Sonntag, 25. März 2018

Terra Incognita in Cottbus

Menschen in schwarzen Uniformen, den Kopf und die Hälfte des Gesichts verdeckt, ISIS-Assoziationen kommen auf, trommeln sich eine Viertelstunde hochpräzise in Ekstase, dann ertönt die Schlußrede aus dem "Großen Diktator" *, gefühlvolle Musik wird eingespielt, die Trommler legen ihre Kopfverhüllungen ab, treten langsam an die Rampe, schauen uns an, legen die Arme um die Schulter ihres Nachbarn, manche umarmen sich.
So endete der heutige Theaterabend in Cottbus. Terra Inkognita - Choreographisches Figurentheater von Jo Fabian.
Ist es mein durch schwierige Osterfahrungen geprägtes Mißtrauen gegenüber gutgemeinten moralischen Utopien, das mich zurückschrecken ließ? Ich habe unwillkürlich geprustet, hysterisches Gurgeln würde es auch beschreiben. Bin ich pessimistisch, gar zynisch oder ist solch ein Aufruf doch allzu harmlos und simpel für die Welt, in der wir alle leben?
Meine erste Begenung mit Jo Fabian hatte ich vor vielen Jahren in Dresden. Ein kleines Theater, ein toller Abend. Alle Spieler auf der leeren Bühne hatten zierliche Melkschemmel umgeschnallt, was ihre Wechsel vom Stehen zum Sitzen und vice versa großartig überraschend machte. Ich erinnere mich an den Eindruck einer neuen Erfahrung von Komposition von Klängen und Bewegungen.  Jahre später "Die Weber" in Halle. Hypnotisch, gedehnt, Bilder von exotischer Schönheit. 
Heute abend wußte ich vieles vorher, Zitate überwogen - Marthalers Musikalität, Trommelnummern, ehemals waghalsige Impro-Übungen der östlichen Schauspielausbildung. 

 
"Haben wir Menschen unseren Blick zu lange nach außen gerichtet, die Blicke auf die unbekannten Gebiete in uns selbst vernachlässigt und zu wenig über uns selbst erfahren?"
Jo Fabian zu "Terra Icognita
 
Was ist dieses INNEN?

Frau Piekenbrock (Volksbühne) benennt es so: Besagte Irritation führt... sie... darauf zurück, dass die geladenen Künstler ihre Zuschauer "ins Jenseitige" einladen: jenseits des Verstandes, des Hörbaren, des Sehbaren."
Denken soll ich nicht. Hören und Sehen auch nicht?
Ich will denken dürfen! Sehen und Hören und Widersprüche ertragen.

Bei "Murx den Europäer! / Murx ihn! / Murx ihn! Murx ihn! / Murx ihn ab!" war ich fast brüskiert, wie gut ein Schweizer meine schreckliche, öde DDR beschrieb.

Irgendwas geht am Theater vor, dass mich ängstigt. Innenschau anstatt Irritation. Privatismen ersetzen Gesellschaftskritik. 

Im Teil 2 des heutigen Abends trafen sich Klischees der deutschen Innenschau, der Jude, der Pfarrer, die hysterische Frau, der islamistische Fremde, der Arbeiter etc. aufeinander. Der Jude jiddelte eher schlecht als recht.

Der 16. Januar 1993. Vor zehn Jahren hatte an der Volksbühne dieses Unding Premiere, ein Findling des Berliner, des deutschsprachigen, ja des Welt-Theaters: „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!“ So hieß das. Den Regisseur Christoph Marthaler kannten damals erst wenige, und noch viel weniger bekannt (und tief vergessen) war der Namensgeber Paul Scheerbart, der 1915 in Berlin gestorbene literarische Fantast und Schwerenöter, aus dessen „Indianerlied“ dieser endlose schöne Theater-Titel stammt. Heute Abend findet nun die 169. Vorstellung in nahezu unveränderter Originalbesetzung statt – und „Murx“ ist lange schon ein kultisches Ereignis, wie vielleicht nur Heiner Müllers unaufhaltsamer „Arturo Ui“ am Berliner Ensemble. Wie auch Frank Castorfs Volksbühne als Gesamtkunstwerk: enigmatisch, praktisch, unersetzlich.
https://www.youtube.com/watch?v=thCMlPYe2I0 

*Jeder Mensch sollte dem Anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt! Wir sollten am Glück des Anderen teilhaben und nicht einander verabscheuen. Hass und Verachtung bringen uns niemals näher! Auf dieser Welt ist Platz genug für jeden und Mutter Erde ist reich genug, um jeden von uns satt zu machen.
Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein, wir müssen es nur wieder zu leben lernen! Die Habgier hat das Gute im Menschen verschüttet und Missgunst hat die Seelen vergiftet und uns im Paradeschritt zu Verderb und Blutschuld geführt. Wir haben die Geschwindigkeit entwickelt, aber innerlich sind wir stehen geblieben. Wir lassen Maschinen für uns arbeiten, und sie denken auch für uns. Die Klugheit hat uns hochmütig werden lassen und unser Wissen kalt und hart, wir sprechen zu viel und fühlen zu wenig, aber zuerst kommt die Menschlichkeit und dann die Maschinen! Vor Klugheit und Wissen kommt Toleranz und Güte! Ohne Menschlichkeit und Nächstenliebe ist unser Dasein nicht lebenswert!
Aeroplane und Radio haben uns einander näher gebracht, diese Erfindungen haben eine Brücke geschlagen von Mensch zu Mensch, sie erfordern eine umfassende Brüderlichkeit, damit wir alle eins werden. Millionen Menschen auf der Welt können im Augenblick meine Stimme hören, Millionen verzweifelte Menschen, Opfer eines Systems, das es sich zur Aufgabe gemacht hat Unschuldige zu quälen und in Ketten zu legen. Allen denen, die mich jetzt hören, rufe ich zu: Ihr dürft nicht verzagen! Auch das bittere Leid, das über uns gekommen ist, ist vergänglich! Die Männer, die heute die Menschlichkeit mit Füßen treten, werden nicht immer da sein, ihre Grausamkeit stirbt mit ihnen und auch ihr Hass! Die Freiheit, die sie den Menschen genommen haben, wird ihnen dann zurückgegeben werden. Auch wenn es Blut und Tränen kostet, für die Freiheit ist kein Opfer zu groß!

Charlie Chaplins Schlußrede im "Großen Diktator"

12 Kommentare:

  1. Matthias Richter25. März 2018 um 10:10

    Vielleicht ist es manchmal einfach. Vielleicht sind die wichtigen Dinge simpel. Und vielleicht ist es gut auf einer Bühne daran erinnert zu werden?

    Gestern sind Millionen Menschen zusammen marschiert damit die USA endlich die Chance bekommt auf vernünftige Waffengesetze. Auf der ganzen Welt, von Australien bis München.
    Weil Teenager die Nase voll hatten und es einfach angezettelt haben.

    "Kindermund tut Wahrheit kund."
    Diese Wahrheiten sind immer einfach. Kinder denken nicht kompliziert, deswegen sind sie so wahr. Sie fragen sich auch nicht, ob etwas eine Utopie ist, sie finden es einfach richtig so und basta.
    Und was machen Erwachsene? Sie komplizieren, sie zweifeln, sie prusten. Sie geben sich Mühe komplexe Probleme mit komplexen Lösungen anzugehen.
    Anstatt einfach das einfachste zu machen oder auch nur das einfachste zu denken.
    Manchmal glaube ich, dass mit zunehmendem Alter das Vergnügen an Problemen wächst. Es wächst heimlich. Weil man so stolz darauf ist kompliziert denken zu können, also tut man's auch.
    Und bringt es auf die Bühne, vielschichtig, problematisch, auseinandergesetzt.
    So füttert man Probleme statt Lösungen und kapiert nicht mehr, dass es so einfach sein könnte, wenn man es einfach tun würde.
    Das hat nix mit Osterfahrung zu tun.
    Das hat was damit zu tun einfach nicht mehr zu glauben, dass es so einfach ist.

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  2. Im privaten Dialog könnten Sie recht haben. Aber wenn es global so einfach wäre, warum ist die Welt dann wie sie ist? Ich mag nicht glauben, dass ich Komplikationen den einfachen Lösungen vorziehe. sondern befürchte eher, dass die ökonomischen und machtpolitischen Spieler keinerlei Sympathie für unsere Hoffnungen haben.

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  3. Matthias Richter25. März 2018 um 11:30

    Warum ist wichtig, ob die globalen Spieler Sympathie für Hoffnungen haben? Gibt diese Überlegungen ihnen nicht genau die Macht, die sie zu globalen Spielern macht?
    Die Engländer beherrschten das Commonwealth of Nations und die Inder haben es akzeptiert - bis...
    Deutschland war getrennt und selbst 40 Jährige kannten das nicht anders - bis...
    Schwarze waren mal 3/5 so viel wert wie Weiße und das war schon der Kompromiss - bis...
    Diese Liste könnte lang werden, aber das Prinzip wird klar.
    Zwei Schlüssel müssen zusammen kommen.
    Viele müssen aufhören zu denken, dass es Schicksal ist, dass ihre Belange von wenigen bestimmt werden. Und dann ändern sie die Welt.
    Das Problem ist die Einigkeit und die Realisierung des möglichen.
    Wenn beides zusammen trifft ist nichts eine Utopie.
    Die Welt ist wie sie ist, weil einzelne zu viel zweifeln bevor sie genug werden um alles zu werden.
    So einfach.

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  4. Ich wünsche, dass Sie recht haben.

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  5. Matthias Richter25. März 2018 um 12:24

    Ich habe recht. Ich weiß das, weil die Vergangenheit das erzählt.
    Und weil die Vergangenheit das erzählt ist es wichtig nicht aufzuhören ihr zu glauben. Veränderung ist nur möglich, wenn man die Fähigkeit in sich behält an sie zu glauben.
    Wenn man sie verliert wird Veränderung unmöglich.

    Ihre global player sind für Hoffnung unerheblich. Sie haben eine Schwäche. Und Sie haben sie sogar benannt. Ökonomie und Macht. In Demokratien gibt es dafür zwei Werkzeuge. Die Brieftasche und den Stimmzettel. Und wenn genug Menschen beides gezielt nutzen sind Politiker wie Weltkonzerne hilflos.
    Wieder - Einigkeit und Bewusstsein. Beides wird immer zusammengeführt durch ein Momentum. Aber das kann nur funktionieren, wenn man daran glaubt, dass etwas möglich ist. Wenn man es in Frage stellt, ohne es auszuprobieren, dann ist es verloren.
    Wenn man Lösungen ablehnt, weil sie zu einfach scheinen - wie findet man heraus, wie viele Chancen man gerade verpasst?
    Ich will nicht ihren Großvater gegen Sie verwenden. Passiert Ihnen sicher öfter und Sie sind davon wahrscheinlich genervt, aber das ist zu gut:
    Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

    Was ich nicht versuche wird nicht geschehen. Wenn Sie aufhören an Veränderungen zu glauben, weil sie einfach sind, dann berauben Sie sich des Vergnügens herauszufinden, ob es so einfach gewesen wäre. Und das gilt für jeden Menschen.
    Einfach zu denken ist eine Kunst, die Wertschätzung eingebüßt hat. Und wahrscheinlich meistens die Lösung.

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  6. Das einfache Denken funktioniert nur, wenn es die Menschen selbst sind, die das Einfache denken; und wenn sie es sich nicht von Populisten abnehmen lassen, einfache Forderungen zu stellen. Denn das wäre noch einfacher für alle. Nur daß eben nicht alles, was einfach ist, zugleich auch richtig ist. So wenig wie alles, was kompliziert ist, richtig ist, nur weil es kompliziert ist.

    Denken hat etwas damit zu tun, herauszufinden, wo der Unterschied ist zwischen dem, was wir verändern können, und dem, was wir nicht verändern können, um dann das eine zu tun und das andere zu ertragen, ohne zu verzweifeln.

    Ich weiß, daß unsere jetzige Wirtschafts- und Lebensweise den Planeten ruiniert und die Zukunft des Menschen zerstört. Das zu wissen, ist einfach. Aber weiß ich deshalb schon, durch welche Wirtschafts- und Lebensweise wir sie ersetzen müssen? Und vor allem: wie das auf möglichst gewalt- und verlustfreie Weise umzusetzen wäre?

    Zu wissen, daß es so nicht weitergeht, ist einfach. Aber angesichts von 7 Milliarden Menschen wird alles äußerst kompliziert.

    Wir kommen nicht drumrum, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und auch das ist etwas, was an Wertschätzung eingebüßt hat.

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  7. Matthias Richter25. März 2018 um 15:05

    Ich teile Ihre Ansicht, dass wir unseren Planeten überbevölkern und auf diese Weise Probleme erschaffen. Es gibt Studien, wonach die ideale menschliche Population mit 3,5 Millarden angegeben wird.
    Der Drops ist also gelutscht.
    Ich teile Ihre Abneigung gegen Populismus. Ich sehe aber einen Unterschied zum einfachen Denken, wie ich es meine. Populismus teilt. In schwarz und weiß, gut und schlecht, das Volk und die Eliten, wir und die.
    Auch das ist einfach gedacht, aber instrumentalisiert um Vorteil, Gunst, Geld oder Macht zu erlangen.
    Das einfache Denken, das ich meine, teilt auch. Nicht im Sinne von trennen, sondern im Sinne von verteilen. Einfach gedacht: wenn wenige weniger wollen, haben alle mehr.
    Das betrifft Ressourcen. Das betrifft aber auch Macht. Einfluss wird gerechter, wenn er geteilt wird, je mehr, desto mehr. Das betrifft auch Rechte und Freiheiten. Wenn Privilegien geteilt werden entsteht Gleichheit.
    Inhaber von Geld, Macht, Ressourcen, Rechten und Privilegien sind ungern geneigt von sich aus zu teilen. Ihre Position aber ermöglicht sich durch die Uneinigkeit der meisten, durch die Untätigkeit der vielen.
    Kein Politiker einer Demokratie kann ohne Stimmen regieren, kein Konzern ohne Käufer agieren und niemand kann eine Masse beherrschen unter Rechtevorbehalt, wenn sie sich weigert.
    Teile und herrsche ist ein uraltes Erfolgsprinzip. Veränderungen entstehen, wenn das teilen nicht mehr funktioniert. Denn dann endet der Gehorsam, der aus Untätigkeit und Vereinzelung entsteht.
    Dreh- und Angelmomente der Geschichte waren immer die Zeitpunkte an dem genug Menschen genug Gemeinsamkeit entdeckt haben um handeln zu wagen.
    Ein utopischer Gedanke: statistisch verdient jede Frau so viel weniger als ein Mann in gleicher Beschäftigung, dass sie bis zum 18. März jeden Jahres umsonst arbeitet.
    Stellen Sie sich vor eines Tages gehen 80% aller Frauen am 1.Januar in Generalstreik und kündigen an erst wieder am 18.März zu arbeiten. Deutschland käme zum erliegen, in der Politik wäre die Hölle los und was glauben Sie wie schnell wir gleiche Gehälter hätten?
    Es wird nicht passieren, die 80% kriegt man nicht zusammen.
    Aber im Kern wäre es ganz einfach.
    Utopien zeigen schafft ein Bewusstsein für diese Einfachheit. Es hilft in einzelnen den Gedanken zu wecken, dass man ein Unterschied sein könnte.
    Und, um das Thema des Eingangsbeitrags aufzugreifen, warum sollte die Bühne das nicht versuchen und eine utopische Geschichte erzählen?



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  8. Matthias Richter25. März 2018 um 21:56

    Mir ist noch eine Anekdote eingefallen, zum Thema einfach mal nicht kämpfen und umarmen.
    Vor einigen Wochen. Meine Tochter, 9 Jahre, liegt mit unserem Hund auf dem Teppich und und kuschelt den zufriedenen Vierbeiner.
    Plötzlich, aus dem Nichts, sagt sie:
    "Ich glaube nicht, dass Hunde Krieg führen würden."
    Ich überlege kurz, dann kommt der Naturwissenschaftler in mir durch und ich wende ein, dass manche Affen andere Affen von anderen Gruppen jagen würden.
    Sie überlegt kurz, dann sagt sie:
    "Die sind ja auch wie wir, die sind zu klug geworden."

    Kinder sind Volltreffer. Problem erfasst.

    Ich wünsche Ihnen allen noch einen schönen Abend.

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  9. Mit allem Respekt vor Ihrer Tochter: so klug scheinen wir doch nicht geworden zu sein. Es sind nicht die Unschuldigen, gewissermaßen noch durch den Garten Eden Wandelnden, die das Einfache für sich gepachtet haben. Denn wie soll man Trumps Idee bezeichnen, daß man die Lehrer bewaffnen soll?
    Als schrecklich einfach.
    Ich bin jetzt übrigen zwei Wochen offline. Frohe Ostern!

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  10. Matthias Richter26. März 2018 um 11:30

    Kriege erfordern konzeptionelles, strategisches und erfinderisches Denken.
    Kriege führen kann man erst ab einer gewissen Entwicklungsstufe. Wir sind inzwischen gut darin. Schon eine Weile. Wir können uns alle mehrfach auslöschen.
    Also sind wir klug genug um Krieg zu führen und nicht klug genug es lassen zu können.
    Doch, doch, sie hat schön recht, das bedeutet wir sind zu klug geworden - ohne klug zu sein.
    Schöne Ostern.

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