Donnerstag, 25. Mai 2017

GEDICHTE - 1

Ein Gedicht ist ein relativ kurzer literarischer Text, in dem Sprache gereimt und in Versen organisiert oder auch völlig frei eingesetzt wird, um eine künstlerische Aussage zu machen oder eine bestimmte ästhetische Wirkung zu erzielen.

Andreas Gryphius
An sich selbst - XLVIII

Mir grauet vor mir selbst / mir zittern alle Glider
Wenn ich Lipp' und Nas' und beyder Augen Klufft /
Die blind vom Wachen sind / des Athems schwere Lufft
Betracht' / und die nun schon erstorbnen Augen-Lieder.
Die Zunge / schwartz vom Brand fällt mit den Worten nider /
Vnd lalt ich weiß nicht was; die müd e Seele rufft /
Dem grossen Tröster zu / das Fleisch reucht nach der Grufft /
Die Aertzte lassen mich / die Schmertzen kommen wider /
Mein Cörper ist nicht mehr als Adern / Fell'/ und Bein.
Das Sitzen ist mein Tod / das Ligen meine Pein.
Die Schenckel haben selbst nun Träger wol vonnöthenl
Was ist der hohe Ruhm / und Jugend / Ehr und Kunst?
Wenn dise Stunde kompt: wird alles Rauch und Dunst.
Vnd eine Noth muß uns mit allem Vorsatz tödten.

Jakob Michael Reinhold Lenz

Wo bist du itzt

Wo bist du itzt, mein unvergeßlich Mädchen,
Wo singst du itzt?
Wo lacht die Flur, wo triumphiert das Städtchen,
Das dich besitzt?

Seit du entfernt, will keine Sonne scheinen,
Und es vereint
Der Himmel sich, dir zärtlich nachzuweinen,
Mit deinem Freund.

All unsre Lust ist fort mit dir gezogen,
Still überall
Ist Stadt und Feld. Dir nach ist sie geflogen,
Die Nachtigall.

O komm zurück! Schon rufen Hirt und Heerden
Dich bang herbei.
Komm bald zurück! Sonst wird es Winter werden
Im Monat Mai.

 
Johann Wolfgang von Goethe

Wandrers Nachtlied

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.


Friedrich Hölderlin

Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.


(Hermann) Ferdinand Freiligrath

O Lieb, solang du lieben kannst!

O lieb, solang du lieben kannst!
O lieb, solang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst! 

 
Und sorge, daß dein Herze glüht
Und Liebe hegt und Liebe trägt,
Solang ihm noch ein ander Herz
In Liebe warm entgegenschlägt! 


Und wer dir seine Brust erschließt,
O tu ihm, was du kannst, zulieb!
Und mach ihm jede Stunde froh,
Und mach ihm keine Stunde trüb! 


Und hüte deine Zunge wohl,
Bald ist ein böses Wort gesagt!
O Gott, es war nicht bös gemeint, -
Der andre aber geht und klagt.


O lieb, solang du lieben kannst!
O lieb, solang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst! 


Dann kniest du nieder an der Gruft
Und birgst die Augen, trüb und naß,
- Sie sehn den andern nimmermehr -
Ins lange, feuchte Kirchhofsgras. 


Und sprichst: O schau auf mich herab,
Der hier an deinem Grabe weint!
Vergib, daß ich gekränkt dich hab!
O Gott, es war nicht bös gemeint! 


Er aber sieht und hört dich nicht,
Kommt nicht, daß du ihn froh umfängst;
Der Mund, der oft dich küßte, spricht
Nie wieder: Ich vergab dir längst! 


Er tat's, vergab dir lange schon,
Doch manche heiße Träne fiel
Um dich und um dein herbes Wort -
Doch still - er ruht, er ist am Ziel! 


O lieb, solang du lieben kannst!
O lieb, solang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst.


Heinrich Heine

XXXIII

Sie liebten sich beide, doch keiner
Wollt es dem andern gestehn;
Sie sahen sich an so feindlich,
Und wollten vor Liebe vergehn.

Sie trennten sich endlich und sahn sich
Nur noch zuweilen im Traum;
Sie waren längst gestorben,
Und wußten es selber kaum.


Stefan George

Es lacht in dem steigenden Jahr dir

Es lacht in dem steigenden Jahr dir
der Duft aus dem Garten noch leis.
Flicht in dem flatternden Haar dir
Eppich und Ehrenpreis.

Die wehende Saat ist wie Gold noch,
vielleicht nicht so hoch mehr und reich.
Rosen begrüßen dich hold noch,
ward auch ihr Glanz etwas bleich.

Verschweigen wir, was uns verwehrt ist;
geloben wir, glücklich zu sein,
wenn auch nicht mehr uns beschert ist
als noch ein Rundgang zu zwein




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