Freitag, 20. März 2020

Das C-Wort IV

Ich habe den Eindruck, dass dieses Übermaß an freier Zeit mein Gehirn langsam aufweicht. Gibt es eigentlich Studien über Isolationszeiten und IQ-Verlust? 
Der aktive Höhepunkt meines heutigen Tages war der Erwerb einer Flasche Desinfektionsmittel in der Apotheke meines Vertrauens. 
Wenn ich DRAUSSEN bin, weichen Menschen bei meinem Anblick ungelenk aus, ich tue desselben. Man will den Anderen nicht kränken, tut es aber doch. Er könnte der potentielle Infektor sein. Der Amazon-Bote eröffnet das Gespräch mit dem Hinweis auf seine Diabetes, die ihn angreifbar macht.
Habe ich Halsschmerzen? Nein. Huste ich? Ja. Aber nicht trocken. Nur mein üblicher Raucherhusten. Kein Fieber. Kein Verlust von Geschmacks- oder Riechfähigkeit. Ich bin, im pandemischen Sinn, gesund.
Schöne Telefonate mit Familie & Freunden, Pina Bauschs "Kontakthof" auf youtube, meine Bücher gesichtet und viele aussortiert. So ordentlich werden unsere Schränke, Gärten, Wohnungen wohl noch nie gewesen sein.
Die Nachrichten hämmern auf mich ein. Ich weiß, ich sollte ausschalten, kann mich aber nicht entschließen.
Das die Jungen weiterfeiern, kann ich noch irgendwie verstehen, auch ich dachte mit 18, dass ich unsterblich und immer im Recht bin. Aber Verkäuferinnen anspucken, weil sie die dritte Packung Toilettenpapier verwehren? Alte Leute anhusten unter "Corona, Corona" Rufen?
Ausgangsbegrenzungen, gar Ausgangssperren werden nun erwogen. Was heißt das für unsere Zukunft? Die Grenzen wurden bereits geschlossen, nun wird höchstwahrscheinlich auch noch unsere Bewegungsfreiheit extrem eingeschränkt. Ein Teil meines Hirns stimmt zu, weil ich möchte, dass so wenig Menschen wie möglich sterben. Der andere Teil erschrickt. Wenn das Gift der Allmacht erst geleckt wurde? Paranoia oder Realismus?
Und trotzalldem geht es mir so sehr gut, so unvergleichlich gut, im Vergleich zu anderen. Und das sind viele. Alle Bewohner der sogenannten "Dritten Welt", die der unzähligen Flüchtlinglager. 
Huren dürfen nicht mehr arbeiten, Schauspieler auch nicht. Kleine Filmtheater, Galerien, Kabretts, Clubs, Bars, Boutiquen, Theater, Museen, Opernhäuser, geschlossen, die Liste ist lang. Meine Vergnügungen, geschlossen.
Am Ende von diesem Irrsinn werde ich entweder nur noch Hildegard von Bingen Zitate kopieren oder ganz neu über die Welt denken. Who knows.
Was mir mächtig auf die angestrengten Nerven geht, sind die vielen kleinen Propheten der Apokalypse, die jetzt in den Medien den Moment ihrer Wichtigkeit gekommen sehen. Keiner von uns weiß genau, wie schlimm es wird. Oder wie gut es ausgehen wird. Selbstgerechtigkeit ist für mich eine der unangenehmsten menschlichen Eigenschaften. Die Freiheit von Zweifel, ist die Freiheit von Empathie und Widerspruch. Es ist diktatorisch. Und so lange es meine intellektuellen Fähigkeiten zulassen, verteidige ich mein Recht unsicher zu sein.
Und zum Abschluss einen ernstgemeinten Dank an alle, die weiterarbeiten, weil es notwendig ist, die mir, sollte es dazu kommen, helfen, damit ich überlebe.



2 Kommentare:

  1. Herr Detlef Zöllner schrieb:
    "Das mit den Verbkäuferinnen bespuckenden Kunden ist mir neu. Muß wohl eine berlintypische Verhaltensform sein. Ich lebe und arbeite auf dem Land, und hier genießen die Verkäuferinnen an den Supermarktkassen spätestens seit der letzten großen Ansprache der Bundeskanzlerin allerhöchste Wertschätzung. Bei meinem letzten Einkauf im REWE forderte mich die Verkäuferin an der Kasse auf, ihr den ‚Müll‘ aus meinem Einkaufswagen zu geben. Ich wollte gerade damit beginnen, die gekaufte Ware einzuräumen, und suchte irritiert den leeren Drahtkorb nach dem ‚Müll‘ ab, den sie meinte. Ich frage sie, ob sie vielleicht den einsamen Kassenbon meinte, der da in einer Ecke herumlag.

    „Ich gehe mal davon aus, daß er nicht von Ihnen ist!“, sagte sie streng.
    „Natürlich“, sagte ich, und da ich den Eindruck hatte, daß das nicht deutlich genug war, schob ich schnell noch eine Erläuterung hinterher:
    „Natürlich nicht! – Schließlich beende ich gerade erst meinen Einkauf und habe noch gar keinen Kassenbon, den ich in den Einkaufswagen legen könnte.“

    Die Verkäuferin nickte gnädig, nahm den Kassenbonmüll entgegen und wandte sich dann der nächsten Kundin zu: „Man sieht es den Leuten nicht an, daß sie ihren Abfall im Einkaufswagen zurücklassen. Das tun sogar welche, denen man das nie zutrauen würde!“
    Die Kundin hinter mir in der Schlange nickte eifrig und sagte etwas, das ich nicht mehr hörte, weil ich jetzt mit dem Beladen und dann mit Bezahlen beschäftigt war, um anschließend so schnell wie möglich das Weite zu suchen.

    Toilettenpapier hatte ich bei diesem Einkauf nicht mehr bekommen. Die Regale waren leergehamstert. Aber ich war ganz froh darüber, denn ich glaube, ohne eine peinliche Gewissensprüfung durch die Verkäuferin wäre ich mit meiner Packung nicht an ihr vorbeigekommen.

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  2. Und weiter Detlef Zöllner: In diesen Tagen, wo die Menschen zu sozialer Distanz angehalten sind und sich wegen geschlossener Geschäfte, Kinos, Theater, Kitas und Schulen auf ihren Haushalt beschränken, beobachte ich, wie Eltern mit ihren Kindern spazieren gehen und radfahren und wie die Kinder – wie schon erwähnt: ich wohne auf dem Land – auf der Straße vorm Elternhaus spielen und den Asphalt mit bunter Kreide bemalen. Die umfassende Betreuung der Kinder durch den Staat und in den Gemeinden vor Ort ist ausgesetzt, und die Eltern, die sonst zur Arbeit gehen mußten (und es zum großen Teil immer noch müssen), kümmern sich wieder selbst um ihre Sprößlinge.

    Es ist, als sei eine Zeit zurückgekehrt, die längst in der Vergangenheit versunken zu sein schien. Es ist meine Kindheit, die ich hier wiedererkenne, als die Gewerkschaften noch Kampagnen führten, um den Vater am Wochenende von der Arbeit freizustellen: „Am Samstag gehört mein Papi mir!“

    Eltern und Kinder sind dank der Corona-Krise nicht mehr rundum verplant und eingetaktet. Es ist eine Art Befreiung, die ich da sehe. Wirtschaft und Gesellschaft machen eine Pause. Für eine kurze Weile darf die Familie wieder Familie sein. Die Kinder werden wieder sichtbar.

    Das macht den Wirtschaftsbossen und den Politikern Sorgen. Was wenn die Menschen sich an den Konsumverzicht gewöhnen? Was wenn der Wirtschaftsmotor wieder anspringt, aber die Menschen machen nicht mehr mit und konsumieren einfach nicht mehr? – Davor wird schon jetzt gewarnt. In den USA sollen angeblich Gutscheine verteilt werden, damit die Menschen weiter shoppen gehen können und gar nicht erst auf den Gedanken kommen, daß sie schon genug haben und eigentlich nichts mehr brauchen.

    In unserer Schule, eine private Schule, hat die Schulleiterin versucht, trotz landesweiter Schulschließungen den Internatsbetrieb bis zu den Osterferien aufrechtzuerhalten. Als aber in einer Partnerschule ein Coronafall auftrat, wurden die meisten Kinder dann doch nach Hause geschickt. Jetzt werden nur noch einige wenige Schüler, die, die nicht abgeholt werden konnten, betreut. In der letzten Konferenz, in der wir Schulter an Schulter reihum an den Tischen saßen – von einer anderthalb-Meter-Abstand-Regel ist hier nichts bekannt – wurde das Kollegium von der Schulleiterin aufgefordert, nach außen hin Vollbeschäftigung zu simulieren. Die Kunden, also die Eltern, sollen nicht auf die Idee kommen, daß wir ‚auf der faulen Haut liegen‘ und die monatlichen Zahlungen einzustellen.

    Nach dem aktuellen Wochenende wird wohl eine allgemeine Ausgangssperre verhängt werden. Aber zur Arbeit wird man weiterhin gehen dürfen müssen. Auch wenn man dann Schulter an Schulter mit den Kollegen in Konferenzen sitzt, um beschäftigt sein zu simulieren. Auch home-office ist hier unbekannt."

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