Montag, 13. Mai 2013

Muttertag - Teil 1


"Die Jungen denken, die Zukunft wäre für sie erfunden worden." Kate Atkinson

Etwa 1940 geschrieben - ein Text von Bertolt Brecht über seine Tochter Barbara, meine Mutter, den ich gestern, am "Tag der Mütter" bei einer Lesung vorgelesen habe, während sie, nunmehr einige Jahre älter, genauso klein und immer noch mit den "lustigen blauen Augen", im Publikum saß.

BARBARA

Barbara - zehn Jahre alt - ist dünn wie ein Spatz im März. Sie hat ein kleines Gesicht mit lustigen blauen Augen. Sie ist ein merkwürdiges Geschöpf, wild wie ein kleiner Hurrikan und zart wie Brüsseler Spitze. Sie quält einen bis aufs Blut mit ihren Fragen und ist äusserst freigiebig mit ihren Meinungen. Sie ist brennend interessiert an allem, was sie etwas angeht und ebenso brennend an allem, was sie nichts angeht. Sie ist kein stilles Kind und hat absolut keine Hemmungen.
Barbara schnappt unentwegt neue Wörter und Sätze auf, die sie dann bei der ersten Gelegenheit an den Mann zu bringen sucht. Sie probiert die neuen Wörter mit grösster Kühnheit aus, wirft sie wie beiläufig in das Gespräch ein und wenn sie Erfolg haben (aber auch, wenn sie gar nicht auffallen, weil sie selbstverständlich sind) werden sie in den Sprachschatz aufgenommen. Lacht man darüber, werden sie einfach fallen gelassen. Barbara hat genug Gelegenheit gehabt, viele Ausdrücke aufzuschnappen, denn sie ist ein Emigrantenkind, und da wohnt man mal da, mal dort, trifft in immer neuen Ländern immer neue Leute, ganz verschiedene. Im allgemeinen sind die Leute freundlich zu ihr. Aber sie hat doch schon eine ganze Menge Widerwärtigkeit gesehen.
Sie meint selber, sie ist nicht klüger als andere Kinder. Sie sei eben viel herumgekommen, erklärt sie entschuldigend, wenn sie mehr weiss als die andern.
Ausserdem ist sie eine Leseratte. Sie liest wahllos, was ihr in die Hände kommt, von Märchen über "Das Wochenblatt der Dame" bis zu Selma Lagerlöf. Die neuen Ideen und Ausdrücke werden zum Glück meistens eben so rasch vergessen wie aufgenommen.
Als wir uns neulich bei Tisch über eine Scheidung unterhielten, warf sie plötzlich mit einem Augenaufschlag, den sie vor nicht langer Zeit im Kino gesehen haben muss, ein: "Hat er wirklich seine Gattin verstossen?". Wir brachen in schallendes Gelächter aus und Barbara? Lachte einfach ungeniert mit. Wann man sie fragt, ob sie noch ein Glas Milch haben will, kann sie antworten: "Darüber muss ich erst mit mir zu Rate gehen, es dürfte aber zweckmässig sein."
Ihre liebsten Puppen sind die ganz kleinen, höchstens 9 Zentimeter langen, denen sie sehr moderne Kleider näht und winzigkleine Tellerchen Gläschen kauft, auch wirkliches Essen vorsetzt.
Jetzt ist sie seit einem halben Jahr in einer neuen Schule. Die Lehrer und Kinder scheinen sie gern zu haben, sie geht gern hin. Viele Sachen aus der Schule berichtet sie zu Hause, aber was ich nun erzählen will, habe ich nicht von ihr selbst gehört.
Ich trank mit einer Bekannten das, was man heutzutage Kaffee nennt, in einem kleinen überfüllten Kaffeehaus. Und während wir von allen Seiten geschubst wurden und diejenigen, die keinen Platz hatten, uns missmutig ansahen, ob wir nicht bald gehen würden, erzählte meine Bekannte, dass sie Barbaras Lehrerin getroffen habe. Und die habe ihr eine so merkwürdige Geschichte erzählt, man könne sie einem zehnjährigen Kind kaum zutrauen. Barbara konnte man es, dessen war ich sicher.
Nach der Stunde hatten die Kinder ihre Zeichnungen abgeliefert, Barbara gab eine Zeichnung ab, worauf halb entlaubte Bäume, einige Sträucher entschieden grüner, aber doch nicht mehr in sommerlicher Pracht, und massenhaft Pilze zu sehen waren. warum es Barbara für notwendig hielt, ihre Zeichnung auch noch vor der ganzen Klasse mit einer lauten Bemerkung zu versehen, ist unklar, aber jedenfalls sagte sie: "Es ist halt Herbst. Da fallen die Blätter von den Bäumen. An die Sträucher kommt der Wind nicht so leicht ran, aber doch. Und Pilze gibt's eben massenhaft im Herbst."
Vielleicht war sie auch dann mit der Aufnahme, die ihre Zeichnung gefunden hatte, nicht völlig zufrieden und wollte den Eindruck etwas verstärken; vielleicht war sie einfach redselig: sie hatte einen Schnupfen und sprach gern, weil es "so schön durch die Nase klingt". Sie vertraute in der Pause der Lehrerin an: " Das war es gar nicht, was ich mit dem Bild meinte. Ich meinte: die Bäume sollen die Erwachsenen sein, die alten Menschen also. Die hat der Wind durchgeweht und da ist nur ein ganz klein bisschen Herz übrig geblieben - das sind die Bätter hier. Und sie haben traurige Farben. So sind sie. Die Sträucher sollen die jungen Menschen sein. Die glauben noch, dass schon alles gut gehen wird, darum habe ich die vielen grünen Blätter gemacht. Und die Pilze, das sind die Kinder, die sind bunt und lustig, weil sie gar nicht wissen, was noch alles kommt."
Die Lehrerin war darüber sehr betroffen und zeigte es wohl auch. Barbara aber meinte, dass auch diese Erklärung der Lehrerin nicht gefallen habe und sprach schnell und heiter über Pilze im allgemeinen weiter und wie man sie kochen und einlegen muss. Sie ist nie um ein Gesprächsthema verlegen.
Ich war nicht ganz so gerührt wie die Lehrerin und meine Bekannte. Aber doch, ich muss sagen: ich spreche gern mit Barbara. Als sie neulich wie durch ein Wunder von einem Freund ein Stückchen Schokolade geschenkt bekam, wollte sie es erst in gleiche Teile für alle teilen. Aber alle bestanden darauf, dass sie als die Kleinste ihr kleines Stückchen allein isst. Da ging sie weg.
Eine Stunde später sagte sie zu mir: "Schokolade ist wunderbar. Findest du nicht, das beste wäre, wenn alle immer Kinder blieben? Dann gäbe es keinen Krieg mehr, denn Kinder können keinen machen."

Vater und Tochter

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