Sonntag, 13. September 2015

Ein Brief über den Tod - Rilke



Ach, wenn man's annehmen könnte, grad so wie's geschrieben ist.


Rainer Maria Rilke an Gräfin Margot Sizzo-Noris-Crouy

Château de Muzot sur Sierre, am Dreikönigstag 1923

 

...

Ich werf es allen modernen Religionen vor, dass sie ihren Gläubigen Tröstungen und Beschönigungen des Todes geliefert haben, satt ihnen Mittel ins Gemüt zu geben, sie mit ihm zu vertragen und zu verständigen. Mit ihm, mit seiner völligen, unmaskierten Grausamkeit: Diese Grausamkeit ist so ungeheuer, dass sich gerade bei ihr der Kreis schließt: Sie führt schon wieder an das Extrem einer Milde, die so groß, so rein und so vollkommen klar ist [aller Trost ist trübe!], wie wir nie, auch nicht im süßesten Frühlingstag, Mildigkeit geahnt haben. Aber zur Erfahrung dieser tiefsten Milde, die, empfänden sie nur einige von uns mit Überzeugung, vielleicht alle Verhältnisse des Lebens nach und nach durchdringen und transparent machen könnte: zur Erfahrung dieser reichsten und heilsten Milde hat die Menschheit niemals auch nur die ersten Schritte getan, – es sei denn in ihren ältesten, arglosesten Zeiten, deren Geheimnis uns fast verloren gegangen ist. Nichts, ich bin sicher, war je der Inhalt der „Einweihungen“, als eben die Mitteilung eines „Schlüssels“, der erlaubte, das Wort „Tod“ ohne Negation zu lesen; wie der Mond, so hat gewiss das Leben eine uns dauernd abgewendete Seite, die nicht sein Gegenteil ist, sondern seine Ergänzung zur Vollkommenheit, zur Vollzähligkeit, zu der wirklichen heilen und vollen Sphäre und Kugel des Seins.

Man sollte nicht fürchten, dass unsere Kraft nicht hinreichte, irgendeine, und sei es die nächste und sei es die schrecklichste Todeserfahrung zu ertragen; der Tod ist nicht über unsere Kraft, er ist der Maßstrich am Rand des Gefäßes: Wir sind voll, sooft wir ihn erreichen – und das Voll-sein heißt [für uns] Schwer-sein … das ist alles – Ich will nicht sagen, dass man den Tod lieben soll; aber man soll das Leben so großmütig, so ohne Rechnen und Auswählen lieben, dass man unwillkürlich ihn [des Lebens abgekehrte Hälfte]} immerfort mit einbezieht, ihn mitliebt – was ja auch tatsächlich in den großen Bewegungen der Liebe, die unaufhaltsam sind und unabgrenzbar, jedesmal geschieht! Nur weil wir den Tod ausschließen in einer plötzlichen Besinnung, ist er mehr und mehr zum Fremden geworden, und da wir ihn im Fremden hielten, ein Feindliches.

Es wäre denkbar, dass er uns unendlich viel näher steht, als das Leben selbst … Was wissen wir davon?! Unser effort [dies ist mir immer deutlicher geworden mit den Jahren, und meine Arbeit hat vielleicht nur noch den einen Sinn und Auftrag, von dieser Einsicht, die mich so oft unerwartet überwältigt, immer unparteiischer und unabhängiger … seherischer vielleicht, wenn das nicht zu stolz klingt … Zeugnis abzulegen], … unser effort, mein ich kann nur dahin gehen, die Einheit von Leben und Tod vorauszusetzen, damit sie sich uns nach und nach erweise. Voreingenommen, wie wir es gegen den Tod sind, kommen wir nicht dazu, ihn aus seinen Entstellungen zu lösen … glauben Sie nur, liebe gnädigste Gräfin, dass er ein Freund ist, unser tiefster, vielleicht der einzige durch unser Verhalten und Schwanken niemals, niemals beirrbare Freund … und das, versteht sich, nicht in jenem senitmentalisch-romantischen Sinn der Lebensabsage, des Lebens-Gegenteils, sondern unser Freund, gerade dann, wenn wir dem Hier-Sein, dem Wirken, der Natur, der Liebe … am leidenschaftlichsten, am erschüttertsten zustimmen. 


Das Leben sagt immer zugleich: Ja und Nein. Er, der Tod [ich beschwöre Sie, es zu glauben!] ist der eigentliche Ja-Sager: Er sagt nur: Ja. Vor der Ewigkeit.
 

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