Mittwoch, 24. April 2013

Der Bitterfelder Weg & Wolfgang Hilbig & Brigitte Reimann & Volker Braun & Heiner Müller


"In den großen Versammlungen 
der großen Männer

Dort vorne seh' ich sie sitzen 
hinter des Vaterlands Fahnen 
und ihre Brillen blitzen 
wenn sie forden und planen

Totenstille, nach dem scharfen Knall,
ein kurzes Ächzen, ein dumpfer Fall; schon tot, fiel einer wie 'n Sack nach vorn
… 
Ins Geschrei und in das Rasen 
peitschen meine Kugeln
...
Ja, meine ganze Welt, in der ich lebe  
zerschlüge ich am liebsten so, dass sie sich nimmermehr erhebe. 
Und dann baut' ich eine neue hier, 
doch - ich habe Durst; ich gehe lieber und trinke ein Bier. 

Wolfgang Hilbig
8.-Klasse-Abgänger, Boxer, Heizer, Dichter 

Manchmal, wenn ich mich an die DDR, an die harmlose Leichtigkeit meiner Kindheit, die gewöhnlichen und einzigartigen Verwirrungen der Pubertät und den Zorn und die Feigheit der jungen Erwachsenen in diesem bösen Kleinstaat erinnere, gerate ich an Dinge, von denen ich nicht glauben kann, dass irgendwer in, sagen wir, 50 oder 100 Jahren noch glauben mag, dass es sie wirklich gab. 
Der Bitterfelder Weg, nein, nicht die gleichnamige Strasse in Berlin-Rudow, sondern die Direktiven, was heißt Befehle, die unter Federführung von Walter Ulbricht für eine "neue sozialistische Kulturpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik" am 24. April 1959 auf der Autorenkonferenz des Mitteldeutschen Verlages Halle (Saale) im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinates Bitterfeld verkündet wurden und davor bereits  auf dem V. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei angekündigt worden waren. 

"In Staat und Wirtschaft ist die Arbeiterklasse der DDR bereits Herr. Jetzt muss sie auch die Höhen der Kultur stürmen und von ihnen Besitz ergreifen" 
Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED 1958.

Greif zur Feder, Kumpel,
die sozialistische deutsche Nationalkultur braucht dich!



Bitterfeld - Wolfen 1957
Bundesarchiv Bild 183-50647-000

„Das Bitterfelder Programm, ‚Greif zur Feder, Kumpel‘, war ja ganz einsichtig, heraus kam eine Parodie, Domestizierung statt Klassenemanzipation. Auch eine ABM für erfolglose Schriftsteller“.
Heiner Müller, Autor des "Lohndrücker" und der "Weiberkomödie" (in Kollaboration mit seiner Frau Inge Müller)
 
Brigitte Reimanns Tagebuch-Notizen aus dem Kombinat Schwarze Pumpe, wo sie einen Zirkel "Schreibender Arbeiter leitete:

14.02.60
"Vorige Woche hat sich der Zirkel schreibender Arbeiter konstituiert. Von 20 Eingeladenen waren 4 erschienen; keine Potenzen nehme ich an. Nur der kleine Volker Braun, Abiturient und seit 4 Jahren in der Produktion, scheint begabt zu sein. Er erinnert mich an meinen Ulli-Bruder - in jeder Beziehung verspäteter Pubertant."  

Volker Braun war zur Bewährung in der Produktion, bevor er doch noch zum Studium zugelassen wurde.

Brigitte Reimann 
21. Juli 1933 in Burg bei Magdeburg
† 20. Februar 1973
13. 2. 61
 "Der Zirkelabend also... Ab Mitternacht war ich so wahnsinnig besoffen, daß ich nicht mehr mit Sicherheit weiß, was sich abgespielt hat...
Aber zuerst war alles schön und würdig und feierlich mit einer Art Kulturprogramm...
Daniel und ich saßen eine ganze Weile bei dem neuen Werkleiter...
Lissinsky hat eine verteufelte Manier - einfach unbeugsam ...Ein Typ, der mir absolut wesensfremd und ein bißchen unheimlich ist, vielleicht schon der Typ des Kommunisten von morgen.
...Die anderen Funktionäre gaben groß an mit ihren Kulturplänen - aber meine Brigade hat nicht einmal einen Frühstücksraum, sondern muß mit schwarzen Händen in der Halle essen. Man muß erstmal gewisse ökonomische Voraussetzungen schaffen, ehe man mit dem Bücherkarren anrollt."

6. 7. 65
 "Pumpe rüstet sich zum 10. Jahrestag, d. h. also zu Heldengesang und Hosianna für die Partei und zum freundlichen Vergessen aller Fehler, Irrtümer und Schwierigkeiten..."Das verstehen die Kumpel, so wollen es die Kumpel haben..." na, hoffentlich haut ihm ein Kumpel mal eins auf die Fresse...
In der allgemeinen Feststimmung zog die Partei auch uns Sünder wieder an ihren Busen. ...Wir kamen uns vor wie ihm Panoptikum zwischen diesen Parteispießern und ihren betulichen, netten und dümmlichen Frauen, die sich da durch die Empfänge neppen...
Das Merkwürdigste: sie freuten sich wirklich, sie entfalteten Familienleben und waren bereit, alles Vergangene ruhen zu lassen. Dieselbe Politik wie im Großen, bis W[alter]U[lbricht]: "Keine Reminiszenzen." Eine Haltung, die mich beinahe hilflos macht: man faßt in Gallert..."


31. 3. 66
"Was für eine Kluft zwischen Künstler und Publikum... Grotesk falsche Auffassung von Kunst, und wieder die Forderung nach gültigem soz. Menschenbild - unter dem sich aber keiner etwas vorstellen kann."

9. 8. 68
"Ich denke jetzt oft an früher, an die Zeit vor fünf oder zehn Jahren...Alles schmeckt nach Abschied.
...In den letzten Jahren sind die Gruben abgesoffen, die Tagebaue, zwischen denen die Betonbahn verläuft. Das Becken mit der Kohlentrübe ist vollgelaufen, ein fettig schwarzer See; damals ... sah man noch den Boden, die Birken und Sträucher, die nun längst ertrunken sind. Merkwürdig, wie man sein Herz an diese öde Landschaft gehängt hat, an diese unmögliche Stadt, an die Leute.
...Trotzdem - wenn ich denke, daß nur ein paar Blöcke in einer Sandwüste standen, als wir hierher kamen ... und das Kombinat ist ein riesiger Komplex (in dem so gut wie nichts funktioniert). Die Kohle geht zu Ende"


Aus Franziska Linkerhand, dem wundervollen Roman von Brigitte Reimann
 

„Herr Schafheutlin, ich möchte sie etwas fragen...“ Sie zögerte. Er war rot geworden. Sie suchte nach einer Umschreibung für die Frage, die ihr eben noch einfach erschienen war.

„Ob es genügt?“, fragte er zurück. „Was genügt?“

„Das hier – und alles.“ Sie stotterte ein wenig. „Wie Sie leben. Wie ein Tag vergeht, und der nächste, und ein Jahr...Ist es das, was Sie sich vorgestellt haben, als Sie anfingen?“

Er sah sie verständnislos an. „Wo? In Neustadt?“

„Ach nein“, sagte sie unglücklich, „In der Schule, oder noch früher, irgendwann, als Ihnen bewußt wurde, daß Sie jemand sind...daß Sie in die Welt gekommen sind und aus der Welt wieder weggehen werden, nach einem Leben, das sechzig oder siebzig Jahre dauert, falls nicht Krieg oder Krebs oder ein verrücktes Auto... also siebzig Jahre im Glücksfall. Und als Sie wußten, daß Ihnen ein Leben gehört: was wollten Sie daraus machen?“

Schafheutlin schwieg, er sträubte sich gegen ein Gespräch, das zu nichts führte, (wie) er dachte, Zeitvertreib für Leute von zwanzig Jahren. Franziska lehnte an der Spindtür; sie blickte ihm auf den Mund. „Sie gehen von einer falschen Vorraussetzung aus“, sagte Schafheutlin nach einer Weile, in trockenem Ton, dabei froh, weil sie wartete, “nämlich, daß irgend jemandem sein Leben gehört, wie ein Besitz, über den er beliebig verfügen kann, Sie existieren nicht für sich allein, sondern in einer Gesellschaft...für eine Gesellschaft, dürfen wir sagen, heute, seit wir uns einen Staat geschaffen haben, in dem es möglich, ja erforderlich ist, die persönlichen mit den gesellschaftlichen Interessen in Übereinstimmung zu bringen.“

„GeWi“, murmelte Franziska. Sie war enttäuscht. Er weicht aus, redet über Allgemeines, nicht von sich. „Das ist keine Antwort, das ist ein Programm.“


Am 21. Februar 2013 beginnt in Burg bei Magdeburg das Brigitte-Reimann-Jahr.  

Spiegel-Artikel zum Bitterfelder Weg:
http://einestages.spiegel.de/external/ShowTopicAlbumBackground/a28204/l5/l0/F.html 

1 Kommentar:

  1. Ja, Wolfgang Hilbig.
    Dieser dickliche Mann, der gar nicht aussah wie ein Dichter, eher wie eine Kartoffel. Mit diesem schrecklichen Dialekt. Der sich vielleicht ganz früh an der DDR totgesoffen hätte, hätte da nicht Franz Fühmann seine Hand über ihn gehalten. Dessen erster Gedichtband aus dem Westen zu uns gelangte mit diesen Versen, in denen wir uns wiedererkannten.

    immer wieder inmitten des gelächters:
    plötzlich zerbricht ein glas auf dem tisch

    und eine kleine stille tritt ein
    in der ein rauch abzieht und
    die gesichter liegen in scherben.

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