern, wie allerorten, zu Ungunsten der Frauen. Regieassistenti*innen werden noch schlechter bezahlt und heftiger ausgebeutet. Die Arbeitszeiten aller Leute mit NV Solo-Verträgen sind empörend schlecht geregelt. 

Regisseur*innen verwechseln ihre vereinende, zielgebende Aufgabe mit intellektueller Überlegenheit und herablassender Berechtigung, weil sie es können und verletzen das zerbrechliche, kostbare Verhältnis von Schauspieler*innen und Regisseur*innen immer wieder durch Rücksichtslosigkeit, Ungeduld und mangelndes Talent.

Also gilt es, neu nachdenken, andere, zeitgemäßere Organisations- und Schutzformen zu entwickeln.

Aber allmählich beginnt sich der Ton der Diskussion zu verändern. In diesem schrecklichen Jahr, in dem die Theater nicht spielen konnten, verwandeln sich diese Orte vor meinen lesenden Augen in schlammige, tiefschwarze Abgründe, in denen notgeile weiße Männer hilflose Mitarbeiter*innen  verfolgen, systemischer Rassismus ungehindert Amok läuft, von Angst geschüttelte Schauspieler*innen unter menschenunwürdigem Druck arbeiten. Eine "toxische", systemisch rassistische, ergo kunstfeindliche Umgebung in der ich seit vielen, vielen Jahren meine produktive Zeit verbringe.

Die katholische Kirche wirkt im Vergleich wie ein kinderbespaßendes Bällebad. 

Was habe ich nicht mitbekommen? Während ich inszeniert habe an kleinen, mittleren und großen Theatern und mit freien Gruppen?

Alle Welt und ihr Onkel entschuldigt sich schnellstens und glaubwürdig. Abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass man sich selbst ent-schulden kann, bezweifle ich auch, dass auf diese Art neues Verständnis entsteht. Öffentliche Kritik und Selbstkritik kenne ich gut aus meiner DDR-Schulzeit und habe es schon damals nicht gemocht, ein übles Ritual basierend auf moralischer Erpressung.

Mir scheint es fast so als würde hier keine neuen Kommunikationsformen gesucht, sondern Urteile gefällt, Strafen erlassen, Machtbereiche abgesteckt. Die weg, wir rein, und dann wird alls anders, besser. Eine monumentale, verzweifelte Selbstzerfleischung einer sowieso gefährdeten Kunstform, geführt in digitalen Foren mit Wortgewalt und gnadenloser, verallgemeinernder Wut

Der Stücke-Kanon muß weg ist noch einer der harmlosesten Verbesserungsvorschläge. Kleist weg. Schiller weg. Shakespeare weg. Weil ihre Figuren nicht unserer positiven Erwartung an den modernen Menschen entsprechen. What the fuck? Die meisten Menschen entsprechen nicht unseren Erwartungen. Das ist die Freude unseres Berufes, zu versuchen Konstellationen und Biographien zu verstehen, die uns vollkommen fremd scheinen und sich letztendlich als bekannt entblößen.

"Wenn wir unsere Vergangenheit nicht kennen (verstehen), werden wir keine (bessere) Zukunft haben." Was in klarem Deutsch heißt, wir machen den selben Scheiß wieder und wieder.

Irgendwann geht mir in diesen Auseinandersetzungen die Kunst verloren. 

Ich bin ziemlich alt, weiß, jüdisch, weiblich und noch viele andere Dinge. Das heißt was? Ich sollte besser gar keine Meinung haben? Meine Meinung ist sowieso systemisch rassistisch? Mich mochten Leute nicht, weil mein Nachname sie ärgerte, oder weil ich eine laute Frau war, oder weil ich aus dem Osten war. So what the fuck?

Wie werden wir probieren, wenn wir nicht mehr angstfrei, grenzenlos spinnen können? 

Sind alle Ankläger Opfer, die in gerechter Wut aufbegehren? Welche Eigeninteressen spielen eine Rolle? Könnten wir uns darauf einigen, nicht grundsätzlich selbstgerecht zu sein?

Ich habe in meiner Zeit als Theaterarbeiter nicht den Eindruck gehabt, es ginge hier grundsätzlich anders zu, als in der übrigen Welt. Soziale Abhängigkeit und Unsicherheit führt zu Ungerechtigkeit und sind ein gewöhnlicher und immanenter Teil des kapitalistischen Systems, in dem wir alle leben. 

Sind wir sauer auf uns selbst, weil wir besser verdienen, wenn wir uns nicht ganz treu bleiben? Verkaufen wir unsere Besonderheit für Anwesenheit in der Presse? Sind wir neidisch? Haben wir unrealistische Ansprüche? Ist Opfer sein ein Alleinstellungsmerkmal?

Wollen wir Gerechtigkeit? Für jeden? Gibt es die? Wo? Wie?


Beide Bilder sind Ausschnitte eines Frescos an der Decke des Domes in Florenz.

6 Kommentare:

  1. Danke. Ein ehrlicher, fundierter Kommentar!

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  2. Ein Theater, kaputt gemacht durch bezahlte Amateure, oftmals schlecht ausgebildeten und vorbereiteten Nachwuchs, alte stinkende Flure und Strukturen, autorenfeindliches Verhalten, fehlendes Handwerk, zu viel Handwerk, unterdrückte echte Diskussion, fehlende Liebe zum Menschen aber der Überzeugtheit von schulmeisterlichen Botschaften, der Angst davor zu unterhalten, von fehlendem Verständnis für eigene und fremde Schwächen, abgekoppelt von gesellschaftlicher Realität, zutiefst ungerecht in der Verteilung der Mittel, schwankend zwischen Spieltrieb und Dummheit, Relevanzsehnsucht und Egoismus, angegriffen vom Spiegelbild der selbst verschuldeten Bedeutungslosigkeit, zerlegt durch Reinigungsversuche, die abgekoppelt von der Gesellschaft gar nicht funktionieren können, ausgenutzt und gemolken durch Gewinner, heiss geliebt, verehrt und gebraucht. Zersplittert von Ängsten. Im Irrtum Antworten geben zu müssen anstatt Fragen zu stellen. Voller Zärtlichkeit und Missverständnisse und voller Verletzung. Ständiges Kampfgebiet von Mittelmaß und Streben. Der Beginn von Atmung, Sehnsucht und die Einladung zu kollektiver Ausblutung. Es zerfetzt sich bis in die letzten Atome. Vielleicht um endlich wieder frei zu sein.
    Axel holst

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  3. Von Egomanen zum Ort der Selbstbespiegelung gemacht, kein Schutz für die, die den Beruf hart erlernt haben, von Stadtverwaltungen, die sich wie Duodezfürsten benehmen zum Spielball gemacht - und nur noch ganz selten der Ort, an dem sich die Polis versammelt, um über das menschliche Geschehen Geschichten zu hörebn, keine Katharsis, keine Kommunikation egal ob mit oder ohne 4.Wand. Entzauberung und streckenweise Laientheater als was? Paradigmenwechsel, weil der gemeinsame Vorrat mit Schiller, Goethe, Shakespear verbraqucht ist, weil wir denen soweit voraus sind? wir vergessen, dass wir auf deren Schultern stehen und wenn wir uns das wegstrampeln, verlieren wir den Halt. Es ist eine Nivellierung in einem größeren Zusammenhang, wie auch das Bilödungswesen, die Unterhaltungsmedien. Es ist eine4 Schande! Andreas Knaup, einst Schauspieler/Oberspielleiter/Schauspieldirektor und Operndirektor an diversen Theatern.

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  4. Wunderbar, Johanna, danke! Ich bin nicht allein!

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    1. Danke, aber wären Sie so freundlich bitte Ihren Namen zu nennen? Ich mag nicht anonyme Kommentare veröffentlichen.

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  5. Danke für diese Worte, Johanna. Ich musste erst im Ausland arbeiten um zu verstehen, was hier schief lief. Theater wird niemals sterben, es verändert seine Form um wiederzukommen. Vielleicht erhöht die Diskussion (selbst die überzogene) die Bereitschaft der Unterdrückten zu protestieren und zu sprechen. Das hat mich teils sehr gequält, zuzusehen wie Menschen vor Angst nicht den Mund auffliegen. Die Macht ist nur in unseren Köpfen! LG Andree Solvik

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