Freitag, 30. Dezember 2016

Neil Young in Konschtanz

Dieses Theater hier hat ungewöhnlich viele Spieler, die verblüffend gut singen können, und hat eine coole Band, deren Bandleader ein gitarrespielender & singender Schauspieler ist. Letztens in einem Johnny Cash-Abend und heute in einem über Neil Young. So weit, so sehr gut.

The Needle and the Damage Done Neil Young

Johnny Cash habe ich spät für mich entdeckt, eigentlich erst mit den "American" Alben, genauer mit "Hurt", einem Nine Inch Nails Cover der herzzerbrechenden Art, ein alter Mann, dessen überaus geliebte Frau gestorben ist, wünscht sich die Fähigkeit zurück, Schmerz zu empfinden.

I hurt myself today
To see if I still feel
I focus on the pain
The only thing that's real
The needle tears a hole
The old familiar sting
Try to kill it all away
But I remember everything

What have I become
My sweetest friend
Everyone I know goes away
In the end
And you could have it all
My empire of dirt
I will let you down
I will make you hurt


HURT Johnny Cash

Erst danach habe ich mich rückwärts vorgearbeitet zum "Folsom Prison Blues" und "Jackson" etc. und viel Spaß dabei gehabt. ("Walk The Line", die verfilmte Liebesgeschichte von John und June Carter ist schon wegen Joaquin Phoenix ansehenswert - ich sage nur, Kindermörderaugen.)

Neil Young ist eine ganz andere Angelegenheit, Neil Young ist meine ganz persönliche musikalische Jugend. Die Texte der Lieder, die ich in diesem Lebensabschnitt (Was für ein fürchterliches Wort.) gehört und geliebt habe, kann ich bis zum heutigen Tag auswendig, die Melodien sind Teil meines Körpergedächtnisses. 
"Abbey Road", ein gutes Geschenk meines blöden amerikanischen Onkels, Jethro Tulls "Thick as a Brick" auf dem transportablen Jugendweihe-Kassettenrekorder, nachts in einem Ruderboot auf dem Scharmützelsee sitzend, überspielt von meiner Jugedliebe, und dann ein Film, ein Hollywoodfilm, der 1970 den Jurypreis in Cannes gewann und den in den USA keiner kennt und auch sonst nirgendwo niemand, nur unter den versprengten Resten der Bürger eines kleinen, fiesen Staates, der DDR hieß, hat er einen zärtlichen Erinnerungsplatz. "Blutige Erdbeeren" war der eingedeutschte Titel, "Strawberry Statement" der originale. Das deutsche Klugscheißerproblem bei der Übersetzung von Filmtiteln gab es also schon in der DDR.

Eine Universität ist definitiv keine demokratische Einrichtung. Wenn hier angefangen wird, Entscheidungen demokratisch zu fällen, werde ich nicht länger bleiben. [...] ob Studenten für oder gegen einen Erlass stimmen, das ist, als würden sie mir erzählen, sie mögen Erdbeeren.
1968 Prof. Herbert Deane stellvertretender Dekan an der Columbia University

In einer Arbeit von Jörg Schweinitz für die Universität von Zürich finde ich folgende Fakten, nur Amazon.de führt diesen Film und wenn man dann unter:

Kunden, die Blutige Erdbeeren gekauft haben, bestellten auch sucht, erhält man folgende Angaben: 
- zwei Musik-DVDs – zum einen "Stern-Combo Meissen, Electra, Lift: Sachsendreier Live" und zum anderen "Folk Blues Best von Stefan Diestelmann";
- das Buch "Bye Bye Lübben City" Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR;
- den Spielfilm "Die Legende von Paul und Paula" (Heiner Carow, DDR 1973)
..... Diese Produktreihe hat eine fur den ‹westlichen Blick› verborgene, aber dennoch eindeutige Logik. Die gesamte Sortierung, die – glaubt man Amazon – durch die spontane Kombinatorik des Kaufverhaltens entstanden ist, gehort zur Erinnerungswelt jener Deutschen, die in den fruhen 1970er Jahren ihre Jugend in der DDR erlebt haben. ..... Fragt man Ostdeutsche, die zu jener Zeit zwischen 15 und 25 Jahre alt waren, so wird man kaum Eine oder Einen ohne Erinnerung an ihn treffen.  


Kein Mensch kennt den Film außer ein paar Ossis, und da auch nur die, die  zwischen 1950 und 1960 geboren wurden. Das ist doch mal ein Alleinstellungsmerkmal! Und genau davon bin ich einer und weiß noch, wie ich beim ersten Ansehen atemlos im Kino saß, beim zweiten Mal versucht habe, den Soundtrack mit meinem Kassettenrekorder mitzuschneiden.
Pst! And turn round and round Pst! Helpless Pst! Give Peace a Chance Pst! 

Und beim dritten Mal war es ein Uhr dreissig nachts während der Weltfestspiele in Berlin und unsere Regierung hatte eine Sondervorstellung im Kino "International" bewilligt, wegen zu großen Andrangs. Unfassbar!
 
Ein sentimentaler Film über revoltierende Studenten in Amerika mit einer hinreißenden Zweier-Fahrradfahrt (Nur die in "Butch Cassidy and the Sundance Kid ist schöner.) und dem wunderbarsten, stimmigsten und uns, diese DDR-Kinder, überwältigendem Soundtrack, den ich bis dahin gehört hatte. Buffy Saint Marie und CSN (Crosba, Stills &Nash) und Jefferson Airplane und John Lennon.
Die Platte habe ich 1991 gekauft. 
Was sind wir doch für Konglomerate von Zufällen und Zeitgeist und Musik!  

Wie ein anderer DDR-Bürger "Blutige Erdbeeren" erlebte 

5 Kommentare:

  1. "I am I said"... Gänsehautsong meiner Jugend! Oh, so sehr!

    Cash ging an mir lange vorbei. Aber 1995 bekam ich eine Kassette mit ihm, von einer Kollegin. Das brachte ihn mir näher. Und ja, es war die Interpretin des Abends in dem Du vor kurzem gesessen hast. :)

    Und Du hast recht... Musik kann eine Zeitkapsel sein. Und wenn wir sie hören wird sie zur Zeitmaschine.

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  2. Liebe, den Abend der DER Interpretin hab ich leider noch nicht sehen können! Aber hoffentlich bald, dann mag ich Cash sicher noch mehr.

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  3. Es gibt einen Cash-Abend OHNE diese Interpretin???
    Das ist schlichtweg undenkbar... :)
    Ich gestehe, ich habe ihn auch noch nicht gesehen.
    Aber ich bin sehr sicher, dass dieser Abend ein Paradebeispiel dafür ist, dass wunderbar wird, was man mit ganzem Herzen tut.

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  4. Du hast sicher recht. Aber der Kerl in Konstanz ist auch so ein Liebender.

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  5. Ah... okay, JETZT habe ich den Satz korrekt:
    "Letztens in einem Johnny Cash-Abend und heute in einem über Neil Young. So weit, so sehr gut."
    ICH hab ihn so gelesen, dass DU letztens in einem Cash-Abend warst und gestern im Neil Young-Abend des Konstanzer Kollegen. Er hat aber beide Abende auf die Bühne gelegt.
    Schon komisch, was mein Kopf manchmal aus Sätzen macht. Muss damit zusammenhängen, dass ich Cash-Abende subjektiv automatisch nördlich verorte.
    Und ja, Musikliebende, die mit ihrer Gitarre eine Bühne betreten und die Pralinen zu Gehör bringen, die sie sich selber ausgesucht haben... da können nur erlebenswerte Abende bei herauskommen. Egal, ob am Bodensee oder an der Ostsee.

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