Sonntag, 9. Juni 2019

Gustave Caillebotte - Regen - Stadt - Menschen

In der Alten Nationalgalerie hängen jetzt in einem Saal im ersten Stock Bilder aus der Sammlung eines wohlhabenden französischen Mäzens, Förderers der Impressionisten und ihrer Ausstellungen. Gemälde von Monet, Manet, Renoir, Bonnard und anderen hat er gekauft und einige der Maler auch sonst finanziell unterstützt. Und Segelboote hat er konstruiert. 

Und er hat selbst gemalt. Manchmal hat er mitausgestellt, manchmal nicht. Wenige kennen seinen Namen.
  
Und er hat selbst gemalt. Und wie! Ja, wie eigentlich? Sicher impressionistisch geprägt, aber doch anders. Strenger, härter konturiert, sachlicher, photographischer, sehr sparsam im Gebrauch von Farben. Als wollte er versuchen nur das Wesentliche seines Gegenstandes erfassen, sein Eigentliches. Alles andere läßt er weg. 

Eins seiner Bilder beherrscht den Raum, Straße in Paris – Regenwetter, Rue de Paris, temps de pluie, gemalt 1877.

Georges-Eugène Haussmann hatte in einem gigantischen Gewaltakt, Paris den Wünschen Napoleon III. und seiner Vorstellung von einer modernen Stadt angepaßt, ganze Viertel, meist Wohngebiete der ärmeren Bevölkerung wurden niedergerissen, 150 Kilometer Strassen neugebaut, Haussmannisierung nannte man diesen Gentrifikationsschlag. Zentren möglichen Aufruhrs wurden nebenbei aufgelöst, die Armen zogen in die Randgebiete, die waren dann 1871 auch Ausgangspunkte der kurzen, gloriosen, blutig niedergeschlagenen  Revolution von 1871. 
Paris-Zentral wurde geometrisiert und den Anforderungen des neuzeitlichen Verkehrs angepasst. Klare Winkel, gerade Linien, klassizistische Wohnhäuser für den oberen Mittelstand. Ein Stadtzentrum für den Bürger der modernen Zeit. Weg mit der Enge, weg mit dem Dreck, weg mit dem Gewachsenen, Verwachsenen. 
Egon Friedell beschrieb das neue Paris in seiner wunderbaren Kulturgeschichte der Neuzeit so: Ein getreues Abbild des Zweiten Kaiserreichs: fassadenhaft, niederschreiend, künstlich und parvenühaft.

 
Straße in Paris – Regenwetter. Hier sitzen die Zylinder noch sicher auf den Köpfen.

Ein Platz von dem mehrere Strassen abgehen, sehr sauber gelegtes Kopfsteinpflaster, eines der Eckhäuser ragt wie ein Ozeandampfer von hinten ins Bild. Die Rue de Turin und die nach links abzweigende Rue de Moscou, auch ist die Rue Capeyron zu sehen.Die Laterne halbiert das Bild, rechts vorn staut es sich, ein Paar mit Regenschirm, beide schauen in dieselbe Richtung und ein Mann, der ihnen ungesehen entgegenkommt und seinen Regenschirm zur Seite schiebt, um einen Zusammenstoß zu vermeiden, der dennoch unvermeidlich scheint. Der Ohrring der Dame, Perle oder Diamant, strahlt heller als irgendetwas anders im Bild.
Alle Regenschirme sind identisch. Die Menschen auch, bis auf den Ohrschmuck der Dame vorn rechts. 
Hinten regnet es, vorn sind Strasse und Schirme zwar nass, aber der Regen fehlt, weil er als gegeben angenommen werden kann, im hinteren Teil des Bildes erschafft die Unschärfe den Eindruck von fallendem Regen. Ganz hinten links läuft ein einzelner Mann ohne Regenschirm, geduckt ob der Nässe. Ein Mann mit Zigarillo, eine halbe Kutsche, mittelgroße und ganz kleine Schirme. Man läuft. Wohin?

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Jakob van Hoddis 1911

Alle Männer tragen im Bild einen Zylinder: Wiki schreibt: Populär wurde der Zylinderhut erst in den 1820ern, als er zum Hut des Bürgers avancierte, sogar zum Symbol des Bürgertums schlechthin: So weigerte sich Adolph Menzel bei der Verleihung des preußischen Adlerordens – umgeben vom uniformierten Hochadel – aus Bürgerstolz, seinen Zylinder abzunehmen. 
Was sehen die beiden großen Figuren im Vordergrund? 
Man ist wohl sehr einsam in einer großen Stadt, wenn es regnet. 
Ein Regenschirm hat eine Rundung, die eigentlich gegen harte Linien steht und doch selbst, in der Wiederholung diese verstärkt. 
Der Maler war zum Zeitpunkt der Entstehung 29 und ist mit nur 45 Jahren am Schlaganfall gestorben. Da hatte er fünfhundert Bilder gemalt, und unzählige Vorstudien präzis gezeichnet. 

Place Saint-André-des-Arts. c. 1865. 
© Charles Marville Marville/Musée Carnavalet/Roger-Viollet/The Image Works.
Ende der 1850er Jahre beauftragte die Stadt von Paris Marville, die alten Viertel der Stadt zu dokumentieren. Er fotografierte Neu- und Umbauten, aber auch viele alte Straßen und Gebäude vor ihrer Zerstörung.

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