Sonntag, 27. Mai 2012

Theater und Einsamkeit in Toronto


Gestern, in einem wohnzimmergroßen Theater im Parterre eines halbverfallenen Hauses, eine Premiere. Der Raum hat vielleicht 45 Plätze, nicht alle sind besetzt, gezeigt wird ein Dreipersonenstück, eine nicht einmal wirklich übel geschriebene Dreiecksgeschichte mit Tendenz zum Melodrama. Geheime Geliebte des Mannes hat Gehirntumor, um die Zukunft des gemeinsamen Kindes zu sichern, macht sie "reinen Tisch", Ehefrau hat Erleuchtung, Mann muß gehen, Kind wird versorgt werden. Nun ja. Es wurde recht gut gespielt, von der ältere der beiden Schauspielerinnen sogar wirklich gut. Die Besonderheit ist, lese ich, dass die Reihenfolge der Szenen allabendlich durch würfeln entschieden wird. Mag interessant sein, heißt aber, man müßte mindestens dreimal gucken gehen, um es wirklich genießen zu können. Bei 30$ für ein Ticket, Studenten respektive 25, werden dies nicht viele tun.
Trotzdem, ich langweile mich nicht, obwohl die Unbeweglichkeit der Schauspieler-Körper bei gleichzeitig höchster Emotionalität, mich, wie fast immer bei kanadischem Theater, irritiert.
ABER: es hätte auch eine gut gemachte Nachmittagsfernsehsoap seien können. UND 90% der Zuschauer waren Bekannte oder Freunde, und so wird es wahrscheinlich auch in den nächsten Vorstellungen sein. Ein Phänomen, dass ich hier öfter beobachte: das Zuschauerkarussell des Off-Theaters: wenn die einen spielen, schauen die anderen zu und vice versa, Familie, Liebende und nahe Freunde stellen den Rest. Es ist ein geschlossener Kreis von Insidern, die sich gegenseitig auf die Schulter klopfen, loben, aufmuntern. Theatraler Inzest.
Auf der anderen Seite die Oper, finanziert durch hohe Auslastung und enorm hohes Sponsoring, alles was ich bisher gesehen habe war von hoher Qualität, angerichtet für ein Publikum dessen Altersdurchschnitt in den oberen Siebzigern liegt, durchsprenkelt von braven Enkelkindern und einzelnen Überraschungseiern.

Heute am frühen Abend, wieder ein Off-Theater-Abend, gut gemeintes Agit-Prop Theater, der Regisseur ist 70, die Speler 20 - nicht einmal 1960 hätte jemand hier Bravo gebrüllt, da drückt ein altgewordener Protest-Hippie suchenden Kindern seine absichtsvolle Demagogie auf, aber die Sehnsucht der jungen Spieler nach Relevanz, der Wunsch mit Theater in die Welt zu wirken, uneinverstanden zu sein, ist erstaunlicherweise berührend.
Dann, um Mitternacht, der Auftritt eines Bekannten, elektronische Musik mit sonoren Beats, er und sein Computer in autistischer Gem-Einsamkeit, die Beleuchtung durch flackernde Videos ist gespenstisch und faszinierend, drei Fans tanzen ohne wirklich lockerzulassen. Alle trinken, viele sind auf unterschiedlichsten Drogen. Ich habe selten in einer gut gefüllten Bar solche Einsamkeit erlebt.


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