Sonntag, 28. September 2014

Muß ich schreiben? Rainer Maria Rilke - Briefe an einen jungen Dichter - Letters to a young poet


Briefe an einen jungen Dichter
Erster Brief



An Franz Xaver Kappus  

Paris am 17. Februar 1903

Sehr geehrter Herr,
Ihr Brief hat mich erst vor einigen Tagen erreicht. Ich will Ihnen danken für sein großes und liebes Vertrauen. Ich kann kaum mehr. Ich kann nicht auf die Art Ihrer Verse eingehen; denn mir liegt jede kritische Absicht zu fern. Mit nichts kann man ein Kunst-Werk so wenig berühren als mit kritischen Worten: es kommt dabei immer auf mehr oder minder glückliche Mißverständnisse heraus. Die Dinge sind alle nicht so faßbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raume, den nie ein Wort betreten hat, und unsagbarer als alle sind die Kunst-Werke, geheimnisvolle Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht, dauert.
Wenn ich diese Notiz vorausschicke, darf ich Ihnen nur noch sagen, daß Ihre Verse keine eigene Art haben, wohl aber stille und verdeckte Ansätze zu Persönlichem. Am deutlichsten fühle ich das in dem letzten Gedicht «Meine Seele». Da will etwas Eigenes zu Wort und Weise kommen. Und in dem schönen Gedicht «An Leopardi» wächst vielleicht eine Art Verwandtschaft mit diesem Großen, Einsamen auf. Trotzdem sind die Gedichte noch nichts für sich, nichts Selbständiges, auch das letzte und das an Leopardi nicht. Ihr gütiger Brief, der sie begleitet hat, verfehlt nicht, mir manchen Mangel zu erkläre, den ich im Lesen Ihrer Verse fühlte, ohne ihn indessen namentlich nennen zu können.
Sie fragen, ob Ihre Verse gut sind. Sie fragen mich. Sie haben vorher andere gefragt. Sie senden sie an Zeitschriften. Sie vergleichen sie mit anderen Gedichten, und Sie beunruhigen sich, wenn gewisse Redaktionen Ihre Versuche ablehnen. Nun (da Sie mir gestattet haben, Ihnen zu raten) bitte ich Sie, das alles aufzugeben. Sie sehen nach außen, und das vor allem dürften Sie jetzt nicht tun. Niemand kann Ihnen raten und helfen, niemand. Es gibt nur ein einziges Mittel. Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben.
Dieses vor allem: fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: muß ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen ich muß dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgültigste und geringste Stunde muß ein Zeichen und Zeugnis werden diesem Drange. Dann nähern Sie sich der Natur. Dann versuchen Sie, wie ein erster Mensch, zu sagen, was Sie sehen und erleben und lieben und verlieren.

Schreiben Sie nicht Liebesgedichte; weichen Sie zuerst denjenigen Formen aus, die zu geläufig und gewöhnlich sind: sie sind die schwersten, denn es gehört eine große, ausgereifte Kraft dazu, Eigenes zu geben, wo sich gute und zum Teil glänzende Überlieferungen in Menge einstellen.

Darum retten Sie sich vor den allgemeinen Motiven zu denen, die Ihnen Ihr eigener Alltag bietet; schildern Sie Ihre Traurigkeiten und Wünsche, die vorübergehenden Gedanken und den Glauben an irgendeine Schönheit - schildern Sie das alles mit inniger, stiller, demütiger Aufrichtigkeit und gebrauchen Sie, um sich auszudrücken, die Dinge Ihrer Umgebung, die Bilder Ihrer Träume und die Gegenstände ihrer Erinnerung.
Wenn Ihr Alltag Ihnen arm scheint, klagen Sie ihn nicht an; klagen Sie sich an, sagen Sie sich, daß Sie nicht Dichter genug sind, seine Reichtümer zu rufen; denn für den Schaffenden gibt es keine Armut und keinen armen, gleichgültigen Ort. Und wenn Sie selbst in einem Gefängnis wären, dessen Wände keines von den Geräuschen der Welt zu Ihren Sinnen kommen ließen - hätten Sie dann nicht immer noch Ihre Kindheit, diesen köstlichen, königlichen Reichtum, dieses Schatzhaus der Erinnerungen? Wenden Sie dorthin Ihre Aufmerksamkeit. Versuchen Sie die versunkenen Sensationen dieser weiten Vergangenheit zu heben; Ihre Persönlichkeit wird sich festigen, Ihre Einsamkeit wird sich erweitern und wird eine dämmernde Wohnung werden, daran der Lärm der anderen fern vorüber geht. Und wenn aus dieser Wendung nach innen, aus dieser Versenkung in die eigene Welt Verse kommen, dann werden Sie nicht daran denken, jemanden zu fragen, ob es gute Verse sind. Sie werden auch nicht den Versuch machen, Zeitschriften für diese Arbeiten zu interessieren: denn Sie werden in ihnen Ihren lieben natürlichen Besitz, ein Stück und eine Stimme Ihres Lebens sehen.

Ein Kunstwerk ist gut, wenn es aus Notwendigkeit entstand. In dieser Art seines Ursprungs liegt sein Urteil: es gibt kein anderes. Darum, sehr geehrter Herr, wußte ich Ihnen keinen Rat als diesen: in sich zu gehen und die Tiefen zu prüfen, in denen Ihr Leben entspringt; an seiner Quelle werden Sie die Antwort auf die Frage finden, ob Sie schaffen müssen.

Nehmen Sie sie, wie sie klingt, an, ohne daran zu deuten. Vielleicht erweist es sich, daß Sie berufen sind, Künstler zu sein. Dann nehmen Sie das Los auf sich, und tragen Sie es, seine Last und seine Größe, ohne je nach dem Lohne zu fragen, der von außen kommen könnte. Denn der Schaffende muß eine Welt für sich sein und alles in sich finden und in der Natur, an die er sich angeschlossen hat.
Vielleicht aber müssen Sie auch nach diesem Abstieg in sich und Ihr Einsames darauf verzichten, ein Dichter zu werden (es genügt, wie gesagt, zu fühlen, daß man, ohne zu schreiben, leben könnte, um es überhaupt nicht zu dürfen). Aber auch dann ist diese Einkehr, um die ich Sie bitte, nicht vergebens gewesen. Ihr Leben wird auf jeden Fall von da ab eigene Wege finden, und daß es gute, reiche und weite sein mögen, das wünsche ich Ihnen mehr, als ich sagen kann.
Was soll ich Ihnen noch sagen? Mir scheint alles betont nach seinem Recht; und schließlich wollte ich Ihnen ja auch nur raten, still und ernst durch Ihre Entwicklung durchzuwachsen; Sie können sie gar nicht heftiger stören, als wenn Sie nach außen sehen und von außen Antwort erwarten auf Fragen, die nur Ihr innerstes Gefühl in Ihrer leisesten Stunde vielleicht beantworten kann.
Es war mir eine Freude, in Ihrem Schreiben den Namen des Herrn Professor Horacek zu finden; ich bewahre diesem liebenswürdigen Gelehrten eine große Verehrung und eine durch die Jahre dauernde Dankbarkeit. Wollen Sie ihm, bitte, von dieser meiner Empfindung sagen; es ist sehr gütig, daß er meiner noch gedenkt, und ich weiß es zu schätzen.
Die Verse, welche Sie mir freundlich vertrauen kamen, gebe ich Ihnen gleichzeitig wieder zurück. Und ich danke Ihnen nochmals für die Größe und Herzlichkeit Ihres Vertrauens, dessen ich mich durch diese aufrichtige, nach bestem Wissen gegebene Antwort ein wenig würdiger zu machen suchte, als ich es, als ein Fremder, wirklich bin.

Mit aller Ergebenheit und Teilnahme:

Rainer Maria Rilke 



R.M.Rilke selbst in sehr jungen Jahren


Wikiseite mit den Links zu den übrigen neun Briefen:


http://de.wikipedia.org/wiki/Briefe_an_einen_jungen_Dichter


Letter Nº1
Paris
February 17, 1903


Dear Sir,
     Your letter arrived just a few days ago. I want to thank you for the great confidence you have placed in me. That is all I can do. I cannot discuss your verses; for any attempt at criticism would be foreign to me. Nothing touches a work of art so little as words of criticism: they always result in more or less fortunate misunderstandings. Things aren't all so tangible and sayable as people would usually have us believe; most experiences are unsayable, they happen in a space that no word has ever entered, and more unsay able than all other things are works of art, those mysterious existences, whose life endures beside our own small, transitory life.
     With this note as a preface, may I just tell you that your verses have no style of their own, although they do have silent and hidden beginnings of something personal. I feel this most clearly in the last poem, "My Soul." There, some thing of your own is trying to become word and melody. And in the lovely poem "To Leopardi" a kind of kinship with that great, solitary figure does perhaps appear. Nevertheless, the poems are not yet anything in themselves, not yet any thing independent, even the last one and the one to Leopardi. Your kind letter, which accompanied them managed to make clear to me various faults that I felt in reading your verses, though I am not able to name them specifically.
     You ask whether your verses are any good. You ask me. You have asked others before this. You send them to magazines. You compare them with other poems, and you are upset when certain editors reject your work. Now (since you have said you want my advice) I beg you to stop doing that sort of thing. You are looking outside, and that is what you should most avoid right now. No one can advise or help you - no one. There is only one thing you should do. Go into yourself. Find out the reason that commands you to write; see whether it has spread its roots into the very depths of your heart; confess to yourself whether you would have to die if you were forbidden to write. This most of all: ask yourself in the most silent hour of your night: must I write? Dig into yourself for a deep answer. And if this answer rings out in assent, if you meet this solemn question with a strong, simple "I must", then build your life in accordance with this necessity; your whole life, even into its humblest and most indifferent hour, must become a sign and witness to this impulse. Then come close to Nature. Then, as if no one had ever tried before, try to say what you see and feel and love and lose. Don't write love poems; avoid those forms that are too facile and ordinary: they are the hardest to work with, and it takes a great, fully ripened power to create something individual where good, even glorious, traditions exist in abundance. So rescue yourself from these general themes and write about what your everyday life offers you; describe your sorrows and desires, the thoughts that pass through your mind and your belief in some kind of beauty Describe all these with heartfelt, silent, humble sincerity and, when you express yourself, use the Things around you, the images from your dreams, and the objects that you remember. If your everyday life seems poor, don't blame it; blame yourself; admit to yourself that you are not enough of a poet to call forth its riches; because for the creator there is no poverty and no poor, indifferent place. And even if you found yourself in some prison, whose walls let in none of the world's sound - wouldn't you still have your childhood, that jewel beyond all price, that treasure house of memories? Turn your attention to it. Try to raise up the sunken feelings of this enormous past; your personality will grow stronger, your solitude will expand and become a place where you can live in the twilight, where the noise of other people passes by, far in the distance. And if out of , this turning within, out of this immersion in your own world, poems come, then you will not think of asking anyone whether they are good or not. Nor will you try to interest magazines in these works: for you will see them as your dear natural possession, a piece of your life, a voice from it. A work of art is good if it has arisen out of necessity. That is the only way one can judge it. So, dear Sir, I can't give you any advice but this: to go into yourself and see how deep the place is from which your life flows; at its source you will find the answer to, the question of whether you must create. Accept that answer, just as it is given to you, without trying to interpret it. Perhaps you will discover that you are called to be an artist. Then take that destiny upon yourself, and bear it, its burden and its greatness, without ever asking what reward might come from outside. For the creator must be a world for himself and must find everything in himself and in Nature, to whom his whole life is devoted.
     But after this descent into yourself and into your solitude, perhaps you will have to renounce becoming a poet (if, as I have said, one feels one could live without writing, then one shouldn't write at all). Nevertheless, even then, this self searching that I ask of you will not have been for nothing. Your life will still find its own paths from there, and that they may be good, rich, and wide is what I wish for you, more than I can say.
     What else can I tell you? It seems to me that everything has its proper emphasis; and finally I want to add just one more bit of advice: to keep growing, silently and earnestly, through your whole development; you couldn't disturb it any more violently than by looking outside and waiting for outside answers to questions that only your innermost feeling, in your quietest hour, can perhaps answer.
     It was a pleasure for me to find in your letter the name of Professor Horacek; I have great reverence for that kind, learned man, and a gratitude that has lasted through the years. Will you please tell him how I feel; it is very good of him to still think of me, and I appreciate it.
     The poem that you entrusted me with, I am sending back to you. And I thank you once more for your questions and sincere trust, of which, by answering as honestly as I can, I have tried to make myself a little worthier than I, as a stranger, really am.
Yours very truly,

Rainer Maria Rilke

Link for the other nine letters:
http://www.carrothers.com/rilke_main.htm 

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